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Dieter Harmening:
WÖRTERBUCH DES ABERGLAUBENS
Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 2005. 520 S., € 16,90.
ISBN 3-15-010553-6

"Aberglaube ist die Freigeisterei zweiten Ranges" sagte schon Friedrich Nietzsche in seiner "Fröhlichen Wissenschaft" und kommt dann - wie gewohnt - kritisch zur Sache. Deshalb hat auch niemand Probleme, der Mahnung zuzustimmen: "Das einzige Mittel gegen Aberglauben ist die Wissenschaft" (H. T. Buckle).

Allerdings: Ganz so einfach sollte man es sich nicht machen. Und deshalb ist das Wörterbuch des Aberglaubens aus der bekannt handlichen, aber informations-ergiebigen Reihe von Reclam, nicht ganz einfach zu lesen, da von hohem wissenschaftlichen Anspruch und recht dicht formuliert (wie es ein Wörterbuch eben nahe legt), aber auch praktisch keinen Begriff auslassend, der einem gerade heute wieder vermehrt über den Weg zu laufen pflegt.

Aberglaube, so im Vorwort, wird hier als ein Begriff interpretiert, der die Bereiche des Wahrsagens und der Zeichendeutung sowie des magischen Wissens und der zauberischen Praxis umfasst.

Teils als dezente Abwehrung ge-(miss-)braucht, teils in der Hoffnung auf eine wissenschaftliche Fundgrube unserer germanischen, keltischen oder gar indogermanischen Geschichte, vor allem Mythologie und Religion, ist man heute klüger. Denn die Geschichte des Aberglaubens beginnt oft erst im Spätmittelalter oder gar in der Neuzeit. Wir sind also ertappt, vor allem wenn wir süffisant über die feuilletonistischen "Signal-Floskeln" wie Dämonenkult, Ahnenverehrung, Fruchtbarkeitskult, Geisterabwehr u. a. zu lächeln anheben. Denn für die gegenwärtige volkskundlich-kulturhistorische und ethnologische Forschung ist der Aberglaube kein "ahistorisch-fossiles Relikt", sondern ein in vielen Teilen inhaltlich fassbarer Rest historischer und zeitgenössischer(!) Glaubens- und Wissenssysteme (D. Harmening). Deshalb ist er auch nicht als weltanschauliche Polemik zu diskriminieren, sondern als geschichtliches und sogar gegenwärtiges kulturelles Phänomen.

Die Wissenschaft hat sich des Aberglaubens unter einer ganzen Reihe von Prämissen angenommen: zeitliche und räumliche Begrenzung, Fragen nach Alter, Herkommen und Überlieferung, aber auch nach Aufkommen und Verbreitung neuer Formen. Vor allem aber auch nach der sozialen Bindung und Funktion oder konkret: Wer praktiziert einen Aberglauben und warum oder wozu? So sind beispielsweise eine ganze Reihe "abergläubischer" Regeln früher in die pädagogischen Bemühungen eingegangen, nicht ohne Erfolg - und heute eventuell durchaus nützlich, nur hat der Aberglaube seine pädagogische Funktion natürlich verloren.

Die Quellen der Aberglaubens-Forschung sind Gebrauchstexte wie Wahrsage-Literatur, Zauber-, Segens- und Amulett-Formeln, astrologische und gelehrte magische Hinweise, ferner die Zeugnisse der kirchlich-theologischen Literatur (Synodal- und Konzilsstatuten, Buß- und Beichtbücher, Katechismus- und Predigt-Literatur, 10-Gebote-Erklärungen, Traktate und theologische Spezialliteratur, ja Frageformulare der Hexen-Inquisition u. a.). Außerkirchliche Hinweise ergeben sich erst seit dem späten Mittelalter öfter. Sie finden sich meist in der Erbauungs-Literatur, in juristischen Hexenprozess-Kommentaren, in dämonologischen Traktaten, aber auch in Arznei- und Kräuterbüchern, in Chronographien und selbst in der Reiseliteratur. Deshalb kann vor allem die historische Aberglaubens-Forschung auf eine Vielzahl hochkultureller Weltanschauungs- und Wissens-Systeme hinweisen, von der spätantik-neuroplatonischen Kosmologie, der theologischen Dämonologie über die jüdische Kabbala bis zu neuzeitlicher magiologischer, astrologischer, alchemistischer und naturwissenschaftlicher Spekulation oder gar modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen von Pharmazie, Medizin und Physik.

Aberglaube ist aber nicht nur Ausdruck einer - evolutionistisch betrachtet - Vorstufe des Logischen, sondern auch Ausdruck einer habituellen Geistigkeit. Denn er verknüpft die Erscheinungen im Bewusstsein mit der Notwendigkeit des Alltags, was sich nicht zuletzt im Ursprung mancher Zauberformeln aus durchaus realen Begriffen, Sätzen oder Definitionen ableiten lässt (Beispiel: "hoc est corpus meum" = "das ist mein Leib" wird zum "Hokuspokus des Zauberers").

Das Wörterbuch des Aberglaubens umfasst also Sachartikel, biographische Beiträge sowie systematische und Theorie-Anteile. Es erörtert die systematischen Begriffe der Einteilung, behandelt Dach-Begriffe und geht bei epoche-geschichtlichen Einteilungen sowie naturkundlichen, theologischen, philosophischen Überlegungen sehr ausgiebig ins Detail. Das Ganze wird mit einem umfangreichen Quellenverzeichnis abgerundet.

Wie gesagt: Ein traditionsreiches Wissensgebiet, das derzeit wieder an Interesse gewinnt und auch in den Medien gehäuft diskutiert wird, leider oft ohne den notwendigen Sachverstand. Hier hilft das handliche Wörterbuch des Aberglaubens weiter, denn: "Der Aberglaube mag als Kuriositäten-Sammlung aus dunkler Vorzeit erscheinen, entpuppt sich aber bei näherem Hinsehen als ein Reservoir von Vorstellungen über die Welt, die nach Regeln der Symbolik, Ähnlichkeit, Sympathie und Antipathie organisiert sind, und nicht nach denen der Kausalität und der Naturwissenschaften", wie der Klappentext treffend formuliert.

Übrigens: Für Liebhaber einer kleinen Handbibliothek der Wörterbücher und Lexika eine ideale Ergänzung ihrer Sammlung. Denn anders als über diese Schiene kommt man heute mit der Fülle des Gebotenen nicht mehr zurecht. Und das wäre schade, denn die Welt ist bunt (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
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