Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
CHRONISCHE SCHMERZEN OHNE ORGANISCHE URSACHEFunktionelles Schmerzsyndrom – Somatisierungsstörungen – Posttraumatische Belastungsstörungen – Depressionen – Hypochondrie – Hypochondrischer Wahn – Zoenästhetische Psychosen – Neurasthenie – Artifizielle Störungen – Simulation – u. a.
„Die einzigen Schmerzen, die ein Arzt aushalten kann, sind die seiner Patienten“, zitierte einmal ein Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft einen verbitterten Patienten. Zu unrecht? Wohl nicht. „Der Schmerz ist der große Lehrer der Menschheit“, lautet zwar das bekannte Dichterwort von Maria von Ebner-Eschenbach. Aber dies gilt nur für den akuten, den berechtigten Warn-Schmerz, nicht für chronische Schmerzen, die nur zermürben, die Leistung einschränken oder gar die Lebensqualität vernichten. Dabei sind die heutigen Möglichkeiten mit früher nicht zu vergleichen – nur werden sie noch immer nicht optimal genutzt. Gerade der deutschsprachige Bereich tat sich hier offenbar schwerer, was die adäquate Ausbildung der Studenten, die Weiterbildung der Fachärzte und schließlich ihre spezialisierte Fortbildung anbelangt. Das Wissen ist noch ausbaufähig, geben die Experten zu bedenken – noch immer. Noch vor wenigen Jahren gab es an deutschen Universitäten noch keinen Lehrstuhl für Schmerzmedizin, noch keine Pflichtvorlesung zu diesem Thema im Medizinstudium und nur wenige Fachgebiete, in denen schmerz-relevante Fragestellungen Eingang in die Weiterbildungs-Inhalte gefunden haben. Dabei sprach man schon früher von 1,5 Millionen, heute von 4 oder gar 7,5 Millionen chronisch(!) Schmerz-Gepeinigten. Das ist eine gigantische Zahl und in Einzelfällen unermessliches Leid, von den volkswirtschaftlichen Schäden ganz zu schweigen, über die man ja heute offen sprechen darf oder gar muss. Der Schmerz bzw. seine erfolgreiche Bekämpfung ist eigentlich die ursprünglichste Aufgabe des Arztes, vor allem von Hausarzt, Chirurg, Internist (und hier vor allem von rheumatologischen Spezialisten), von Neurologen, Orthopäden, Zahnärzten und immer mehr einer Disziplin, die sich in diesem Punkt besonders hilfreiche Kenntnisse aneignet, die Anästhesisten. Aber auch mehr und mehr – so sonderbar sich das auf den ersten Blick anhört –, von Psychiatern, Psychologen, Ärzten für Psychotherapeutische Medizin, ob niedergelassen oder in Fachkliniken und Ambulanzen für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Psychosomatik. Auf dem langen Weg in die Schmerzkrankheit, dem leidvollen Endzustand eines Schmerzleidens, gilt es eine Reihe von Faktoren zu berücksichtigen, die bei der Chronifizierung (Dauer-Belastung) eine große Rolle spielen. Welches sind die wichtigsten Ursachen, die ein Dauerleiden begünstigen, wenn es sich um so genannte nicht-organische Schmerzen handelt? Dazu eine kurz gefasste Übersicht von Professor Dr. S. O. Hoffmann, früher Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Dr. T. W. Franke (ehemals Psychologisches Institut, Universität Mainz), auf der Grundlage ihres Kapitels „Der lange Weg in die Schmerzkrankheit: Faktoren der Chronifizierung“ in dem Handbuch Chronischer Schmerz von U. T. Egle u. Mitarb. (Hrsg.) im Schattauer-Verlag, Stuttgart 2002. Welches sind die wichtigsten Chronifizierungs-Faktoren? „Der Weg in die Schmerzkrankheit ist lang, chronifizierte Fälle sind die Regel“, beginnen die Autoren ihren Beitrag. Welches sind nun die Faktoren, die die Chronifizierung gutartiger, nicht-organischer Schmerzen so begünstigen, dass eine chronische Schmerzkrankheit droht? Im Einzelnen: - Somatische (organische, körperliche) Ursachen, wobei die Schwere des akuten (plötzlichen) Schmerzes und die Art seiner Frühbehandlung eine der wesentlichsten Einflussfaktoren zur Frage sind: Chronifizierung oder nicht? - Primärer Krankheitsgewinn: Hier stellt das Symptom (Krankheitszeichen) eine unbewusste Stabilisierung, Entlastung, ja Kompensation dar und ist deswegen schwer verzichtbar („innerer Krankheitsgewinn“). - Sekundärer und tertiärer Krankheitsgewinn: Hier sind es vor allem die sozialen Verstärker, insbesondere Partnerbeziehung und die Zuwendung Dritter (Renten!), die die Symptom-Erhaltung fördern („äußerer Krankheitsgewinn“). - Der Einfluss des „individuellen Lebens-Schicksals“: Dazu gehören Krankheiten, finanzielle Belastungen, berufliche Veränderungen, Erbschaftsvorgänge, chronische soziale Spannungen u. a. - Das Verhalten von Ärzten, das über mehrere Wege „symptom-erhaltend“ sein kann. Beispiele: - Vom ärztlichen Krankheitsverständnis her, das überwiegend rein organisch ist, wie das die Betroffenen übrigens auch selber glauben. Denn im allgemeinen Verständnis ist der Schmerz „grundsätzlich körperlich bedingt“. Eine seelische Ursache wird vom Arzt erst nachrangig und damit (noch viel?) zu selten und vom Patienten so gut wie nie in Erwägung gezogen, denn das hat ja fast diskriminierenden Charakter. - Vom ärztlichen Handeln in Diagnose und Therapie bestimmt: Als Erstes gilt es organische Ursachen abzuklären, was völlig in Ordnung ist; dann aber sollten auch seelische und psychosoziale Aspekte diskutiert werden. - Von der Arzt-Patient-Beziehung geprägt, die nicht selten unerkannte Charakteristika einer pathologischen Interaktion (gestörter zwischenmenschlicher Kontakt zwischen Arzt und Patient) annimmt. Oder allgemein verständlich: Schmerzpatienten, insbesondere chronische, sind keine einfache Klientel (der heimliche Seufzer auch mancher Ärzte: „ich kann das ewige Gejammer nicht mehr hören...“). - Auch die Kombination mit affektiven Störungen, vor allem Ängsten und chronischen depressiven Verstimmungen wirkt sich schmerzerhaltend aus. - Nicht zu vergessen erworbene kognitive (Bewertungs-)Stile. Dabei geht es beispielsweise um die Frage, ob der Schmerzpatient einen Zusammenhang sieht zwischen seinem Krankheitsverlauf und dem eigenen Verhalten bzw. dem anderer, als wichtig erlebter Personen – oder eher bedingt durch zufällige, schicksalhafte Faktoren ausgelöst. - Und schließlich die Bedeutung der Somatisierungs-Neigung, d.h.: die Tendenz zur „Verkörperlichung“ unbewältigter seelischer und psychosozialer Probleme. Mit anderen Worten: Psychosoziale Einflussfaktoren sind von großer Bedeutung und müssen in der Diagnose entsprechend berücksichtigt werden. Denn die letztlich ergiebigste, erfolgreichste und für den Patienten schmerz-befreiende Art, ein scheinbar rein organisches Phänomen wie den Schmerz differentialdiagnostisch (was könnte es sonst noch sein?) und damit möglichst fehler-arm anzugehen, d. h. zu erkennen und gezielt zu behandeln, ist die bio-psycho-soziale Sichtweise. Und die besagt: Natürlich müssen biologische (also überwiegend körperliche) Aspekte berücksichtigt werden, aber auch die jeweilige psychologische und insbesondere soziale (konkreter: psychosoziale) Situation. Das setzt jedoch einen breiteren Ansatz (und Kenntnisstand) voraus, als eine einseitig orientierte organische Abklärung und Behandlungsweise. Das Gleiche gilt allerdings auch für eine einseitige psychologische oder gar soziale (gesellschaftliche, berufliche, nachbarschaftliche, partnerschaftliche) Interpretation des chronischen Schmerzleidens, die als Kippreaktion in das Gegenteil droht, wenn zuletzt alles durch die seelische oder gar „gesellschafts-kritische Brille“ gesehen wird. Co-Morbidität: Erkrankung an mehreren Störungen gleichzeitig So gesehen ist auch mit einem Phänomen zu rechnen, das erst in letzter Zeit zunimmt (oder besser: schneller und fachgerechter als solches erkannt wird). Und das man sogar als „Krankheit der Zukunft“ bezeichnet, nämlich die Co-Morbidität, die Erkrankung an mehreren Störungen gleichzeitig. Das ist nebenbei in der Organ-Medizin nicht selten, ab einem gewissen Alter sogar die Regel: Herz-Kreislauf, Magen-Darm, Wirbelsäule und Gelenke, Stoffwechsel u. a. In seelischer Hinsicht wird das aber eigentlich erst in den letzten Jahren konkreter thematisiert. Schon vor rund drei Jahrzehnten wurde aufgrund umfassender Untersuchungen in der damaligen Bundesrepublik Deutschland die so genannte Punktprävalenz psychischer Erkrankungen mit 20 bis 25% festgesetzt (Punktprävalenz: Vorkommenshäufigkeit zum Untersuchungszeitpunkt bzw. im 7-Tage-Intervall davor). Rein theoretisch weist also jeder vierte bis fünfte Patient mit einer körperlichen Erkrankung gleichzeitig auch ein psychisches Leiden auf – Tendenz steigend. Eine solche Co-Morbidität kann natürlich den Verlauf organischen Störungen beeinflussen, und zwar zumeist negativ. So braucht beispielsweise ein Patient mit einer rheumatoiden Arthritis (Gelenkentzündung auf rheumatischer Grundlage), der gleichzeitig unter einer Depression oder Angststörung leidet, deutlich mehr Schmerzmittel. Warum? Die psychische Erkrankung senkt die Schmerzschwelle und verstärkt damit den organischen Schmerzreiz. Das gilt aber nicht nur für Depressionen und Angststörungen, sondern auch für Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen, die am häufigsten bei chronischen Schmerzzuständen abzuklären sind. Dies vor allem dann, wenn sich ein offensichtlich therapie-resistenter Dauerschmerz zu etablieren droht, der durch nichts zu beeinflussen ist und den behandelnden Ärzten durch eine steigende Zahl konsumierter (und natürlich zuvor verordneter) Schmerzmittel Sorgen bereitet.
Dabei ist das Nicht-Erkennen einer psychischen Co-Morbidität häufig. Denn wenn ein Patient über einen Schmerz klagt, und der kann z. B. orthopädisch oder neurologisch objektiviert werden, dann ist erst einmal ein „handfester“ Befund erhoben und deshalb ein hinreichender Schmerz-Grund bewiesen. Und damit schwindet auch der Handlungsbedarf, eine möglicherweise seelische Zusatz-Belastung abzuklären. Dass diese Unterlassung dann später den organischen Behandlungs-Erfolg (z. B. Schmerzmittel) unterläuft oder gar wirkungslos macht, merkt man natürlich viel zu spät, falls überhaupt. Umgekehrt ist aber das Problem ebenfalls nicht einfach: Suchen die Patienten nämlich – was selten genug der Fall ist – zunächst einen Psychiater oder Arzt für Psychotherapeutische Medizin auf, so besteht auch hier die Gefahr, dass das seelische Leiden zwar richtig diagnostiziert und behandelt, die gleichzeitig bestehende körperliche Krankheit aber nicht erkannt wird. Auch jetzt liegt ein hinreichender Erklärungsgrund vor, der zwar stimmt, aber die unerkannten Zweit-Erkrankung auf körperlicher Grundlage bleibt ebenfalls unbehandelt – und sorgt ggf. für eine Dauer-Belastung. Hier ist die Chance allerdings größer, dass schließlich doch noch eine körperliche Abklärung folgt, und damit eine gezielte Behandlung. So oder so wird aber in der Regel nur die Hälfte des Leidensbildes diagnostiziert und therapiert – und damit bleibt der Behandlungserfolg unzureichend, d. h. die Chronifizierung ist programmiert. Und nicht nur das, sondern auch ein Schmerzmittel-Missbrauch, zuletzt vielleicht sogar eine Analgetika-Abhängigkeit (womit der nachträglich hinzugezogene Psychiater eine dritte Diagnose zu stellen hätte: organisches Schmerzleiden, psychische Co-Morbidität, bisher nicht erkannt, jetzt auch noch eine Suchtkrankheit). So etwas findet sich immer häufiger, beispielsweise auf orthopädischer Ebene die bandscheiben-bedingten Rückenschmerzen oder in neurologischer Hinsicht die Migräne. Schmerz und seelische Störung Welches sind nun die häufigsten psychischen Störungen, bei denen der Schmerz zum kennzeichnenden Merkmal gehören kann? Nachfolgend eine Auswahl, wobei bei Bedarf besonders auf die beiden Fachbücher Handbuch Chronischer Schmerz und Der Schmerzkranke im Schattauer-Verlag hingewiesen sei. Dort finden sich ausführliche Darstellungen, auch aus seelischer und psychosozialer Sicht.
Bei den funktionellen Schmerzbildern handelt es sich um so genannte schmerz-induzierende reversible Funktionsstörungen, wie es die Experten nennen. Konkrete Beispiele: Muskelverspannungen, „Magenkrämpfe“, Kopfschmerzen. Auslöser sind häufig Stress im Sinne einer Überforderung oder unzureichende Bewältigungsstrategien. Oftmals findet sich auch eine ängstliche Grund-Persönlichkeit bzw. die Neigung zu Angstreaktionen, die das Stress-Erleben verstärken. Dann melden sich psychovegetative Symptome, z. B. Herzklopfen, Schwitzen, Erröten, Zittern, Engegefühle, Blähungen u. a. (Fachausdruck: somatoforme autonome Funktionsstörungen). Tritt ein Schmerzbild hinzu, dann ist es oft die Lumbalgie („Hexenschuss“), der erwähnte Kopfschmerz oder das orofaciale Schmerzdysfunktions-Syndrom (also Schmerzen im Bereich des Gesichtes, insbesondere der Mund- bzw. Kaumuskulatur, was den Zahnarzt auch an eine seelische Ursache denken lassen sollte – siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie). Diese „Schmerz-Kombination“ macht in der Schmerz-Ambulanz einer Universitäts-Klinik etwa 4 von 10 Patienten aus.
Unter Somatisierungsstörungen (früher auch vegetative Labilität oder Dystonie, funktionelle oder Befindlichkeitsstörungen genannt) versteht man die schon erwähnte „Verkörperlichung“ unverarbeiteter seelischer Probleme durch eine Vielzahl von Beschwerden (Fachbegriff: Poly-Symptomatik), bei der allerdings bei etwa 7 von 10 Patienten das Leitsymptom ein Schmerzbild ist. Charakteristisch sind vielfältige und wiederholt auftretende und meist auch noch wandernde körperliche Symptome, die zu mancherlei Untersuchungen ohne krankhaften Befund Anlass geben. Trotzdem werden sie in der Regel behandelt (ärztlicher Verlegenheits-Seufzer: ut aliquid fiat = damit wenigstens irgendetwas passiert...). Manchmal kommt es sogar zu operativen Eingriffen. Die Beschwerden können sich auf jedes Körperteil bzw. -system beziehen. Der Schmerz, wie erwähnt fast immer vorhanden oder gar dominierend, wechselt oft seine Lokalisation (also seinen örtlichen Schwerpunkt) und wird bisweilen verstärkt durch zusätzliche Schwindelgefühle, Magen-Darm- sowie Herz-Kreislauf-Beschwerden. Auch sexuelle sowie Menstruationsstörungen (z. B. schmerzhafte oder unregelmäßige Monatsblutungen) finden sich nicht selten. Dazu gesellen sich mitunter depressive und Angstsymptome, in der Regel als resignierter Endzustand eines Teufelskreises. Frauen und die mittleren („besten“) Lebensjahre sind am häufigsten betroffen. Weitere Einzelheiten siehe das entsprechende Kapitel in dieser Serie.
Posttraumatische Belastungsreaktionen oder gar längerfristige Belastungsstörungen nehmen wahrscheinlich nicht zu (bzw. waren in Mitteleuropa in früheren Zeiten sicher häufiger und schwerwiegender, siehe zwei Weltkriege), werden aber inzwischen auch für scheinbar „einfachere“ Ursachen ernster genommen und damit vermehrt diagnostiziert und behandelt. Kennzeichnend sind das (vielleicht sogar noch wiederholte) Erleben vorangegangener Extremsituationen (Schicksalsschläge, Unfallfolgen, ja sogar die nahe Konfrontation mit fremdem Leid). Am belastendsten sind danach plötzlich aufdrängende Erinnerungen („flash backs“), insbesondere Albträume. Oft lähmt auch ein dauerhaftes Gefühl des Betäubtseins. Zuletzt drohen Gleichgültigkeit, Teilnahmslosigkeit, ja gemütsmäßige Stumpfheit. Fast immer vorhanden ist die Unfähigkeit Freude zu empfinden und die Vermeidung von Situationen, die entsprechende Erinnerungen an das traumatische (seelisch verwundende) Geschehen wachrufen könnten. Sehr belastend ist auch eine vegetative Übererregbarkeit, z. B. durch übermäßige Schreckhaftigkeit, durch Schlafstörungen mit Angstgefühlen und depressiven Verstimmungen, wenn nicht gar Lebensmüdigkeit. All dies kann zur Auslösung oder Verstärkung von Schmerz-Zuständen führen, wobei der Zeitraum zwischen auslösendem Ereignis und Beschwerdebild nicht mehr als ein halbes Jahr betragen soll.
Natürlich ist dabei auch auf die zugrunde liegende Persönlichkeitsstruktur zu achten: ängstliche oder ängstlich-zwanghafte Charaktere sind besonders hilflos ausgeliefert. Und wenn schon frühere Traumatisierungen ertragen werden mussten (z. B. Kindheit und Jugend), kann die Schwelle für die Entwicklung einer solchen Störung natürlich gesenkt sein und sich der Schweregrad der Leidens-Reaktion im späteren Leben immer mehr verstärken, besonders wenn im Rückbildungsalter „die Seele immer dünnhäutiger wird“ und vermehrt alte Erinnerungen aufbrechen. Weitere Hinweise siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie.
Es gab eine Zeit, da wurden viele körperlich nicht ausreichend begründbare Schmerz-Zustände als so genannte „larvierte Depression“ (vom lateinischen: larva = Maske, also gleichsam eine maskierte Depression) eingeordnet. Das ist einer differenzierteren Betrachtungsweise gewichen (zumal bei dieser dann doch etwas großzügig gestellten Diagnose grundsätzlich(!) Antidepressiva verordnet wurden, was nicht in jedem Falle zwingend ist). Die neue Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht eine Einteilung nach Schweregrad und Verlauf und nicht mehr nach endogen, neurotisch, reaktiv u. a. vor. Das hat seine Vorteile und Schwächen, über die weiterhin diskutiert wird, doch diese Klassifikation ist inzwischen weltweit Pflicht. Auch gibt es natürlich die alten Ursachen noch immer und in Einzelfällen wurden sie einfach umbenannt (z. B. die reaktive Depression nach Schicksalsschlag heißt heute Anpassungsstörung). Weitere Einzelheiten siehe die speziellen Kapitel über die Depressionen. Unverändert vielschichtig und damit diagnostisch, differentialdiagnostisch (was könnte es sonst noch sein, einschließlich Co-Morbidität) und therapeutisch bedeutsam sind natürlich die biologischen, seelischen, psychosozialen u. a. Faktoren, die nebenbei auch zu einem depressions-bedingten Schmerzbild führen können. Auch ist die entsprechende Persönlichkeitsstruktur zu berücksichtigen. Es gibt zwar keine für alle Depressionen charakteristische Wesensart, aber bestimmte Persönlichkeitszüge lassen sich nun doch ganz erstaunlich häufig finden: z. B. die Suche nach Anerkennung, die Neigung zur Überforderung, die Unfähigkeit „Nein“ zu sagen und sich damit rechtzeitig abzugrenzen und nicht zuletzt auch die Unfähigkeit, den zu erwartenden Ärger nach außen zeigen zu können und somit alles schlucken zu müssen. Und dies bis hin zu der einseitigen Schuld-Zuweisung an sich selber: „Ich bin nichts, ich kann nichts, man mag mich nicht und an allem bin ich selber schuld“. Schmerzbilder sind jedenfalls bei depressiven Zuständen jeglicher Ursache häufig. Dabei gibt es einerseits das Phänomen, dass eine „seelisch bedingte Depression“ in den jeweiligen organischen Schwachpunkt „hineinschlägt“ und damit die Schmerz-Toleranz des Körpers senkt und andererseits Schmerzen zu einer depressiven Reaktion führen können, die das Gesamtbild schließlich chronisch werden lässt.
Unter Hypochondrie versteht man die beharrliche Beschäftigung mit einer oder mehrerer Krankheiten, meist als schwerwiegend oder langwierig empfunden, die sich aber nicht objektivieren lassen. Schmerz-Zustände stehen dabei mit an erster Stelle. Meist fixiert sich die Aufmerksamkeit auf ein oder zwei Organe bzw. Organsysteme, kann aber auch wandern. Nur wenige Betroffene machen das für sich selber aus und/oder leben damit „fast normal und unauffällig“. Der größere Teil lässt sein Umfeld an seinen hypochondrischen Befürchtungen teilhaben, d. h. Partner, Eltern, Kinder, weitere Verwandte, Bekannte, Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen u. a. – Kurz: Hypochondrische Beschwerden können zu einer „allgemeinen Last“ werden. Obgleich die Schuldzuweisung „Du bist ein Hypochonder“ zum alltäglichen Sprachgebrauch gehört, sind real Betroffene relativ selten, man spricht von etwa 0,5 bis 1% in der Allgemeinbevölkerung und 4 bis 6% in der Praxis des Hausarztes. Ursache sind zum einen eine ängstliche Grundpersönlichkeit und zum anderen die Überbewertung normaler Körper-Empfindungen und alltäglicher Befindensschwankungen, die dem Durchschnittsbürger zwar lästig, aber nicht gefährlich erscheinen. Auch die Krankenrolle hat dabei eine Bedeutung (siehe Einleitung) und nicht selten Versorgungswünsche; auf jeden Fall aber die Neigung, sich intensiv mit dem eigenen Körper zu beschäftigen. Und dies auch als Beziehungs-Ersatz auf dem Hintergrund ausgeprägter zwischenmenschlicher Defizite. Die Folgen sind Angststörungen, Somatisierungs-Neigung (die erwähnte „Verkörperlichung“ ungelöster seelischer und psychosozialer Probleme), ggf. eine depressive Entwicklung und vor allem partnerschaftliche, familiäre und berufliche Konsequenzen. Die meisten Patienten mit hypochondrischen Störungen trifft man gegenwärtig in Polikliniken und Ambulanzen, die sich auch „Umwelt-Krankheiten“ („Öko-Syndrom“) annehmen. Das Leitsymptom Schmerz spielt auch hier keine geringe Rolle, vor allem im Gesicht (Neurologie), Zahnbereich (Zahnmedizin, Kieferorthopädie) sowie bei urologischen und orthopädischen Fragestellungen (Urologen, Orthopäden). Zahlenmäßig an erster Stelle stehen aber nach wie vor Krebs-Furcht und hypochondrische Herz-Kreislauf-Beschwerden. Weitere Einzelheiten siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie.
Während es sich bei der Hypochondrie um ein zwar für alle Seiten lästiges, aber irgendwie nachvollziehbares Phänomen handelt (früher deshalb auch klassifikatorisch bei den neurotischen Entwicklungen angesiedelt), ist ein hypochondrischer Wahn eine ganz andere Dimension: Ein Wahn ist die Fehlbeurteilung der Realität, unabhängig von der Erfahrung der Allgemeinheit (und letztlich auch des Betroffenen) und damit von unkorrigierbarer Gewissheit geprägt – oder noch treffender: geschlagen. Da sich die gesunden Mitmenschen dem jeweiligen (Fehl-)Urteil nicht anschließen können, wächst das Bedürfnis nach beharrlicher, ggf. „egoistischer“ bis „aggressiver“ Begründung, aber auch die Gefahr von resigniertem Rückzug und Isolation. Ein hypochondrischer Wahn findet sich nicht – wie man vielleicht annehmen möchte – nur bei schizophrenen Psychosen, sondern vor allem bei schweren Depressionen. Dabei können auch hier wiederum Schmerzen im Vordergrund stehen, erneut vor allem im „Arbeitsbereich“ von Neurologen, Zahn- und Hals-Nasen-Ohren-Ärzten. Das Problem aller Beteiligten ist der häufige Umstand, dass die Betroffenen in der Regel unauffällig erscheinen, was Sprache, Gemütslage und Verhalten anbelangt. Dies und die begrenzten allgemeinen psychiatrischen Kenntnisse können das Problem noch anheizen (unbedachte Äußerungen oder Verhaltensempfehlungen, ständig neue Untersuchungen usw.). In diesem Zusammenhang kann es sogar zu einer „induzierten wahnhaften Störung“ kommen, die auch andere (meist enge Angehörige, aber auch Partner, Freunde) einzubeziehen droht (Extramzustand: folie à deux – siehe das entsprechende Kapitel). Auch kann der Übergang zwischen reiner hypochondrischer Störung und hypochondrischem Wahn durchaus fließend und vor allem zeitlich wechselnd sein, d. h. der Betroffene kann sich heute noch davon distanzieren, wird aber morgen wieder unbeeinflussbar gefangen gehalten. Dann wird es noch schwieriger, hier den richtigen „Durchblick“ zu bekommen. Die Zahl der notgedrungen fehlerhaften Empfehlungen steigt (und damit nebenbei auch die Intensität des Wahns bis hin zum Wahn-System einschließlich Schmerzbild). Weitere Einzelheiten siehe die entsprechenden Kapitel.
Zoenästhetische Psychosen sind Störungen des Leib-Empfindens, also leibliche Halluzinationen (Trugwahrnehmungen, Sinnesstörungen), insbesondere Missempfindungen und Schmerzen. Das droht meist im Rahmen einer schizophrenen Psychose, wobei dann aber – im Gegensatz zur wahnhaften Störung (siehe das entsprechende Kapitel) – noch weitere, in diesem Fall eindeutige psychotische Symptome die richtige Diagnose ermöglichen (akustische Sinnestäuschungen in Form von Stimmen, optische Trugbilder, Ich-Störungen u. a.). Allerdings gibt es auch so genannte mono-symptomatische Fälle, d. h. beispielsweise nur Leib-Gefühlsstörungen, und dies in der Regel dann als „konkrete“ Schmerzbilder. Das macht die Abgrenzung zu den somatoformen Schmerzstörungen oft schwierig (früher als psychosomatisch interpretierbare Schmerzsyndrome bezeichnet, die rein seelische oder psychosoziale Ursachen haben). Eine fachärztliche Untersuchung (Nervenarzt, Psychiater) und gezielte Behandlung (Neuroleptika) ist unumgänglich, auch wenn sie selten genug vorkommt – zu Lasten des Patienten und seines näheren Umfelds. Weitere Einzelheiten siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie.
Die Neurasthenie, also die alte „Nervenschwäche“, konnte sich erstaunlicherweise auch in der neuen Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO: ICD-10) halten. Offenbar ist sie so häufig, dass man sie nicht einfach weg-disputieren kann.
Allerdings gibt es auch hier die Tendenz, dieses „alte Beschwerdebild“ neu zu benennen, beispielsweise mit dem inzwischen modernen und gängigen Begriff des chronischen Müdigkeitssyndroms (chronic fatigue-syndrome – CFS). Auch gibt es Übergänge zu anderen Leidensbildern, die ebenfalls schwer fassbar sind, z. B. die Fibromyalgie mit ihrer spezifischen Schmerzbelastung (Einzelheiten zu diesen Leiden siehe die entsprechenden Kapitel).
Die artifiziellen Störungen mögen zwar selten sein, dafür im Ereignisfall umso spektakulärer (Münchhausen-Syndrom). Dabei bringen sich die Betreffenden aufgrund eines unbewussten Motivs und meist induziert durch schwere Traumatisierungen (seelische Verwundungen) in Kindheit und Jugend Selbstverletzungen bei oder provozieren sogar (langfristig beeinträchtigende) körperliche Erkrankungen. Etwa ein Drittel dieser Patientinnen – es handelt sich meist um Frauen –, sind im medizinischen Bereich tätig, d. h. verfügen über hinreichende Kenntnisse, um dieses „Spiel“ und vor allem das damit verbundene „Krankenhaus-Wandern“ erstaunlich lange durchziehen bzw. durchstehen zu können. Interessant, ja unfassbar ist die damit verbundene seelisch-körperliche Toleranz bzw. Gleichmütigkeit durch eventuelle Schmerzen, die mit solchen Prozeduren verbunden sind. Im Laufe der Zeit kann es schließlich zu einer regelrechten Verselbstständigung dieser selbstschädigenden Handlungen kommen, manchmal geradezu zwanghaft ritualisiert, was dann den gesamten Lebensbezug prägt. Ganz besonders unfassbar wird dieses Phänomen dann, wenn es sich um ein so genanntes erweitertes Münchhausen-Syndrom (Münchhausen by proxy, also Münchhausen in Vertretung) handelt. Dabei erzeugen die „Patientinnen“ die Symptome nicht bei sich selber, sondern bei ihren Kindern, bis hin zu ernsteren medizinischen (insbesondere chirurgischen) Eingriffen und stationären Aufnahmen. Einzelheiten siehe das entsprechende Kapitel.
Natürlich stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage nach einer möglichen Simulation. Doch der wesentliche Unterschied besteht darin, dass der Simulant seine Symptome bewusst herbeiführt oder vorgibt, um einen konkreten Vorteil zu erlangen (Versicherung, Befreiung vom Militärdienst, verbesserte Haftbedingungen). Bei Patienten mit selbstinduzierten Erkrankungen (s. o.) aber gibt es letztlich keine greifbaren Vorteile, bestenfalls die Reduktion innerer Spannungszustände, deren Ursachen aber meist gar nicht bewusst sind. Im Übrigen sollte man die Mahnung der zuständigen Ärzte und Psychologen nicht vergessen, die besagt: Die abwertenden Begriffe „Hypochondrie“ und „Simulation“ sind zwar in aller Munde, aber im Alltag von Klinik, Ambulanz und Praxis jeglicher medizinischer Disziplinen eher selten. Natürlich sind entsprechende Andeutungen, eine gewisse Klagsamkeit, ja sogar grenzwertige Entwicklungen häufiger und bisweilen haben die zuständigen Ärzte schon den Eindruck, es nimmt zu. Doch eine konkrete „Hypochondrie“ oder „Simulation“, wie sie beispielsweise in gutachterlichen Stellungnahmen geklärt werden muss und in der Tat auch hieb- und stichfest ist, läuft selbst Experten nicht alle Tage über den Weg. Wer sich dazu näher informieren will, siehe die entsprechenden Hinweise in dieser Serie. Schmerz-Bewältigung Zur Frage der Schmerztherapie aus psychotherapeutischer Sicht gibt es inzwischen ein umfassendes Literaturangebot. Einzelheiten siehe Fachliteratur und immer häufiger auch wissenschaftlich fundierte, aber allgemein verständliche Sachbücher und populärmedizinische Beiträge in Wort und Schrift. Eindrucksvoll sind auf jeden Fall die inzwischen bewährten Schmerzbewältigungs-Programme: meist 10 bis 12 Sitzungen mit den Schwerpunkten (in Fachbegriffen): Informationsvermittlung, kognitive Umstrukturierung und operantes Konditionieren plus Entspannungstechniken. Sie sind vor allem bei Kopf- und Gesichtsschmerzen, bei rheumatoider Arthritis, bei somatoformen Störungen, bei Rückenschmerzen, ja sogar bei Krebsschmerzen erfolgreich. Allerdings gibt es einen Wermutstropfen: Mittel- und langfristig sind die Ergebnisse leider – will man sorgfältigen Meta-Analysen glauben – dann doch nicht mehr so eindrucksvoll, mahnen kritische Experten (Meta-Analyse = eine detaillierte Aufarbeitung meist mehrerer vorhergehender Studien mit einer Schlussfolgerung, die sich auf diese Ergebnisse bezieht). Damit wird auch rasch deutlich, dass der Schmerz selten allein eine Rolle spielt, meist handelt es sich um ein mehrschichtiges Phänomen (siehe auch Co-Morbidität). Deshalb setzt sich immer häufiger eine mehrschichtige Therapie-Strategie durch, bei der man sowohl bewältigungs-orientiert („störungs-spezifisch“), klärungs-orientiert („konflikt-spezifisch“), als auch beziehungs-orientiert (zwischenmenschlich) und ressourcen-orientiert vorgeht. Letzteres ist die gezielte Nutzung der individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten, worauf in der Regel viel zu wenig eingegangen wird – jedenfalls bis heute. Weitere Probleme, die den Heilungsverlauf erschweren, verzögern oder gar erfolglos machen, sind neben den unerkannten parallel laufenden Leiden (Co-Morbidität wie depressive und Angsterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, Sucht) vor allem die zahlenmäßig dominierenden funktionellen Störungen (Lumbalgie = Hexenschuss, Spannungskopfschmerz, Migräne, orofaciale Schmerzdysfunktion = Gesichts- und Kaumuskeln). Hier gibt es allerdings durchaus erfolgreiche medikamentöse und nicht-medikamentöse Behandlungsmaßnahmen (z. B. Entspannungsverfahren wie progressive Muskelrelaxation, Autogenes Training, ferner EMG-Biofeed back u. a.). Bei somatoformen Schmerzstörungen (früher psychosomatisch genannt) und Somatisierungsstörungen (die frühere vegetative Labilität) mit dem Leitsymptom Schmerz braucht es allerdings dann schon gezielte psychotherapeutische Behandlungsstrategien (z. B. konflikt-spezifisches Vorgehen mit Klärung der überwiegend unbewussten Beziehungs- und Selbstwertkonflikte, die sich in körperlichen Schmerzen ausdrücken). Insgesamt gesehen ist aber die Psychologie des (vor allem chronischen) Schmerzes bis hin zur Schmerzkrankheit ein wissenschaftlich noch ausbaufähiges Gebiet, was auch die Möglichkeiten und Grenzen der verschiedenen Behandlungs-Ansätze prägt. Literatur Grundlage vorliegender Ausführungen ist das Kapitel Hoffmann, S. O., T. W. Franke. : Der lange Weg in die Schmerzkrankheit: Faktoren der Chronifizierung. In: U. T. Egle u. Mitarb. (Hrsg): Handbuch Chronischer Schmerz. Schattauer-Verlag, Stuttgart 2002. Dort auch ein umfangreiches Literaturverzeichnis. |
||||
Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |