Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
LEICHTE KOGNITIVE BEEINTRÄCHTIGUNG IM ALTERLeichte kognitive Störung – gutartige Altersvergesslichkeit – pseudoneurasthenisches Syndrom – psycho-organisches Syndrom – organisches Psychosyndrom – Durchgangs-Syndrom – alters-assoziierte Gedächtnisstörungen – geringe kognitive Leistungseinbußen – Vorstadium einer beginnenden Demenz – fragliche Demenz – sehr leichte senile Demenz – alters-assoziierter kognitiver Abbau – leichte neurokognitive Störungen – kognitive Beeinträchtigungen ohne Demenz – u. a. m.
Die Zeiten ändern sich: Unsere Vorfahren haben mehr gelitten, wir sind häufiger beunruhigt. Oder prägnanter ausgedrückt in dem Philosophenwort: „Frühere Generationen hatten ein gesundes Verhältnis zu ihrer Krankheit; der „moderne“ Mensch hat ein krankes Verhältnis zu seiner Gesundheit“. Da ist was dran. Allerdings ist die heutige Beunruhigung auch der Motor wissenschaftlicher Erkenntnisse. Und damit Information, verbesserter Wissensstand, frühe Diagnose, effektive Therapie – und vor allem rechtzeitige Prävention (Vorbeugung). Man muss eben „konstruktiv beunruhigt“ sein – und daraus heilsame Schlussfolgerungen ziehen. Nachdem man die meisten körperlichen Erkrankungen erfreulich gut in den Griff bekommen hat, schieben sich mehr und mehr die seelischen und geistigen Störungen in den Vordergrund. Und eine gewisse Ansprüchlichkeit, was möglichst langes (und beschwerde-freies) Leben anbelangt. Deshalb auch die wachsende Beunruhigung, was scheinbare Zunahme und Konsequenz der leichten kognitiven Beeinträchtigungen oder Störungen im Alter anbelangt. Oder auf den Alltag übertragen: Was ist ein normaler „Lauf der Dinge“ und was ist eine drohende Geistesschwäche, wenn man immer mehr Probleme hat, sich Namen zu merken, sich an Telefonnummern zu erinnern, immer häufiger Gegenstände verlegt, sich immer mangelhafter zu orientieren weiß, unter Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen zu leiden hat u. a. Zuerst aber ein genereller Überblick zum Thema „Altern heute“: Wir leben in einer alternden Welt Jeder kennt ihn, den berühmten Satz, der auch in dieser Serie schon mehrfach zitiert wurde: Alle wollen es werden, keiner will es sein – alt. Er stammt von dem römischen Staatsmann Cato dem Älteren und hörte sich natürlich vor über 2000 Jahren etwas würdiger an: „Das Greisenalter, das alle zu erreichen wünschten, klagt jeder an, wenn er es erreicht hat“. Tatsächlich leben wir in einer „alternden Welt“. Jahrtausende hinweg betrug die durchschnittliche Lebenserwartung des Menschen 30 oder gar nur 20 Jahre. In den zwei letzten Jahrhunderten aber zeichnete sich eine biologische Revolution ab: Die mittlere Lebensdauer stieg in einmaligem Ausmaß. Zwar hat sich die Lebensspanne, d. h. die maximale Überlebenszeit der Menschen nicht verlängert. Sie liegt nach wie vor zwischen 110 und 115 (117) Jahren. Gewachsen ist dafür die Lebenserwartung, d. h. die durchschnittliche Zahl von Jahren, die dem Menschen bei Geburt statistisch zustehen. Allein in Deutschland stieg sie für Männer von 40 auf 76 und für Frauen von 44 auf über 81 Jahre an. Man hofft, dass sie sich in den kommenden Jahrzehnten weiter erhöhen lässt. Damit bildet das „dritte Lebensalter“ die am stärksten zunehmende Bevölkerungsgruppe. Eine derartig große Zahl von Betagten wie heute hat es in der Geschichte der Menschheit – selbst relativ gesehen – noch nie gegeben.
Bei dieser erfreulichen Veränderung der Altersstruktur in den westlichen (Zivilisations-)Staaten waren besonders Hygiene, bessere Ernährung sowie die Bekämpfung der Infektionskrankheiten erfolgreich, mehr als wegweisende medizinische Eingriffe. Soll die Lebenserwartung in den kommenden Jahrzehnten weiter steigen, setzt dies vor allem die Bekämpfung der beiden Haupttodesursachen voraus: Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs. Die Überwindung aller übrigen Leiden scheint dagegen geringer zu Buche zu schlagen. Eines aber hat man offenbar bisher vergessen und damit vernachlässigt: Die seelische und psychosoziale Ebene. Sie könnte eines Tages – sofern wir sie nicht in den Griff bekommen, einschließlich der offensichtlich zunehmend ungesunden Lebensweise unserer Jugend –, die Korrektur dieser bisher erfreulichen statistischen Entwicklung erzwingen – nach unten. So stellt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem World-Health-Report 2001 fest, dass Depressionen mit annähernd 12% die weltweit führende Ursache für die durch Behinderung beeinträchtigten Lebensjahr darstellen, bezogen auf die gesamte Lebensspanne. Dabei nehmen offenbar vor allem Depressionen im höheren Lebensalter zu. Unter den zehn wichtigsten Erkrankungen befinden sich außerdem Alkoholismus, Schizophrenie und bipolare (manisch-depressive) Erkrankungen. Zu den organischen Störungen, die die Lebensqualität empfindlich behindern bzw. noch mehr beeinträchtigen, zählen Hörverlust, Eisenmangel-Anämie, Osteoarthritis, Sturzfolgen, Asthma, altersbedingte Sehstörungen, Autounfälle u. a. Entsprechende Berechnungen von Weltbank und Harvard University vermuten sogar, dass im Jahre 2020 fünf der zehn wichtigsten Krankheitsbilder seelischer Natur sind: Depression, Alkoholmissbrauch, Demenz bzw. andere degenerative Erkrankungen, Schizophrenie und bipolare (manisch-depressive) affektive Störungen; unter den organischen Leiden wieder Osteoarthritis, zerebrovaskuläre (Gehirngefäß-)Erkrankungen (mit sicher meist psychosozialen Folgen), Lungenleiden, Diabetes mellitus und Autounfall-Folgen. Was in allen Statistiken auffällt, ist der Begriff Demenz, heute jedem geläufig und durchaus angst-besetzt (auch wenn es nur wenige zugeben). Denn die Demenz (vom lateinischen: de = Wortteil mit der Bedeutung von: weg, ab, herab sowie mens = Denkvermögen, Verstand, Vernunft) heißt soviel wie ohne Verstand oder Vernunft bzw. ist ein Sammelbegriff für den erworbenen Abbau intellektueller Funktionen oder Leistungen mit einer sich meist schleichend entwickelnden Wesensänderung. Das dementielle Syndrom Auf Grund der bisher vorliegenden Studien in Deutschland (und allen vergleichbaren Nationen) ist ein Viertel der über 65-jährigen wegen psychischer Beeinträchtigungen generell als behandlungsbedürftig anzusehen. Dabei bleibt die Zahl der leichteren (nicht behandlungsbedürftigen) Störungen weitgehend unberücksichtigt. Die Hälfte aller erfassten Alters-Leiden entfällt auf so genannte endogene Psychosen (biologisch mit- bzw. vorbestimmte Geisteskrankheiten), Neurosen, reaktive und funktionelle Störungen, die andere Hälfte auf hirnorganische Syndrome, vor allem Gefäßerkrankungen und damit Abbauprozesse im Gehirn. Die zahlenmäßig bedeutsamste Gruppe sind die dementiellen Syndrome (Syndrom = charakteristische Zusammenstellung bestimmter Symptome, also Krankheitszeichen). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert die dementiellen Syndrome als „erworbene globale Beeinträchtigungen der höheren Hirnfunktionen einschließlich des Gedächtnisses, der Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen, der Ausführung sensomotorischer (Sinneswahrnehmungen und Bewegungsfähigkeit) und sozialer Fertigkeiten, der Sprache und Kommunikation sowie der Kontrolle emotionaler (gemütsmäßiger) Reaktionen ohne ausgeprägte Bewusstseinstrübung. Oder auf Deutsch: Nachlassen von Gedächtnis- und Erlebnisfähigkeit, Vergröberung entsprechender Charaktereigenschaften, Merk- und Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, Einengung des Interessenkreises, Gefühlslabilität, Kritikschwäche usw. Im Endzustand dann auch einschneidende körperliche Beeinträchtigungen wie Verlust der Kontrolle über Blasen- und Mastdarmfunktion, neurologische Ausfälle u.a. Wie häufig ist nun dieser altersbedingt erworbene Abbau intellektueller Funktionen oder Leistungen? Exakte Angaben sind schwierig, das hängt mit einer Reihe von wissenschaftlichen bzw. forschungs-typischen Problemen zusammen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll. Die Häufigkeit mittelgradiger oder schwerer Demenz schwankt zwischen 3 und 7,7% (Durchschnitt: 5,3%). Bei leichteren Fällen liegt die Schwankungsbreite zwischen 1,5 und 52,7%. Versucht man eine realistische Einschätzung, dann liegt der Anteil demenzkranker Mitbürger beiderlei Geschlechts und über 64 Jahre bei derzeit 10 bis 12%. Das hält sich zwischen 65 und 69 in Grenzen (1 bis 4%) und steigt dann aber rasant bei den über 80-jährigen auf 8 bis 15%. Die Mehrzahl betrifft die so genannte Alzheimer-Demenz, gefolgt von vaskulären Demenzen (Erkrankung der Hirngefäße) bzw. Mischformen. Die errechnete Häufigkeit der Demenzen verdoppelt sich jedenfalls alle fünf Jahre, wobei es allerdings auch Unterschiede je nach Region gibt (z. B. Ferner Osten). Die leichte kognitive Beeinträchtigung oder gutartige Altersvergesslichkeit „Kognitive Beeinträchtigungen im Alter sind keine Seltenheit“, so beginnt Prof. Dr. M. Zaudig mit seinen Co-Autoren das interessante Kapitel über „leichte kognitive Beeinträchtigung“ (LKB) im Alter. Es ist Teil eines neuen Lehrbuchs über Gerontopsychiatrie (Grundlagen, Klinik und Praxis), das in empfehlenswerter Ausführlichkeit ein Thema anbietet, das immer mehr Menschen interessieren dürfte: Altern und Alter, vor allem Diagnose und Ursache seelischer Störungen im höheren Lebensalter sowie therapeutische Möglichkeiten einschließlich rechtlicher und ethischer Fragestellungen (siehe Kasten).
Eine hilfreiche Ergänzung ist auch der hervorragende Fach(!)-Artikel Leichte Kognitive Störung – Fragen zu Definition, Diagnose, Prognose und Therapie von Prof. Dr. A. Kurz und MitarbeiterInnen von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Technischen Universität (TU) München in der Fachzeitschrift Nervenarzt 1 (2004) 6, der hier ebenfalls Verwendung findet. Als leichte kognitive Beeinträchtigung oder leichte kognitive Störung werden dabei erworbene Zustände der Minderung von Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit oder Denkvermögen bezeichnet. Sie gehen zwar über die physiologische (natürliche, insbesondere alters-entsprechende) Leistungsabnahme der jeweiligen Altersstufe hinaus, erreichen aber nicht den Grad einer Demenz. Weitere Einzelheiten zu „Definition und Klassifikation heute“ siehe später. Zuvor einige Hinweise zum historischen Hintergrund. Zur Geschichte der leichten kognitiven Beeinträchtigung Nichts ist neu unter der Sonne, schon gar nicht Alterserscheinungen und hier am allerwenigsten die geistigen Einbußen. Darüber informieren nebenbei zahlreiche Sinnsprüche, die sich am ehesten in der Überlieferung halten und die nicht zuletzt in dieser Serie immer wieder zur komprimierten, aber treffenden Charakterisierung herangezogen werden. Ausführlichere wissenschaftliche Hinweise zu diesem Thema gibt es allerdings erst seit rund hundert Jahren. Im nachfolgenden Kasten finden sich einige Krankheitsbilder mit stichwortartiger Erläuterung, wie man sich dies früher vorgestellt hat.
Begriffe Das Adjektiv kognitiv ist inzwischen in aller Munde. Das freut die Alt-Philologen, retten sich doch damit wenigstens einige lateinische Wörter in eine neue, fast ausschließlich englisch-kommunizierende Generation.
Kognitive Störungen sind also Störungen im Bereich des Erkennens, wobei der (geronto-)psychiatrische Schwerpunkt auf Problemen im Bereich des Kurzzeitgedächtnisses, der Auffassung und Aufmerksamkeit liegt, was schließlich zu einer Beeinträchtigung der psychosozialen Kompetenz führen kann. Wie äußert sich eine leichte kognitive Beeinträchtigung? Unter einer leichten kognitiven Beeinträchtigung versteht man also kognitive Störungen, häufig mit Gedächtnisstörungen verbunden, über die ältere Patienten (über 65) klagen, ohne dass sich dies in besonderer Weise in einer Beeinträchtigung der psychosozialen Kompetenz zeigt (M. Zaudig). Es müssen allerdings seelische Störungen, insbesondere Depressionen und spezifische organische Ursachen ausgeschlossen sein (siehe später). Auch darf keine eindeutige Demenz vorliegen (weshalb sich diese Definition von der der APA mit ihrem DSM-IV-TR und der WHO mit ihrer ICD-10 unterscheidet – s. o). Was das konkrete Beschwerdebild anbelangt, so findet sich eine Reihe treffender Schilderungen, die den verschiedenen historischen Berichten entsprechen (siehe der obige Kasten). Um was handelt es sich nach moderner Auffassung (nach M. Zaudig, A. Kurz u. a.)? – Subjektiv erleben die Patienten vor allem eine schleichende(!) Veränderung bzw. Verschlechterung ihrer Gedächtnisleistung. Dies zeigt sich beispielsweise im Verlegen von Gegenständen und Vergessen von (meist unwichtigen) Daten, Telefonnummern, politischen Ereignissen usw. Auch Konzentrationsstörungen nehmen zu; selten wird auch über Wortfindungsstörungen berichtet. – Oft findet sich auch eine mehr oder weniger deutliche Verlangsamung generell, allerdings mit Schwerpunkt im geistigen Bereich (z. B. Abnahme der Geschwindigkeit, mit der Informationen verarbeitet werden). Dies vor allem dann, wenn mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erfüllen sind. Deshalb pflegen die Betroffenen mehr und mehr komplexeren und/oder anspruchsvolleren Tätigkeiten aus dem Wege zu gehen; nur wenige stellen sich dem früheren vielschichtigen und meist hektischen Aufgaben-Spektrum, um dann doch oftmals frustriert, ratlos und resigniert „zurückzustecken“. – Von Angehörigen und Freunden wird häufig bemängelt, dass der Betroffene weniger Aufmerksamkeit zeige, nicht mehr richtig zuhören könne usw. Das wird vom Patienten ebenfalls bemerkt und bestätigt, meist aber erst dann, wenn man ihn direkt darauf anspricht. – Im Bereich der so genannten fluiden Intelligenz, d.h. was Abstraktions- und Urteilsfähigkeit anbelangt, muss ebenfalls mit einer leichten Verschlechterung gerechnet werden. – Zwischenmenschlich erleben sich viele Patienten (und ihr Umfeld) auch als ungeduldiger, aufbrausender, unkontrollierter, reizbarer sowie stimmungslabiler, wenn nicht gar deprimierter als in früherer Zeit. – Alle diese Einbußen äußern sich – wie erwähnt – vor allem bei anspruchsvoller Tätigkeit und/oder im gesellschaftlichen Rahmen bzw. bei entsprechender Kontakt-Verdichtung, wo derlei natürlich besonders auffällt. Nachfolgend im Kasten eine Gegenüberstellung von der erwähnten „gutartigen Altersvergesslichkeit“, wie man sie sich früher vorstellte und einer beginnenden Alzheimer-Krankheit.
Der Verlauf ist schleichend, das muss noch einmal betont werden, denn damit wird ein rasches Erkennen besonders erschwert. Die verstärkte Vergesslichkeit und Schusseligkeit, insbesondere Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen entwickeln sich erst einmal unbemerkt, dann aber langsam und kontinuierlich zunehmend. Akute Einbußen sind äußerst selten. Das gleiche gilt für „fluktuierende“ Verläufe (also ein mehr oder weniger regelmäßiges Auf und Ab), bei denen sich nach anfänglichen Defiziten wieder unauffällige Phasen ergeben (so etwas lässt eher an andere Krankheitsbilder denken). Zur Frage: Bleibt es bei den leichten kognitiven Beeinträchtigungen oder entsteht daraus gar eine (Alzheimer-)Demenz siehe später. Wie häufig sind leichte kognitive Störungen? Was man nicht genau kennt und damit definieren und klassifizieren kann, lässt sich auch nicht exakt zahlenmäßig einordnen. Deshalb verwundert es nicht, wenn gerade bei den leichten kognitiven Störungen die Häufigkeitseinschätzungen je Studie voneinander abweichen, z. T. sogar ganz erheblich. Im Allgemeinen geht man davon aus, dass es etwa jeden Zehnten bis fast Fünften im so genannten „dritten Lebensalter“ betrifft. Das ist rund doppelt so viel wie eine eindeutige Demenz in dieser Altersspanne, wie aus entsprechenden Studien hervorgeht. Es gibt aber auch deutlich höhere Zahlen-Angaben. Das hängt vor allem mit der Definition der Gedächtnisstörungen zusammen. Beispiele: Wenn man als alters-assoziierte Gedächtnisstörungen die Gedächtnisleistung eines älteren Menschen an den Durchschnittswerten junger Erwachsener misst (in der Fachsprache als Standard-Abweichungen bezeichnet), dann kann man bei über 60-Jährigen auf Zahlen von 17 bis 50% kommen. Das reduziert sich deutlich, wenn die so genannte Standardabweichung mit dem Normwert der eigenen Altersgruppe verglichen wird. Und dann streut es noch immer – wie erwähnt – zwischen jedem Zehnten und fast Fünften (konkret 10,7 bis 17%). Zur wissenschaftlichen Klassifikation der leichten kognitiven Beeinträchtigung – eine Übersicht Wer diesen Ausführungen bisher gefolgt ist, weil ihn die alltags-relevante Frage interessiert: „Gutartige Altersvergesslichkeit oder beginnende Demenz?“, wird immer wieder auf einen Punkt zurückkommen, nämlich: Warum gibt es keinen einheitlichen Begriff und keine allseits anerkannte Definition? Dazu einige Bemerkungen mit vor allem methoden-kritischem Schwerpunkt. Wer sich dafür weniger interessiert, möge gleich bis zum nächsten Kapitel über die Diagnose der leichten kognitiven Störung weiterblättern. Ansonsten gilt: Organische Krankheitsbilder haben es leichter, was Definition, Klassifikation, ja mitunter sogar die Fachbegriffe anbelangt. Dies ist ein altes Problem, mit dem aber die Psychiatrie und Medizinische Psychologie seit jeher fertig werden musste. Dabei ist es noch einige Grade schwerer, internationale Vorstellungen, Wünsche, ja Eigenheiten berücksichtigen zu müssen. Das betrifft vor allem die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die ja die gesamte medizinische Welt umfasst (und vor allem deren nationale Vertreter zufrieden stellen muss). Das geht nicht ohne Widersprüche und Schwachstellen in den jeweiligen Kompromissen ab. Zweifel oder gar Ironie sind aber nicht angebracht. Denn selbst eine so (scheinbar) einheitliche und vor allem mächtige Institution wie die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) hat es auch nicht immer leichter. Auch dort gibt es Ungereimtheiten, die aber den Experten durchaus bekannt sind. Man muss eben mit zahlreichen und ggf. abweichenden, wenn auch für den jeweiligen Blickwinkel stichhaltigen Argumenten zurechtkommen. Denn nicht einmal die „strenge Wissenschaft“ liefert grundsätzlich eindeutige Ergebnisse. Auch müssen aufgrund der verschiedenen Ausgangsbedingungen mitunter ganz unterschiedliche Studien-Resultate erst einmal vergleichbar, am Schluss auf einen Nenner gebracht werden. Das hat zwar für den Alltag in Klinik und Praxis weniger Bedeutung, als man befürchten möchte, muss aber trotzdem sobald als möglich korrigierbar sein. Und man muss – fairer Weise – Ergebnisse, die offensichtlich noch nicht von allen durchdiskutiert, anerkannt und in einem Kompromiss ausformuliert wurden (so genannte Konsensus-Konferenzen) entsprechend vorsichtig formulieren, d. h für den Außenstehenden eher vage und unverbindlich. In den Medien allerdings wird das meist „lockerer“ gehandhabt („je sensationeller, desto lauter“). Da kann sich dann ein Experte schon einmal so eindeutig („spektakulär“) zitiert sehen, wie er es beim derzeitigen Wissens-Stand nie zu formulieren gewagt hätte. Aber „es ist draußen“, macht die Runde (und vielleicht Unruhe) – und wird leider nur selten korrigiert. (Für nachträgliche Korrekturen oder zumindest korrigierende Ergänzungen sind viele Medien-Vertreter nur ungern zu haben, verständlicherweise, was ihre Aufgabe und ihr Arbeitsstil anbelangt; das aber ist bisweilen problematisch für die zitierten Wissenschaftler und natürlich auch für die ggf. verunsicherten Leser.) Zurück zur Klassifikation der leichten kognitiven Beeinträchtigung im Alter. Das Interesse an einem Phänomen, besonders im medizinischen Bereich, ist umso größer, je mehr Betroffene es einschließt. Das gilt auch für die gutartige Altersvergesslichkeit von früher und leichten kognitiven Beeinträchtigung (LKB) heute. Die Zahl der Definitionen und klassifikatorischen Empfehlungen seit etwa 15 Jahren ist kaum mehr überblickbar. Einzelheiten – meist nur für den Experten durchschaubar – finden sich in dem Original-Kapitel des zitierten Buches (aktuelle Konzepte für die LKB) und in dem Fachartikel in der Fachzeitschrift Nervenarzt 1/2004. Problematisch ist aber auch die unterschiedliche Sichtweise von Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Psychiatrischer Amerikanischer Vereinigung (APA), der wohl mächtigsten psychiatrischen Institution auf der Grundlage einer einzigen Nation (s. o.). Dazu stichwortartig noch einmal einige Bemerkungen, ergänzend zu der historischen Einleitung:
Trotz der erwähnten Unterschiede stimmen aber die Experten darüber ein, dass sich die leichte kognitive Störung nach zwei Seiten relativ eindeutig abgrenzen lässt, und zwar:
Wie versucht man sich nun gegen diese beiden kognitiven Verläufe zu definieren? – Für die Unterscheidung der leichten kognitiven Störung gegenüber den altersbedingten kognitiven Einbußen muss das Leistungsvermögen unterhalb des Altersdurchschnitts liegen. Dies sollen so genannte normierte psychometrische Verfahren belegen. Nun weisen aber die kognitiven altersbedingten Abweichungen eine große individuelle Spannbreite auf, sodass das Abweichen von der Altersnorm nicht gleichbedeutend mit einer krankhaften Ursache sein muss. Außerdem wird zumeist ein Faktor vergessen, der auch präventiv (vorbeugend!) genutzt werden kann: Es ist nämlich ein Unterschied, ob man von einem hohen Intelligenzniveau alters- oder krankheitsbedingt absinkt oder von einem mittleren, wenn nicht gar niederen. Je höher die Ausgangslage, desto länger dauern noch halbwegs befriedigende (Durchschnitts-)Ergebnisse. Das leuchtet ein und kann – wie erwähnt – durch fleißige Vor- und spätere Erhaltungs-Arbeit genutzt werden. Oder in einem Satz, Solon den Weisen aus dem antiken Griechenland zitierend: „Ich altere wohl, doch täglich lerne ich etwas dazu.“ Für die vorliegende Frage aber ergibt sich ein Problem: Wer nämlich von einem hohen intellektuellen Niveau abgesunken ist, zum Zeitpunkt der Untersuchung aber innerhalb des Durchschnittswertes der betreffenden Altersgruppe liegt, täuscht gleichsam unbewusst über seinen vorzeitigen Leistungsrückgang hinweg. Das muss man also bei einer solchen Untersuchung irgendwie in den Griff bekommen. Darüber hinaus gibt es noch zahlreiche weitere diagnostische „Stolpersteine“, die hier nicht weiter ausgeführt werden sollen (Einzelheiten siehe der erwähnte Artikel von A. Kurz u. Mitarbeiter). – Ein noch größeres Problem ist die Unterscheidung der leichten kognitiven Störung von der beginnenden Demenz. Denn selbst die Demenz-Definitionen sind noch immer nicht scharf und einheitlich genug. Klar sind die kognitiven Leistungsminderungen (einschließlich des Gedächtnisses), die zu einer Beeinträchtigung der Alltags-Tätigkeit führen. Auch entsprechende Verhaltensänderungen (Antrieb, Sozialverhalten, Kontrolle der Emotionen, d. h. Gemütsregungen u. a.) lassen sich halbwegs gut kommentieren. Schwierigkeiten ergeben sich aber im Verlauf, und der ist meist charakterisiert durch „fließende Übergänge“, vor allem wenn man wieder die verschiedenen Ebenen auf einen Nenner bringen will (geistige Beeinträchtigung, Antrieb, Sozialverhalten u. a.). Vieles beginnt auch bei der Demenz mit eher milden Beeinträchtigungen (was für eine leichte kognitive Störung sprechen könnte) und mündet später doch in eine Alzheimer-Krankheit. Oder kurz: Es ist einfach keine klare Schwelle zwischen leichter kognitiver Störung und (beginnender) Demenz vorhanden. Daran wird zwar inzwischen gearbeitet, doch die praktisch verwertbaren Ergebnisse bleiben noch eher bescheiden. Schlussfolgerung: Aus diesem Grund liegt die Grenze zwischen leichter kognitiver Störung und Demenz bei unterschiedlichen Personen wahrscheinlich nicht an der gleichen Stelle. Individuelle Faktoren wie prämorbide (vor der Erkrankung bestehende) Intelligenz, die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Selbstkritik (ein ganz wesentlicher Punkt, der viele Untersuchungen auf dünnes Eis geraten lässt), das Niveau der individuellen Aktivität, die beruflichen und sozialen Anforderungen, aber auch die Verfügbarkeit und Aufmerksamkeit von Bezugspersonen bestimmen im Wesentlichen noch immer darüber, ob eine kognitive Leistungsminderung objektiv als störend oder einschränkend erlebt wird. Und ob sie sich in beobachtbaren Verhaltensänderungen oder Fehlleistungen niederschlägt, denn das gibt dann in der Regel den Ausschlag für allgemeine Aufmerksamkeit, Korrekturversuche sowie diagnostische und therapeutische Überlegungen (nach A. Kurz, modifiziert). Wie diagnostiziert man eine leichte kognitive Störung? Ob leichte kognitive Störung oder (beginnende) Demenz, der diagnostische Entscheidungsweg ist im Wesentlichen gleich und führt über zwei Stufen: Der 1. Schritt dient dem Erkennen des Beschwerdebildes (was deutlich mehr Probleme bereitet als man sich vorstellen kann – s. u.) unter Abgrenzung von altersbedingten Beeinträchtigungen sowie anderen Krankheitsbildern wie Demenz, Delir, amnestisches Syndrom u. a. Der 2. Schritt muss dann – sofern die leichte kognitive Störung feststeht – die zugrunde liegenden Ursachen finden helfen. Im Einzelnen: Der 1. Schritt ist das erwähnte Erkennen und – zumeist stillschweigend übergangen oder als selbstverständlich vorausgesetzt, was es nicht ist –, das Akzeptieren, das Annehmen, das Hinnehmen der beginnenden Einbußen. Das ist viel zwiespältiger, als man sich eingesteht. Zwar kann es jeden treffen, aber der Verlauf ist immer gleich: Sind es die anderen, schüttelt man den Kopf, wie lange „so viel Zeit ungenutzt verstreichen konnte“. Ist man selber betroffen, kommt lange Zeit kein Gedanke auf, man könnte dazugehören. Kurz: Die frühe, d. h. die rechtzeitige Diagnose steht und fällt mit Bezugspersonen, wie die Experten es nennen. Oder auf Deutsch: (Ehe-)Partner, Kinder und Enkel, sonstiges Angehörige, Freunde, Nachbarn, vielleicht sogar Fremde (die es zwar nichts angeht, deren „unqualifizierte Bemerkungen“ aber vielleicht noch mehr Eindruck machen, als die vorsichtigen Andeutungen des näheren Umfelds). Einmal davon abgesehen, dass zu Beginn einer solch „traurigen Entwicklung“ gerade Verwandte und Freunde eher „schonend zurückhaltend“ zu sein pflegen, oftmals aber auch gar nicht merken, was sich hier „heimlich, still und leise abspielt“, weil man „zu nah drauf ist“, „sich daran gewöhnt hat“, „das Ganze für nicht so bedrohlich hielt“ und wie derlei entschuldigende Bemerkungen lauten, unabhängig davon ist hier ein zweiter Hinderungsfaktor zahlenmäßig viel bedeutsamer: Bei einer wachsenden Zahl von Betroffenen gibt es gar keine nahen Bezugspersonen mehr, die sich solchen Erkenntnissen und Hinweisen verpflichtet fühlen. Wenn es aber Bezugspersonen gibt, dann müssen sie auch handeln. Schonung ist der falsche Weg. Wenn es keine Bezugspersonen gibt, kann beispielsweise auch der Hausarzt bei alleinstehenden Personen einen kurzen teil-stationären oder stationären Aufenthalt in einer gerontopsychiatrischen Spezial-Abteilung empfehlen; dort pflegt man sehr rasch einen zutreffenden Eindruck von den Möglichkeiten und Grenzen der Alltagsbewältigung zu gewinnen. Außerdem lassen sich in der gerontopsychiatrischen Ambulanz sowie bei spezialisierten Hausärzten und Internisten in ihrer Praxis entsprechende Kurz-Tests nutzen. Einzelheiten dazu siehe das nächste Kapitel. Inzwischen stehen auch so genannte Verfahren der strukturellen und funktionellen Bildgebung sowie biochemische Messungen im Liquor (Nervenwasser) zur Verfügung, die zwar vor allem der Demenz-Diagnose dienen, möglicherweise aber auch schon bei leichteren kognitiven Störungen organische Hinweise vermitteln (siehe später). Lässt sich eine leichte kognitive Beeinträchtigung testpsychologisch objektivieren? Gerade in kognitiver Hinsicht gibt es inzwischen eine große Zahl von testpsychologischen bzw. psychometrischen Möglichkeiten. Bei den leichten kognitiven Beeinträchtigungen hält sich dies allerdings – überraschenderweise – in Grenzen. Dafür gibt es offenbar nur wenige geeignete Verfahren. Außerdem tut sich hier noch ein weiteres wissenschaftliches Problem auf (was nebenbei nicht so selten auch andere Bereiche behindert), nämlich nicht nur mehrere Definitionen, sondern auch eine Vielzahl von Test-Methoden und damit unterschiedlichen Erkenntnissen. Das heißt: Wenn jeder etwas anderes misst, darf man sich nicht wundern, wenn es keine vergleichbaren Ergebnisse gibt, auf die sich alle berufen können. Es tut also eine internationale Standardisierung der verfügbaren Testverfahren not. Einzelheiten siehe die entsprechende Fachliteratur. Nachfolgend nur einige Fachbegriffe ohne weitere Erläuterungen als komprimierte Übersicht: Mehr oder weniger geeignet, laut Experten-Urteil, sind beispielsweise klinische Kurztests wie der Mini Mental Status Test - MMST (nur bedingt geeignet?), der bekannte Uhren-Test (im diagnostischen Alltag befriedigende Test-Empfindlichkeit?), einige Untertests größerer Test-Batterien wie CERAD-NP, CVLT, ferner den Zahlen-Symbol-Test, die Wortflüssigkeit und den Trail Making Test A u. B, außerdem neueres Screening-Verfahren zur Früherkennung von Demenz-Zuständen wie der DemTect u.a.m. Wichtig, und das sei schon einmal vorweg genommen, sind regelmäßige Wiederholungen dieser Tests, um deren Aussagekraft zu erhöhen. Warum? Eine Test-Untersuchung ist immer eine seelische Belastung (das weiß man schon von der eigenen Blutdruck- oder gar „nur“ Puls-Messung). Deshalb sind selbst unterdurchschnittliche oder mangelhafte Ergebnisse in solchen psychometrischen Tests noch kein aussagekräftiges Urteil. Oder der Patient befindet sich beispielsweise noch immer innerhalb der physiologischen (normalen) Variationsbreite seiner Altersgruppe, nur wurden ungünstige Voraussetzungen nicht berücksichtigt. Dazu gehören z. B. Minderung des Seh- und Hörvermögens, fehlende Sprachkompetenz, aber auch unzureichende Schulausbildung, übermäßige Nervosität, Ermüdung oder schlechte Tagesform. Andererseits können – auch das wurde schon einmal erwähnt –, Patienten mit hoher Intelligenz, gutem Kompensations-(Ausgleichs-)Vermögen und hoher Sprachkompetenz in den gängigen Tests durchaus durchschnittliche Werte erzielen, obwohl sie selbst und ihre Bezugspersonen eine eindeutige Leistungsabnahme festgestellt haben. Aus diesem Grund darf die Aussagekraft einer einmaligen(!) Testuntersuchung nicht überschätzt werden, mahnen die Experten. Ein erheblich größeres Gewicht hat deshalb die wiederholte Untersuchung mit den gleichen Instrumenten, beispielsweise in einem Abstand von 6 bis 12 Monaten, spätestens aber nach zwei oder drei Jahren. Letzteres ist der durchschnittliche Zeitverlauf, in dem sich eine zumindest leichte Demenz objektiveren lässt. Zeigt sich dann eine Verschlechterung der laufenden Testergebnisse, ist eine krankhafte Ursache der leichten kognitiven Störung wahrscheinlich. Oder kurz: Wenn auch die testpsychologischen Untersuchungen noch nicht zur allseitigen Zufrieden gediehen sind, bleiben sie doch eine wichtige Untersuchungs-Säule und garantieren vor allem im kontinuierlichen Test-Verlauf der kommenden Jahre eine hinreichende Diagnose-Sicherheit, die man nutzen sollte. Welche diagnostischen Möglichkeiten gibt es sonst noch? Um die diagnostischen Möglichkeiten auszuschöpfen und vor allem „harte“ Kriterien zu schaffen, können weitere „Indizien“, „Faktoren“ bzw. so genannte „Biomarker“ (biologische Substanzen, deren Vorkommen oder Fehlen in Geweben oder Körperflüssigkeiten unverwechselbar auf einen Krankheitszustand hindeuten) erarbeitet werden. Dazu gehören beispielsweise: – Die Entwicklung so genannter bildgebender Verfahren hat gezeigt, dass spezifische gehirnstrukturelle Befunde in konkreten Gehirnregionen auch konkrete Erklärungsmuster für bestimmte geistig-seelische Defizite nahe legen. In der Fachsprache nennt man solche hochspezialisierten und damit teuren, aber auch effektiven Geräte bzw. ihre Arbeitsweise funktionelle Kernspintomographie (fMRT) oder Positronen-Emissionstomographie (PET), die dann so genannte Neuroimaging-Parameter erarbeiten helfen und damit eine rechtzeitige Diagnose dementieller Erkrankungen möglich machen. Beispiel: Ein verminderter Blutfluss oder reduzierter Glucose-(Zucker-)Stoffwechsel in parieto-temporalen Hirnregionen (Schläfenlappenbereich), was auf ein frühes Stadium einer Alzheimer-Demenz hinweisen könnte. – Auch so genannte Liquor-Marker (also kennzeichnende Hinweise in der Nervenflüssigkeit, die Gehirn und Rückenmark umgibt) wären hilfreich, wie bisher schon in klinischen Studien bewiesen werden konnte. Dies betrifft einerseits bestimmte Stoffwechsel-Veränderungen, andererseits auch Entzündungshinweise. – Und schließlich gilt es auch an so genannte genetische Determinanten zu denken, also Erbfaktoren. So lassen sich beispielsweise in frühen als auch späten Erkrankungsphasen konkrete familiäre Vorbelastungen finden (krankheitsverursachende Mutationen der Gene = Veränderung der Erbanlage). Allerdings steht man hier noch am Anfang der Forschung und muss auch immer wieder erkennen, dass die eine oder andere Aussagekraft neuer, anfangs hoffnungsvoller Studienergebnisse dann doch wieder relativiert werden muss. Der Mensch ist offensichtlich komplizierter als man gerne hätte... Differentialdiagnose – auf was muss man achten? Geht man von der Realität einer Leichten Kognitiven Beeinträchtigung im Alter aus, ergeben sich mehrere differentialdiagnostische Abklärungs-Verpflichtungen. Zum Beispiel: – Die erwähnten Leichten Kognitiven Störungen der WHO in ihrer ICD-10 (s.o.) im Sinne von körperlichen Erkrankungen mit entsprechenden geistigen, seelischen und psychosozialen Folgen. Das ist gerade im höheren Lebensalter nicht selten (Multimorbidität = Mehrfacherkrankungen), allerdings mit einem Unterschied: Sie sind vorübergehender Natur und damit auch die kognitiven Defizite. – Problematischer wird es bei psychischen Erkrankungen im engeren Sinn, insbesondere depressiven Zuständen jeglicher Ursache. Denn Depressionen führen gerade im höheren Lebensalter in mindestens jedem vierten Fall zu deutlichen kognitiven Beeinträchtigungen, was mitunter – nicht zuletzt wegen der längeren Dauer einer Depression im höheren Lebensalter – wie eine echte kognitive Beeinträchtigung für den Rest des Lebens aussehen kann, bis hin zur so genannten Pseudo-Demenz der Depression (siehe die entsprechenden Kapitel über Depressionen und Alzheimer-Demenz).
– Auch die erwähnte „gutartige Altersvergesslichkeit“, die man einerseits als Vorstufe einer beginnenden Demenz einordnen kann, andererseits aber auch als eigenständige und in der Tat nicht beunruhigende Möglichkeit, kann – sofern sie in der Wissenschaft als eigenständiges Leiden akzeptiert würde – natürlich auch differentialdiagnostische Probleme aufwerfen. – Und schließlich können leichtere kognitive Beeinträchtigungen fälschlich auch dann angenommen werden, wenn bereits zuvor ein niedriger Intelligenz- und/oder Bildungsgrad vorliegt (was dem Arzt nicht bekannt war oder aus Scham bzw. Rücksicht nicht gestanden wurde). – Zuletzt wird auch ein natur-gegeben geistig reduziertes Niveau im Alter nicht besser und kann dann auf diese Weise zu einer Fehl-Diagnose führen. Wie verläuft eine leichte kognitive Beeinträchtigung? Dieses Problem (nämlich die Schwierigkeit, wissenschaftlich einheitlich vorzugehen und damit vergleichbare Ergebnisse zu schaffen) behindert natürlich auch die Frage: Wie verläuft eine leichte kognitive Beeinträchtigung? Darüber gibt es nur wenige Verlaufsstudien, die allerdings dann zu folgendem Ergebnis kommen: Das Beschwerdebild der leichten kognitiven Störung ist ätiologisch (Krankheitsursache) völlig unspezifisch. Trotzdem muss man davon ausgehen, dass Patienten mit leichter kognitiver Beeinträchtigung laut aktueller Langzeitstudien ein nicht geringes Risiko eingehen, letztlich eine Demenz zu entwickeln. Diese unerfreuliche Erkenntnis ist aber noch nicht das „letzte Wort der Wissenschaft“ und muss wohl differenzierter gesehen werden, was die Prognose (die Heilungsaussichten) generell anbelangt. Denn die bisher vorliegenden Erkenntnisse zeichnen – so die Experten – wahrscheinlich ein zu einseitiges und damit zu negatives Bild. Sie entstammen so genannten prospektiven Untersuchungen an Patienten mit dem „amnestischen Typ des Syndroms“, bei denen die Häufigkeit von alzheimer-typischen histopathologischen Veränderungen erhöht ist. Oder auf Deutsch: Jene Patienten, die überwiegend an Gedächtnisstörungen litten und deren Hirnzellen-Untersuchung später den Negativ-Befund bestätigten (s. u.). Tatsächlich zeigen diese Studien übereinstimmend, dass die entscheidenden Symptome bei durchschnittlich 10 bis 23% der Patienten pro Jahr zu einer Demenz fortschreiten. Nach einem Erhebungs-Zeitraum von 6 Jahren entwickeln damit rund 80% der Patienten mit dieser amnestischen Variante(!) der leichten kognitiven Störung also eine Demenz. Das klinische Bild dieser Demenz-Art entspricht häufig der Alzheimer-Krankheit. Bei allem muss man also wissen, dass es sich bei diesen Untersuchungen um eine Negativ-Auswahl handelt (denn es wurde nicht die Gesamt-Bevölkerung untersucht bzw. ein repräsentativer Querschnitt davon, das wäre dann eine repräsentative, also der Realität angepasste Aussage). De facto durchlaufen aber praktisch alle Patienten, bei denen sich eine Demenz entwickelt, zuvor ein Stadium minimaler Beschwerden, was einer leichten kognitiven Störung entsprechen dürfte. Es sind aber auch andere Verläufe möglich, einschließlich völliger Rückbildung. Deshalb gilt es bei begründeten Verdachtsmomenten (selber oder durch das Umfeld angedeutet) das Phänomen nicht zu verdrängen, sondern zu erkennen, zu akzeptieren – und zu handeln. Dies gilt vor allem für jene Betroffene, bei denen neben Gedächtnisstörungen auch Einschränkungen in anderen kognitiven Leistungsbereichen auftreten. Beispiele: Orientierung, Kurz- und Langzeitgedächtnis, verbale und rechnerische sowie Konstruktionsfähigkeiten, vielleicht sogar deutliche Hinweise auf Sprachverlust und Unfähigkeit zweckgerichteten Handelns trotz intakter körperlicher Voraussetzungen. Dies alles aber ist natürlich viel zu kompliziert, um es im Alltag von einem Umfeld registrieren zu lassen, dass damit heillos überfordert ist. Deshalb der Rat der Experten: Mut zur (Vor-)Untersuchung und diese regelmäßig wiederholen lassen (siehe das Kapitel über die testpsychologischen Möglichkeiten heute). Zur Therapie leichter kognitiver Störungen Die Behandlung der Demenz ist eine große therapeutische Herausforderung. Dies gilt vor allem für die Pharmakotherapie. Die Pharmaindustrie ist sich dieser Möglichkeiten (auch finanzieller Art) durchaus bewusst. Seit einigen Jahrzehnten gibt es deshalb auch eine Reihe von Substanzen, bei denen zumindest berechtigter Anlass zur Hoffnung besteht. Hoffnung, eine dementielle Entwicklung wenigstens aufzuhalten bzw. das Fortschreiten der Demenz einzudämmen, denn eine Rückbildung dürfte noch einige Zeit Zukunfts-Vision bleiben.
Das überrascht, denn zu Beginn der antidementiven Therapie, wie der Fachausdruck lautet, stand der Einsatz von so genannten Nootropika bei leichtgradigen Formen der kognitiven Leistungsminderung im Vordergrund. Damals vermutete man auch am ehesten eine zerebrovaskuläre Insuffizienz, also eine verminderte Durchblutung des Gehirns. Tatsächlich lässt die Wiederentdeckung der leichten kognitiven Störungen unter veränderten Bedingungen bezüglich Ursachen, Verlauf und Klassifikation die alten Erfahrungen über die verbesserte Gehirn-Durchblutung wieder interessant erscheinen. Ähnliches gilt auch für das Wirkprinzip der so bezeichneten cholinergen Substitution durch Cholinesterasehemmer. Einzelheiten würden auch hier zu weit führen, weshalb auf die Fachliteratur verwiesen wird. Bei der Alzheimer-Demenz sind solche Substanzen allerdings wieder in der Diskussion, zumindest einige von ihnen. Wenn also ein nicht geringer Teil der ursprünglich leichten kognitiven Störungen später in eine Alzheimer-Demenz überzugehen droht, wäre eine rechtzeitige Behandlung mit solchen Substanzen das Mittel der Wahl, wie man die best-mögliche Therapie-Entscheidung nennt. Wie auch immer, derzeit werden jedenfalls eine ganze Reihe von Substanzen klinischen Arzneimittelprüfungen unterzogen, die bei leichter kognitiver Störung eine Rolle spielen könnten, nach bisherigem Kenntnisstand mit unterschiedlicher Effektivität (Beispiele: Donepezil, Rofecoxib, Piracetam, Ampakine, Galantamin, Rivastigmin u. a.).
Gerade die kognitiven Trainingsmaßnahmen führen zwar zur signifikanten Leistungssteigerungen unmittelbar nach Beendigung des Übungsprogramms, aber zu keinen anhaltenden Verbesserungen. Der Grund ist einfach: Die Betroffenen lassen sich behandeln, machen aber nicht selber weiter. Dass es daneben noch bestimmte, meist methodische Schwächen dieser Behandlungs-Systeme gibt, sei zumindest am Rande angemerkt (aber kein Hindernis, es dennoch zu versuchen – mit konsequenter Weiterführung in eigener Initiative).
Aber: von nichts kommt nichts. Und hier wäre gerade der tägliche Gesundmarsch bei Tageslicht eine optimale Lösung, oder – wieder bescheidener ausgedrückt – die beste aller möglichen Lösungen. Nur praktiziert wird sie nicht, oder nur selten, oder vor allem von denen nicht, die es am dringlichsten nötig hätten. Dabei weiß jeder von sich selber: Körperliche Aktivität erhöht auch die geistige Leistungsfähigkeit. Die Mediziner nennen dies die „vis a tergo“, also den verbesserten Blut-Durchfluss (Sauerstoff, auch wenn die Wirklichkeit komplizierter ist) durch gestärkte Herz-Kreislauf-Leistung. Und wer aus den erwähnten orthopädischen Gründen beeinträchtigt ist, dem kommt eine alte Möglichkeit entgegen, die gerade ihren modischen Höhepunkt erreicht, nämlich das Nordic Walking. In diesem Fall eine überaus sinnvolle Mode-Erscheinung, die noch lange anhalten möge (50% Leistungssteigerung bei 30% Gelenkschonung, sagen die Experten). Allerdings in Ausrüstung, Technik, Dauer und Intensität individuell angepasst! Die einen mögen ihre Mode leben, die anderen sich aber ihren biologischen Bedingungen anpassen dürfen. SCHLUSSFOLGEURNG Leichte kognitive Beeinträchtigungen im Alter sind zum einen nicht selten und zum anderen erst einmal kein Grund zu Panik. Am ehesten kann man sich mit dem hoffnungsvollen Begriff der „gutartigen Altersvergesslichkeit“ anfreunden. Mit ihr kann man auch leben lernen, besonders wenn man sich nichts vormacht und zu helfen weiß – vor allem mit stillem Humor. Die Wissenschaft, und hier insbesondere die Gerontopsychiater sind jedoch gehalten, sich nicht mit Hoffnungen zu begnügen, sondern möglichst fundierte Daten zu sammeln, die dann der Realität auch am nächsten kommen. Deshalb sollte man sich mit der Erkenntnis vertraut machen, dass die leichte kognitive Beeinträchtigung im Alter nicht nur im Rahmen internistischer oder neurologischer Leiden sowie bei seelischen Störungen wie Depression bzw. als Medikamenten-Nebenwirkung auftreten (und dann auch wieder zurückgehen) kann, sondern auch ohne offenkundige Ursache. Dabei kann sie sich – zumindest dezent – mit ihren charakteristischen Symptomen halten (Auffassung, Aufmerksamkeit, Kurzzeitgedächtnis u. a.), was ja dann auch alters-typisch wäre. Oder sie kann ggf. fortschreiten, bis zur Demenz, was sich dann in den folgenden vier bis sechs Jahren zeigen müsste, so die Experten. Unter diesem Aspekt sollte man jedoch nicht resignieren oder gar „den Kopf in den Sand stecken“. Man sollte so ruhig und bedachtsam wie möglich die Entwicklung beobachten bzw. den Verlauf fachärztlich (Nervenärzte, Neurologen, Gerontopsychiater) kontrollieren lassen. Und dabei sollte man sich seines Umfelds bedienen, es registriert nämlich eventuelle Einbußen eher und bringt sie auch vorsichtig zur Sprache, wenn man signalisiert: Ich bin an der Meinung der anderen interessiert und willens, etwas zu tun. Leider wird das in der Regel erst dann geschehen, wenn sich ernstere geistige Defizite abzuzeichnen pflegen. Und doch sollte man rechtzeitig die heutigen diagnostischen Möglichkeiten nutzen. Und im Falle einer beginnenden Demenz auch die ganz offensichtlich wachsenden therapeutischen Angebote, vor allem im Vorfeld (wo sie noch ergiebiger zu sein pflegen als im fortgeschrittenen Krankheitsfall). So gesehen hat auch die derzeit offene wissenschaftliche Diskussion ihr Gutes und sogar etwas Tröstliches. Die Experten können zwar noch immer nicht rechtzeitig voraussagen, was aus einer leichten kognitiven Beeinträchtigung im Alter eines Tages wird (bleibende gutartige Altersvergesslichkeit oder Demenz, vor allem vom Alzheimer-Typ?). Sie vermitteln uns aber zumindest die Möglichkeiten und Grenzen des aktuellen Wissensstandes. Dann bleibt es die Aufgabe eines jeden selber zu entscheiden, wie weit er fachärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen gedenkt, um zu einer doch lebensentscheidenden Frage wenigstens halbwegs Sicherheit zu bekommen. Und vor allem um alles zu tun, was zur Erhaltung eines lebenswerten Alterns derzeit verfügbar ist. Und das ist nicht wenig, wenn man nur einige Jahrzehnte zurück denkt, von unseren Vorfahren ab der Großeltern-Generation ganz zu schweigen. Und das Wichtigste, so die alten Hausärzte mit ihrer jahrzehntelangen Erfahrung: geistige Aufgeschlossenheit, körperliche Aktivität und – weitgehend aus der Mode geraten, aber psychohygienisch von größter Bedeutung – Dankbarkeit und Demut. Weiterführende Literatur Grundlage vorliegenden Beitrags ist das erwähnte Buch-Kapitel sowie der Fachartikel: - Zaudig, M. u. Mitarb.: Die „leichte kognitive Beeinträchtigung“ (LKB) im Alter. In: M. Bergener u. Mitarb. (Hrsg.): Gerontopsychiatrie. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2005 - Kurz, A. u. Mitarb.: Leichte kognitive Störung. Fragen zu Definition, Diagnose, Prognose und Therapie. Der Nervenarzt 1 (2004) 6 Weitere gerontopsychiatrische Standardwerke (Auswahl) BDA (Hrsg.): Demenz-Manual. Kybermed, Emsdetten 1999 Beyreuther, K. u. Mitarb. (Hrsg.): Demenzen: Grundlagen und Klinik. Thieme-Verlag, Stuttgart 2002 Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.): Wenn das Gedächtnis nachlässt. DVG, Meckenheim 1999 Förstl, H. (Hrsg.): Lehrbuch der Gerontopsychiatrie und -psychotherapie. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 2003 Förstl, H. (Hrsg.): Demenzen in Theorie und Praxis. Springer-Verlag, Heidelberg 2001 Förstl, H. (Hrsg.): Lehrbuch der Gerontopsychiatrie. Enke-Verlag, Stuttgart 1987 Hafner, M., A. Meier: Geriatrische Krankheitslehre. Teil I: Psychiatrische und neurologische Syndrome. Teil II: Allgemeine Krankheitslehre und somatogene Syndrome. Verlag Hans Huber, Bern-Göttingen-Toronto-Seattle 1998/2000 Jacobi, G. u. Mitarb. (Hrsg.): Anti-Aging für Männer. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 2004 Jacobi, G. u. Mitarb. (Hrsg.): Kursbuch Anti-Aging. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 2005 Kisker, K.P. u. Mitarb. (Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart, Band 8: Alterspsychiatrie. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York-Tokio 1989 Kretschmar, C. u. Mitarb. (Hrsg.): Angst-Sucht-Anpassungsstörungen im Alter. Chudeck-Druck, Bornheim-Sechtem 2000 Mayer, K.U., P.B. Baltes (Hrsg.): Die Berliner Altersstudie. Akademie-Verlag, Berlin 1996 Müller, C.: Psychische Erkrankungen und ihr Verlauf sowie ihre Beeinflussung durch das Alter. Verlag Hans Huber, Bern-Stuttgart-Wien 1981 Nikolaus, T. (Hrsg.): Klinische Geriatrie. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 2000 Platt, D.: Handbuch der Gerontologie. Band 5: Neurologie, Psychiatrie. Gustav-Fischer-Verlag, Stuttgart-New York 1989 Wächtler, C. (Hrsg.): Demenzen. Thieme-Verlag, Stuttgart 1997 Wächtler, C. u. Mitarb. (Hrsg.): Demenz. Verlag Egbert Ramin, Singen 1996 Wahl, H.-W., V. Heyl: Gerontologie. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2004 Weis, S., G. Weber (Hrsg.): Handbuch Morbus Alzheimer. Neurobiologie, Diagnose, Therapie. Springer-Verlag, Wien-New York 1997 Wetterling, T.: Gerontopsychiatrie. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 2001 Wettstein, A. u. Mitarb. (Hrsg.): Geriatrie. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 1997 Zapotoczky, H.G., P.K. Fischof (Hrsg.): Handbuch der Gerontopsychiatrie. Springer-Verlag, Wien-New York 1996 Zaudig, M.: Demenz und „leichte kognitive Beeinträchtigung“ im Alter. Verlag Hans Huber, Bern-Göttingen-Toronto-Seattle 1995 |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |