Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
FUNKTIONELLE ODER BEFINDLICHKEITSSTÖRUNGENFunktionelle oder Befindlichkeitsstörungen sind überwiegend körperliche Beschwerdebilder ohne krankhaften Befund. Sie können sich in praktisch allen Organsystemen äußern. Beschwerdebild, Ursachen und Hintergründe gehören zu den schwierigsten Kapiteln seelischen, psychosozialen und psychosomatischen Leids. Das macht Diagnose und Therapie so schwierig und führt zu endlosen "Grenzbefunden", zu zahlreichen Durch- und Kontrolluntersuchungen und in manchen Fällen zu einer unseligen "Patientenkarriere" mit hoher Belastung für den Betroffenen, seine Angehörigen, Freunde und Arbeitskollegen. Auch die wirtschaftlichen Folgekosten sind enorm. Was steht dahinter und was kann man tun? Es gibt kaum ein Beschwerdebild, das einerseits so häufig anzutreffen und andererseits so schwer zu fassen, d. h. zu beschreiben, zuzuordnen und letztlich zu behandeln ist wie körperliche Störungen ohne objektivierbaren organischen Befund. Deshalb ist die Zahl der bedeutungsgleichen bzw. -ähnlichen Fachbegriffe auch so groß (siehe unten). Am besten zu umschreiben und deshalb auch am ehesten zu merken sind die Fachbegriffe funktionelle Störungen bzw. Befindlichkeitsstörungen. Die wichtigsten FachbegriffeSo vielschichtig die funktionellen oder Befindlichkeitsstörungen sind, so groß ist auch die Zahl der Fachbegriffe. Die meisten stammen aus früheren Zeiten, viele sind aber auch heute noch im Umlauf. Die neuesten Klassifikationen sprechen von sogenannten somatoformen Störungen als moderner Überbegriff (vom griechischen: soma = Körper, Leib und lateinischen: forma = Form, Gestalt), also von Störungen, die sich körperlich ausdrücken, aber in Wirklichkeit keine organische, sondern seelische Ursache haben. Und man spricht von Somatisierungsstörungen, die den hier erläuterten funktionellen oder Befindlichkeitsstörungen am ehesten entsprechen. Nachfolgend aber erst einmal eine Auswahl der wichtigsten Fachbegriffe, die alle das Gleiche meinen: Seelische Störungen, die sich in körperlichen Beschwerden äußern, ohne dass sich ein organischer Befund finden lässt: Befindlichkeitsstörungen; funktionelle Störungen oder Erkrankungen; funktionelle Syndrome; Funktionsstörungen; Disstreß; Hypochondrie (falsch: hat nichts im eigentliche Sinne mit funktionellen Störungen zu tun, wird aber in der Allgemeinheit gerne gleichgesetzt); larvierte Depression; multiples Beschwerdesyndrom; multiple psychosomatische Störungen; Nervenschwäche; nervöse Erschöpfung; nervöser Erschöpfungszustand; Neurasthenie; neurasthenische Erschöpfung; Organneurose (?); Psychasthenie; psychogenes Syndrom; psycho-physischer Erschöpfungszustand; psycho-vegetatives Erschöpfungssyndrom; psychovegetatives Syndrom; Somatisation; Somatisierungsstörung (moderner Fachbegriff); somatoforme autonome Funktionsstörungen; somatoforme Störung (moderner Überbegriff); Streß-Syndrom; umschriebene differenzierte sensomotorische Konversionssymptome; undifferenziert-psychovegetative Beschwerden; undifferenzierte psychosomatische Störung; vegetative Dystonie; vegetative Labilität; vegetative Neurose; vegetative Stigmatisation; vegetativ-endokrines Syndrom. Die Begriffe, die früher am häufigsten und heute noch gelegentlich verwendet werden, sind vegetative Labilität bzw. vegetative Dystonie. Körperlich - seelisch - psychosomatischBei allen diesen Störungen handelt es sich also zum einen um ein nicht-faßbares körperliches Beschwerdebild, d.h. es ist meist "nur" die Funktion eines Organs betroffen, ansonsten liegt kein ursächlicher Schaden vor. Trotzdem - und das ist der zweite begriffliche Hinweis -, hat dieses Beschwerdebild für den Betroffenen eine spezielle Funktion, d. h. es ist nicht sinnlos und stellt sogar einen Lösungsversuch dar, wenn auch einen unzureichenden. Funktionelle Störungen werden vor allem durch seelische und psychosoziale Belastungen ausgelöst und unterhalten. Damit sind sie gleichsam der unzulängliche Bewältigungsversuch für ungelöste Konflikte. Das Leiden ist von den Betroffenen manchmal schwer zu schildern und auf ärztlicher Seite deshalb auch schwer zu fassen, auf jeden Fall kaum abgrenzbar. Die Symptome reichen von exakt lokalisierbar (z. B. Herz-, Hals- oder Kopfschmerzen) bis hin zu vagen Empfindungen, die zudem noch ständig wechseln oder wandern können. Nicht selten findet man ein diffuses Ineinanderfließen von körperlichen Beschwerden und rein seelisch empfundenen Symptomen wie Angst, Unruhe, Unlust u. a. Die meisten leiden zudem nicht nur unter einer einzigen oder wenigen Störungen/Beschwerden, wie dies bei "echten" Körperfunktionsstörungen die Regel ist. Deshalb lassen sich organische Beschwerdebilder auch relativ gut eingrenzen und erscheinen halbwegs typisch. Bei körperlichen Störungen auf seelischer Grundlage hingegen sind es meist mehrere Krankheitszeichen, manchmal sogar viele und nicht selten der erwähnte Wechsel oder das sonderbare Wandern von Arzt zu Arzt. Das macht das ganze einerseits noch quälender, andererseits auch peinlicher, denn "man kann nichts Handfestes vorweisen". Eine große Gefahr ist in diesem Zusammenhang die Chronifizierung, d. h. das Beschwerdebild droht nicht mehr zurückzugehen. Ein solcher quälender Dauerzustand mit möglicherweise auch noch wechselnden Beschwerden macht natürlich Angst, macht resigniert, niedergeschlagen, mutlos, ratlos und hoffnungslos. Daraus entsteht dann eine unselige Mischung, die die verbliebenen Selbstheilungskräfte langfristig blockiert. Ein belastetes Arzt-Patienten-VerhältnisAuch das Verhältnis zum Arzt bzw. zur Medizin schlechthin wird dadurch belastet. Die Ursachen hierfür sind bekannt: - Diagnose: Bevor man einen rein seelischen Hintergrund diagnostiziert, muß man sich sicher sein, dass es tatsächlich keine organische Ursache gibt, selbst wenn man psychische Gründe vermutet. Zum definitiven Ausschluß körperlicher Leiden müssen also immer neue Untersuchungen durchgeführt werden, weil die alten Ergebnisse entweder gar nichts erbringen oder - wie so oft - grenzwertig sind, was zu dieser oder jener weiteren Kontrolluntersuchung zwingt. So kommt es gleichsam zu einer "Aufteilung der Verantwortung" unter den Ärzten mit Überweisungen an alle möglichen Fachrichtungen oder gar Kliniken. Besonders negativ sind die Konsequenzen dieses Teufelskreises für die - Therapie: Wenn man nichts Konkretes findet, kann man auch nichts Konkretes tun. Damit ist der Patient aber nicht einverstanden. Schließlich leidet er nicht zum Spaß. Der Arzt gerät unter Druck und neigt entweder zu neuen Untersuchungen oder "unspezifischen Behandlungsvorschlägen", von denen auch der Patient merkt, dass sie eigentlich nur aus Verlegenheit, wenn nicht gar Resignation bestehen. Die Patienten fühlen sich nicht ernst genommen und vor allem ohne echte Hilfe. Auch ihr näheres und weiteres Umfeld fühlt sich nach und nach an der Nase herumgeführt und geht langsam auf Distanz. Jetzt gerät der Patient unter doppelten Druck: Er hat Beschwerden, aber keinen krankhaften organischen Befund. Vor allem kann er mit der häufigen Verlegenheitsdiagnose: "das ist nur psychisch" überhaupt nichts anfangen, wenn er diese Floskel nicht gar als Zumutung empfindet. Das gleiche gilt für alle anderen Fachbegriffe, von der "vegetativen Labilität" über das "psychovegetative Syndrom" bis zu den heutigen "Somatisierungsstörungen". Denn wenn er sich hierüber kundig macht, erfährt er schnell, dass man eigentlich nichts Genaues weiß. Und damit gerät der Betroffene in die Nähe des "Hypochonders" oder gar "Hysterikers" im negativen Sinne dieser Bezeichnungen (die ja im Grunde konkrete Krankheitsbilder sind, die nichts mit einem "Simulanten" zu tun haben). Das alles führt zu der sonderbaren Situation: Einerseits zu einem der häufigsten (wenn nicht gar dem häufigsten) Beschwerdebild im Praxisalltag, das aber andererseits sogar in Ärztekreisen umstritten ist. Das wiederum hängt einerseits mit dem Charakter des Leidens ("unspezifische Allgemeinsymptome") und seinen Betroffenen zusammen (s. später), zum anderen mit den erwähnten diagnostischen und damit therapeutischen Problemen. Manche Klinikärzte (die aber - im Gegensatz zu den niedergelassenen Ärzten - damit auch weniger zu tun und gut reden haben) halten funktionelle Störungen deshalb sogar für eine Verlegenheitsdiagnose bis hin zu dem Vorwurf: "Sammeltopf ärztlicher Insuffizienz". Doch die meisten Ärzte akzeptieren funktionelle Störungen als ein zwar schwer faßbares, jedoch häufiges Leiden, ausgelöst und unterhalten durch Konflikte im sozialen Umfeld mit entsprechenden Belastungen. Seine Intensität mag nicht so ausgeprägt sein, dass sie den Betroffenen ernsthaft behindert oder gar gefährdet, doch liegt das zermürbende dieser Entwicklung in der permanenten Belästigung, Beeinträchtigung und Behinderung im zwischenmenschlichen und beruflichen Bereich, bis hin zur Chronifizierungsgefahr. In diesen Fällen ist die Situation der Patienten besonders verfahren. Wie häufig sind funktionelle Störungen?Die Häufigkeit funktioneller oder Befindlichkeitsstörungen ist nicht exakt feststellbar. Man nimmt jedoch an, dass es sich hier um die größte aller Krankheitsgruppen handelt. In manchen Praxen geht das bis zu jedem dritten bis zweiten Patienten, in anderen sind es deutlich weniger, was erfahrungsgemäß auch mit der Einstellung des jeweiligen Arztes zu seelischen Ursachen generell zusammenhängt, was seine Patienteneinschätzung bzw. Diagnosenstellung steuert. Denn gerade funktionelle Störungen können ja auf sehr unterschiedliche Meinungen und damit Reaktionen stoßen. Doch selbst die Wissenschaft, und hier die neuesten Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), bestätigten die alte Erfahrung: Somatoforme Beschwerden (der neue Fachbegriff für das "alte" Leiden) stehen an erster Stelle der psychogenen (= rein seelisch ausgelösten) Erkrankungen. In der Allgemeinpraxis betrifft es etwa jede vierte Frau und rund jeden zehnten Mann, die deshalb ihren Hausarzt aufsuchen mußten. In manchen Studien, vor allem in den USA, sind die Zahlen noch höher. Der Altersschwerpunkt für eine solche Störung liegt in den ersten zwei Lebensdritteln, besonders zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr, also den sogenannten "besten Jahren". Im höheren Lebensalter geht die Zahl der Betroffenen deutlich zurück. Die Gründe sind unbekannt. Besonders betroffen sind anhand neuerer Untersuchungen vor allem die sozial und gesellschaftlich schlechter Gestellten sowie Ledige, getrennt Lebende und Geschiedene. Das größte Problem aber ist vermutlich die Vermischung verschiedener Krankheitsebenen: Etwa ein Drittel aller "funktionellen Störungen" sollen rein seelisch bzw. psychosozial bedingt sein. Etwa gleich groß schätzt man jene Gruppe, die teils funktionelle und teils echte organische Leiden haben, wobei sich das eine auf das andere aufpfropfen kann. Das macht auch die größten diagnostischen Schwierigkeiten und erklärt so viele endlose Durchuntersuchung. Die dritte Gruppe ist noch problematischer: Sie mag zwar "funktionell" wirken, geht aber auf organische Ursachen zurück, die sich nur lange einem sicheren Nachweis entziehen. Das BeschwerdebildWie bei vielen Krankheitsbildern kann man auch bei den funktionellen oder Befindlichkeitsstörungen bei genauem Nachfassen unterscheiden zwischen rein seelischen Beschwerden und rein körperlichen Beeinträchtigungen sowie einem psychosomatischen (bzw. psychosozialen) Mittelfeld, in das beides einfließt:
Am häufigsten finden sich derzeit Kopfschmerzen, Oberbauchbeschwerden, Ermüdung/Erschöpfung, gefolgt von Schmerzen im Bereich von Muskeln, Wirbelsäule und Gelenken, dazu Herz- sowie Magen- und Darmbeschwerden, Appetit- und Eßstörungen. Danach kommen Schweißausbrüche, "Mangeldurchblutung", Schwindel oder gar "Ohnmachtsnähe" sowie Schluckstörungen, Erbrechen/Übelkeit, Hautsymptome, Libidostörungen, Stottern und Tics, Beschwerden im Blasenbereich sowie Atemenge. Am seltensten sind Vaginismus und die ohnehin umstrittene Frigidität sowie Potenzstörungen. Zugenommen haben in den letzten Jahren offenbar die Phänomene Ermüdung/Erschöpfung, Muskel- und Gelenk- bzw. Wirbelsäulenbeschwerden, Appetit- und Eßstörungen, Schweißausbrüche, "Mangeldurchblutung" und Hautsymptome. Etwas zurückgegangen sind dafür Kopfschmerzen und Oberbauchbeschwerden, die früher eine größere Bedeutung hatten. Dauer, Zahl, Wechsel, Auslöser und PrognoseEin weiteres wichtiges Kennzeichen ist die Leidensdauer. Ein funktionelles Beschwerdebild reicht gewöhnlich bis weit in die Vergangenheit zurück. Oft können die Betroffenen gar nicht mehr angeben, wann und zu welchem Anlass es begonnen hat. Dagegen spricht eine kurze Vorgeschichte ohne Hinweis auf eine akute seelische Belastung in letzter Zeit eher für eine organische Erkrankung. Auch die Zahl der Beschwerden ist bedeutsam: je größer, desto unwahrscheinlicher, dass es sich um eine rein körperliche Ursache handelt. Denn die pflegt in der Regel mit einigen wenigen und dabei meist charakteristischen Symptomen auszukommen. Statistische Untersuchungen ergaben bei Männern mit funktionellen Störungen im Durchschnitt drei, bei Frauen vier Symptome gleichzeitig. Ein weiteres Kennzeichen ist der eigenartige Wechsel des Beschwerdebildes, in Fachkreisen als "Symptomwandel" bezeichnet. So können es beispielsweise erst einmal Kopfschmerzen sein, die dann aber in Herzschmerzen übergehen, während der Kopf wieder frei ist. Dabei zeichnet sich im Laufe der Jahre offenbar bestimmte Schwerpunkte ab: So gibt es Symptome, die häufiger auftreten und andere, die zurückgehen (Einzelheiten s. o.). Was die Prognose (also Heilungsaussichten) anbelangt, so scheint sich ein Rückgang oder gar eine vollständige Genesung nur in jedem vierten Fall abzuzeichnen. Allerdings sind dann solche, offenbar glücklicher gestellte Patienten auch nicht völlig symptom- oder beschwerdefrei. Meistens geht es nur darum, dass sie sich nicht mehr so beeinträchtigt fühlen wie zuvor. Überhaupt ist das Beschwerdebild zwar wechselnd, als Beeinträchtigung aber relativ konstant - oder kurz: Irgend etwas haben die derart Betroffenen immer. Sehr häufig entwickelt sich auch das, was man in Fachkreisen eine Co-Morbidität nennt, d. h. eine Krankheit kommt zur anderen. Das ist dann nicht nur ein Krankheitswechsel, wie oben dargelegt, sondern die gleichzeitige Belastung durch funktionelle oder Befindlichkeitsstörungen mit beispielsweise depressiven oder Angstzuständen. Wichtig ist auf jeden Fall der zeitlich halbwegs verknüpfbare Zusammenhang mit einer einschneidenden Veränderung in der jeweiligen Lebensgeschichte. "Einschneidend" heißt dabei nicht das, was "man" für belastend hält, sondern - wie erwähnt - das, was dem Patienten Angst macht oder in spezifische Nöte bringt. Das muß nicht einmal das eigene Leben betreffen, sondern kann sich auch auf Angehörige, Freunde und Bekannte erstrecken, die an ähnlichen Symptomen leiden, gelitten haben oder gar schon verstorben sind. Die (unbewußte?) Identifikation mit solchen Personen ist ein relativ häufiger Auslöser, muß aber gezielt erfragt werden. Vom Patienten selber kommt kaum ein entsprechender Hinweis. Ursachen und VerlaufEin großes Problem ist der Umstand, dass viele dieser Beschwerden den meisten Menschen aus eigener Erfahrung bekannt sind, ohne dass man ihnen einen Krankheitswert zugesteht. So bleibt es erst einmal unklar, weshalb manche Patienten mit funktionellen Störungen dieses Leiden mit einem solch hartnäckigen und meist heftigen Krankheitserleben koppeln, denn die reale Intensität der Symptome spielt offenbar keine entscheidende Rolle. So machen die Ärzte immer wieder die Erfahrung, dass Krankheitszeichen mit nachweisbarem organischem Hintergrund oftmals weniger beklagt werden als psychosomatisch interpretierbare Symptome, je nach Wesensart und Vorgeschichte. Auch dies ist ein Punkt, der im Laufe der praktischen Erfahrung in Klinik und Praxis immer vorsichtiger werden läßt. Auf den äußeren Aspekt kann man sich offenbar nicht verlassen. Deshalb empfiehlt sich gerade bei den funktionellen Störungen zwischen 1. genetischen (erblichen und konstitutionellen), 2. disponierenden (im Verlauf der Entwicklung erworbenen) und 3. auslösenden Faktoren zu unterscheiden: Über Erbfaktoren gibt es noch wenig gesichertes Wissen. Offenbar wurde aber bisher dieser biologische Hintergrund zu wenig berücksichtigt. Was die Disposition (allgemeine Veranlagung) anbelangt, so spielen vor allem zwischenmenschliche Beziehungen in der Kindheit, insbesondere das familiäre Milieu eine Rolle. Es wird häufig als unflexibel, starr, sozial überangepaßt, durch belastende Ereignisse beschwert geschildert. Folgenschwer sind auch uneheliche Geburt, konfliktreiche Beziehungen der Eltern, gehäufte Abwesenheit oder körperliche, vor allem aber seelische Erkrankungen der Mutter sowie überzogene elterliche Erwartungen, bestimmte Erziehungsbilder und eine mangelhafte Angst-Verarbeitung. Eine stets anzutreffende einheitliche Persönlichkeitsstruktur läßt sich bei diesem Krankheitsbild nicht erkennen. Wahrscheinlich können bei entsprechenden Belastungen viele Menschen ein funktionelles Syndrom entwickeln. Allerdings findet man bei den Betroffenen gehäuft Unsicherheit und Kontaktschwierigkeiten als Ausdruck eines gestörten Selbstwerterlebens. Viele bemühen sich geradezu extrem um eine kompensatorische Anpassung, um gleichsam durch Leistung Zuneigung und Anerkennung zu sichern. Das provoziert natürlich bei jeder unklaren Anforderung Angst, insbesondere Versagens- und Zukunftsängste. Auch ist für viele überangepaßte Menschen jegliche Änderung beunruhigend. Doch das einzig Konstante ist bekanntlich der Wechsel. Es gibt also ständig Gründe, "funktionell" zu reagieren. So können schon geringfügige Gesundheitsstörungen, die bisher kaum beachtet wurden, unter entsprechenden zwischenmenschlichen Bedingungen plötzlich Krankheitswert erlangen und zwar nicht durch echte organische Fehlfunktionen, sondern durch Überforderung, Belastung, Erschöpfung, verminderte Anpassungsstörung und Schicksalsschläge. Außerdem gibt es so viele Konfliktmuster wie Betroffene, denn jeder hat seinen individuellen Lebens-, Schicksals- und Leidensweg. Allerdings fällt eines immer wieder auf, nämlich ständige Enttäuschungen (real oder so empfunden) im zwischenmenschlichen Bereich. Allerdings muß man sich auch vor allzu einseitigen Schuldzuweisungen hüten. Dies betrifft besonders die Stellung der Mutter. Sie hat natürlich einen ganz anderen Stellenwert als der Rest der Familie. An ihr bleiben so gut wie alle Aufgaben hängen. Kein Wunder, dass sie dann in negativer Hinsicht auch besonders belastet wird. So ist es zwar wichtig, diese familien-psychologischen Erkenntnisse zu berücksichtigen, aber auch immer wieder zu hinterfragen. Sonst schafft man sich nur bequeme Sündenböcke, die die mühselige Suche nach anderen Ursachen entbehrlich machen. Die Folgen einer funktionelle Störung aus psychologischer SichtDie meisten Betroffenen mit einer funktionellen oder Befindlichkeitsstörung haben nie gelernt, ein gemütsmäßig gesundes Verhältnis zu nahen Bezugspersonen und damit auch zu allen anderen aufzubauen. Ja, sie sind in eine lähmende und angstmachende Abhängigkeit geraten. Dies wird genährt durch eine dauerhafte Ambivalenz zwischen Anklammerungswünschen einerseits und Furcht vor Abhängigkeit und Einschränkung andererseits. Nur selten wurden sie ermuntert, eigene Lösungen zu finden, da sie schon in früher Kindheit erfahren mußten, dass doch niemand hilft. So haben sie sich in ein gleichsam irreales Leidensbild hineintreiben lassen, das ihnen Ersatz bieten soll. Krankheit heißt Hilfe, auch wenn es sich nur um eine einseitige und vor allem nur durch ständige dramatische Demonstrationen gesicherte Zuwendung handelt. Und das wissen die Betroffenen auch, weshalb sie sich einerseits schämen, andererseits aber Angst davor haben, diese Art der Zuwendungs-Sicherung in Frage zu stellen, mit der sie z. B. ihre Umgebung einigermaßen "im Griff halten". Vieles bleibt auch lange verdeckt, d. h. unbewußt, bis eine "Krisensituation" die Fassade zum Einsturz bringt. Jetzt bricht auch der alte, ungelöste Grundkonflikt aus, und zwar zwischen Versorgungswünschen und Abhängigkeitsgefahr einerseits sowie dem Wunsch, endlich einmal selbständig zu werden. Solche Krisen oder "Schwellensituationen des Lebens" sind beispielsweise Examen, Heirat, Wohnortwechsel, ja beruflicher Aufstieg, Geburt oder Selbständigwerden der Kinder usw. Dabei kommt es weniger auf das Ereignis an sich an, mehr auf den individuellen Bedeutungsgehalt, der natürlich den meisten in der irritierten Umgebung auch nicht bekannt ist. Vorbeugung und Therapie"Die beste Therapie ist eine rechtzeitige Vorbeugung", lautet die bekannte Ermahnung. Dies gilt vor allem für die funktionellen Störungen. Eine komprimierte Übersicht über einige Vorbeugungsempfehlungen gibt der folgende Kasten.
o Eine Psychotherapie also seelische Behandlungsmaßnahmen im eigentlichen Sinne (z. B. Verhaltenstherapie, tiefenpsychologische Verfahren, Gesprächspsychotherapie) wird wohl nur selten zustande kommen, obgleich sie oftmals heilsam wäre. Das hängt nicht zuletzt mit der mehrfach erwähnten psychologischen Situation zusammen, die die Entwicklung einer funktionellen Störung begünstigt. Gleichwohl sind einige allgemeine Erkenntnisse günstig, die es zu kennen und zu nutzen gilt: Zum einen muß man sich von dem zwar weit verbreiteten, aber verhängnisvollen Irrtum freimachen, dass die Diagnose "psychisch" eine Kränkung, ja Diskriminierung sei. Dies liegt einerseits an der Gleichsetzung von "psychisch krank" mit "geisteskrank", der gerade unter Laien gefürchtetsten Bezeichnung was den seelischen Bereich angeht. Unabhängig davon, dass diese negative Wertung heute auch für Psychosekranke (also Geisteskranke) nicht mehr gilt, ist sie für funktionelle Störungen ohnehin nicht zutreffend. Hier würde man eher von psychosomatisch interpretierbaren Beschwerden sprechen, also von seelischen Störungen, die sich körperlich äußern - und zwar nur, weil sie nicht konsequent psychisch verarbeitet wurden. Außerdem muß man sich einmal die Statistik vorstellen, die besagt: Jeder 4. bis 3. Bürger in unserer Gesellschaft war, ist und wird noch einmal seelisch krank sein. Bei einer solch gewaltigen (Millionen-)Zahl muß man sich wahrhaftig nicht als Außenseiter empfinden. Man kann fast sagen: "Seelische Störungen gehören inzwischen zum Alltag." Das ist zwar alles andere als ermutigend, aber auch kein Grund, sich ausgegrenzt oder allein zu fühlen. Ein in der Tat großes Problem bei funktionellen Störungen ist die lange Unklarheit, um was es sich nun eigentlich wirklich handelt: Ist es organisch, und wenn ja, was? Ist es seelisch, und wenn ja, wie folgenschwer? Oder ist es gar - aus der Sicht der zermürbten Umgebung, ggf. auch mancher Ärzte - die erwähnte "hypochondrische" oder "hysterische" Reaktion, vielleicht sogar Simulation, auf jeden Fall ein "eingebildeter Kranker", der sich und andere unnötig belastet? Hier ist die Aufklärung das wichtigste. Dabei muß klar werden, dass funktionelle Störungen nicht nur ausgesprochen häufig sind, gesamthaft gesehen ggf. so häufig wie alle anderen seelischen Störungen zusammen, und dass es sich um kein "sonderbares Leiden", sondern um den allgemein mangelnden Kenntnisstand über die krankhaften Zusammenhänge zwischen Seele und Körper handelt. Bei Patienten, deren Beschwerden auf ein faßbares Ereignis zurückgehen, erreicht man mit entsprechender Betreuung am meisten. Dort, wo es sich um eine neurotische Grundkrankheit handelt, die sich in psychosomatischen Symptomen äußert, ist eine zumindest mittelfristige Psychotherapie am erfolgreichsten. Am schwierigsten stellen sich jene Betroffene, oder die den Zusammenhang zwischen ihrem Beschwerdebild und bestimmten emotionalen Problemen nicht sehen können oder wollen bzw. denen der Zugang zu ihrem Gemütsleben überhaupt verschlossen bleibt. Aber selbst hier gibt es erfolgversprechende Therapiemöglichkeiten. Zuhören ist überhaupt eine der wirkungsvollsten Maßnahmen, und das kann (fast) jeder lernen. Freilich ist es auch eine Frage der Geduld, des echten Mitgefühls, der Selbstlosigkeit. Und das wird selten. Heute hört fast keiner mehr hin, setzt aber voraus, dass man sich für seine eigenen Sorgen ausgiebig interessiert. Wer sich hier aber bemüht, kann in der Tat eine große Hilfe sein, und zwar sowohl generell als auch in der speziellen Situation funktioneller Störungen. Die Heilungsaussichten sind deshalb meist günstig, zumindest im Laufe des Rückbildungsalters (also im letzten Lebensdrittel). Dort beruhigt sich ohnehin einiges (und bezüglich funktioneller Störungen gilt der fast ironische Satz: Da braucht es keine Befindlichkeitsstörungen mehr, da gibt es dann genügend echte organische Leiden ...). In der Regel lernen aber die meisten Betroffenen sich mit ihrem Leiden einigermaßen zu arrangieren. Kernpunkt ist die Erkenntnis: Es sind nicht die Organe, die erkrankt sind, es ist die "Organ-Sprache" der Seele, die sich sonst nicht ausreichend Gehör zu verschaffen vermag. o Pharmakotherapie: Das, was bei funktionellen Störungen letztlich am meisten gefordert und wohl auch eingesetzt wird, mit und ohne ärztliche Betreuung, ist eigentlich - ursächlich gesehen - am wenigsten sinnvoll: Beruhigungs-, Schlaf- und Schmerzmittel. Und als Selbstbehandlungsversuch Alkohol, Nikotin und Koffein. Medikamente sind zwar "die letzte Rettung" und meist - zumindest anfangs - auch erfolgreich. Aber wer nur dämpft, "abschottet", künstlich aktiviert usw., ändert nichts an den Ursachen und untergräbt sogar die Motivation, das Übel aus eigener Kraft an der Wurzel zu packen. Deshalb ist nachfolgende Kombination günstiger: Letzteres darf kein Dauerzustand werden, ganz abgesehen davon, dass z. B. die angst- und spannungslösenden Tranquilizer und ein Teil der damit verwandten Schlafmittel abhängig machen können (desgleichen auch viele Schmerzmittel). Nicht falsch ist der Versuch, erst einmal mit psychotropen Phytopharmaka (Pflanzenheilmitteln mit Wirkung auf das Seelenleben) zu beginnen, wenn sich eine medikamentöse Behandlung als unerläßlich erweist. Das sind das stimmungsaufhellende Johanniskraut, das angstlösende Kava-Kava bzw. das vergleichbare, aber synthetisch hergestellte Kavain sowie die beruhigenden und mild schlaffördernden Pflanzenheilmittel Baldrian, Melisse, Hopfen und Passionsblume, letztere in der Regel als Kombinationspräparate. Doch auch Phytopharmaka wie diese sollten nur unter ärztlicher Kontrolle eingesetzt werden, vor allem bei den neueren Präparaten. Denn diese sind nicht nur wirkungsvoller und höher dosierbar, sie können damit auch mehr Nebenwirkungen sowie Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten entwickeln, mehr als bisher bekannt (z.B. Johanniskraut und Kava-Kava). AusblickInsgesamt betrachtet sind die funktionellen oder Befindlichkeitsstörungen zum einen häufig, zum anderen mehr lästig als gefährlich, und letztlich in einer Art Gesamtbehandlungsplan zu mildern, so dass sie erträglich bleiben oder werden. Das setzt allerdings voraus, dass man sie nicht nur als eine Art "versteckte Hypochondrie" abtut, sondern ernst nimmt und Verständnis signalisiert. Das läßt sich beispielsweise durch eine ganz einfache Maßnahme erreichen, die allerdings in letzter Zeit an Bedeutung verliert: Man höre einfach einmal zu. Aber auch die Betroffenen müssen ihren Beitrag leisten. Dafür gibt es eine Reihe von Empfehlungen, wie sie weiter oben geschildert werden, die ebenfalls nicht hoch im Kurs stehen, und zwar vor allem deshalb, weil sie eine kontinuierliche Eigenleistung erfordern. Funktionelle oder Befindlichkeitsstörungen wird es immer geben. Man kann sich sein Schicksal nicht aussuchen. Man kann aber durchaus etwas dagegen tun. LiteraturUnüberschaubare Fülle wissenschaftlicher Publikationen unter verschiedenen Fachbegriffen, bis in die heutige Zeit. Grundlage vorliegender Ausführungen ist das Kapitel Funktionelle oder Befindlichkeitsstörungen aus: V. Faust: Seelische Störungen heute - wie sie sich zeigen und was man tun kann, Verlag C.H. Beck, München 1999 |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |