Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
KAFFEE: WENN EIN GENUSSMITTEL ZUM SUCHTMITTEL WIRDVom "schwarzen Muntermacher" zum Coffeinismus?
Mit 160 Litern pro Person und Jahr ist Kaffee - früher ein teures Vergnügen - heute Alltagsgetränk und flüssiges Genussmittel Nr. 1 in Deutschland, das den Bierkonsum überflügelt hat. Die meisten Kaffeeliebhaber machen sich zwar keine Gedanken, einige aber sehr wohl - und das nicht zu Unrecht. Denn Kaffee hat es in sich, im wahrsten Sinn des Wortes. Über 1.000 unterschiedliche Inhaltsstoffe lassen sich in ihm finden. Coffein ist nur eine Substanz davon und findet sich zudem nicht nur im Kaffee-, sondern auch im Teestrauch, in bestimmten Nüssen, in Kakao usw. Coffein ist inzwischen auch synthetisch herstellbar (vor allem für bestimmte Medikamente, insbesondere Schmerzmittel). Auf jeden Fall gibt es erhebliche Unterschiede, je nach Kaffee, Schwarztee, Cola-Getränken oder coffeinhaltigen Medikamenten (siehe Kasten).
Die Vorzüge des Kaffees Nun werden dem "schwarzen Muntermacher" aber nicht nur positive Effekte zugeschrieben. Diese sind allerdings überzeugend, vom Duft und Geschmack einmal ganz abgesehen: Kaffee steigert die Vigilanz (Wachheit), d.h. verbessert Konzentrationsleistung und Merkfähigkeit, insbesondere das Kurzzeitgedächtnis. Kaffee fördert auch den Gedankenfluss und die schnellen Assoziationen (gedanklichen Verknüpfungen), hebt die Stimmung, verbessert den Antrieb, kurz: aktiviert auf der ganzen Ebene (was sich auch tatsächlich nachweisen lässt und nicht von jeder anregenden Substanz gesagt werden kann). In körperlicher Hinsicht erweitert Coffein die Herzkranzgefäße und stimuliert damit den "Motor des Organismus", entfaltet die Bronchialmuskulatur (womit mehr Luft und vor allem Sauerstoff in die Lunge und später in den gesamten Organismus einschließlich Gehirn gepumpt werden), regt die Gallenblasensekretion an usw. In Verruf geraten ist Coffein durch seine vermeintliche magenreizende Wirkung. Doch das ist nicht das Coffein, sondern bestimmte Reizstoffe, die während des Röstvorgangs entstehen. Coffeinfreier Kaffee gilt sogar als noch stärker belastend wie coffeinhaltiger. Deshalb arbeitet man intensiv an bestimmten Veredelungsgefahren vor der Röstung, um den verantwortlichen Gehalt von Chlorogensäure zu vermindern. Vorsicht ist jedoch geboten bei bestimmten Herzerkrankungen (z.B. Herzrhythmusstörungen), bei Leberzirrhose (Abbauhemmung des Coffeins in der Leber), bei Schilddrüsenleiden und Magen-Darm-Störungen (Verstärkung entsprechender Beschwerdebilder). Auch weiß jeder Angstpatient, dass er mit Kaffee seine unangenehmen Angstzustände, vor allem mögliche Panikattacken verstärken oder gar auslösen kann. Bei einigen Krankheitsbildern soll Kaffee sogar eine lindernde oder vorbeugende Wirkung entfalten. So wurde beobachtet, dass Kaffeetrinker seltener Blasenkarzinome entwickeln und auch bei Parkinson-Kranken scheint die Erkrankung langsamer fortzuschreiten. Selbst Kontrazeptiva (Empfängnisverhütungsmittel) werden zusammen mit Kaffee offenbar besser resorbiert. Die Wirkung des Kaffees entfaltet sich zwar etwas langsamer als bei den kohlendioxid-haltigen Cola-Getränken, doch ist nach einer halben Stunde die maximale Konzentration im Blut erreicht, was etwa drei bis fünf Stunden anhalten kann (bei Schwangeren noch länger, deshalb dort den Kaffeekonsum einschränken!). Vom Konsum zum Coffeinismus Kaffee bzw. Coffein kann aber schon ohne Missbrauch seelische und körperliche Probleme machen: So drohen - vor allem bei entsprechender Neigung oder Überlastung - nicht nur vermehrte Unruhe, Anspannung und Nervosität, sondern auch Reizbarkeit, Aggressivität, Angstzustände, depressive Verstimmungen u.a. Und in körperlicher Hinsicht Händezittern, Muskelzuckungen, Herzrasen, Herzklopfen oder Herzstolpern, erhöhte Atemfrequenz, ggf. sogar Atemnot, ferner Magen-Darm-Beschwerden, Kopfdruck und vor allem Schlafstörungen. Bei einer Überdosis, und das kann sehr subjektiv und damit unkalkulierbar ausfallen, je nach zusätzlicher Belastung, nehmen Unruhe, Nervosität und Ruhelosigkeit zu. Der Betroffene wird fahrig, gespannt, wirkt überdreht, kämpft gegen Angstzustände, wird von Schlaflosigkeit gepeinigt und klagt nicht nur über die bereits erwähnten Magen-Darm-Beschwerden, Kopfschmerzen und innere Unruhe mit innerlichem Beben und Zittern, sondern auch über Schwindel, Brechreiz, Durchfall, Ohrenklingen, Lichtblitze usw. Im Extremfall beeinträchtigen Erregungszustände, Sinnestäuschungen, Verwirrtheit und in körperlicher Hinsicht Muskelzuckungen und -schmerzen, ernstere Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck, Koordinationsstörungen (Schwierigkeiten beim Zusammenspiel der Bewegungen), Atemnot, Temperaturanstieg usw. Im Endzustand drohen Krampfanfällen, Muskellähmungen, Schock, Herz- und Kreislaufversagen sowie Atemlähmung. Man nimmt allerdings an, dass schon zwischen 40 bis 240 Tassen Kaffee konsumiert werden müssen, bis es durch Kaffee (und nicht beispielsweise coffeinhaltige Arzneimittel oder andere Zubereitungsarten) zum tödlichen Ausgang kommt. Entzugserscheinungen schon beim normalen Konsum? Kaffee kann seelisch und körperlich abhängig machen. Damit ist es nicht nur ein Genussmittel, sondern auch ein Genussgift. Das ist weitgehend bekannt, wird allerdings in der Regel nicht ernst genommen. Zumeist ist es auch kein Problem. Allerdings sollte man sich auch nichts vormachen. Denn Kaffee oder konkreter Coffein wird ja wie alle Suchtmittel in den Stoffwechsel des Organismus, insbesondere des Gehirns eingebaut. Dort nimmt es dann seine Funktionen wahr (z.B. Anregung, verbesserte geistige Leistungsfähigkeit, Stimmungshebung) - und wenn es fehlt, dann meldet der Organismus das Defizit eben auch an. Je nach gewohnter Dosis und individuellen Faktoren kann er sogar rebellieren, auch beim Kaffee, und zwar nicht gering. So etwas nennt man dann Abstinenz- oder Entzugserscheinungen. In leichterer Form ist das schon ohne eindeutige Abhängigkeit möglich. Die Betroffenen sind - mit unterschiedlichem Schwerpunkt - irgendwie resigniert, niedergeschlagen, schwunglos, ängstlich, leicht irritierbar, müde, schläfrig, klagen über verminderte Leistungsfähigkeit und Arbeitsunlust. Manche sind auch ruhelos-getrieben, leiden unter Kopfdruck u.a.
Wer also meint, er sei von "seiner gewohnten Kaffeedosis" nicht abhängig (das Wort süchtig würde man in diesem Falle gar nicht in den Mund nehmen wollen), der wiederhole einfach das allmorgendliche Experiment: Verzicht, bis man spürt, was fehlt - und dann aber auch realisieren, was täglich zugeführt werden muss. Wie sieht ein Coffeinismus aus? Der Coffeinismus, also ein überzogener Konsum oder gar Missbrauch von Coffein ist in verschiedenen Formen möglich: - Zum einen als Genussmittel wie beim Kaffee, ggf. auch bei Tee oder Cola-Getränken. - Zum anderen aber auch in Kombinations-Medikamenten (meist Schmerzmittel mit Coffein) oder gar reinen Coffein-Tabletten. Die dienen übrigens nicht nur der Leistungssteigerung und Stimmungshebung, sondern bei älteren Menschen auch als paradoxes Schlafmittel durch Blutdruckstabilisierung. Wie hoch die Dosis sein muss, um von einem Coffeinismus zu sprechen, ist umstritten. Bei Arzneimitteln lässt sich dies wahrscheinlich besser klären, bei Kaffee spricht man von einem Grenzwert von 6 bis 10 Tassen pro Tag, wobei manche Experten die Dosis ständig nach oben korrigieren. Aber das ist - wie erwähnt - ein kontrovers diskutiertes wissenschaftliches Thema (das zudem auch unter Wissenschaftlern davon abhängt, wie hoch deren Konsum selber ist...). Das Beschwerdebild ähnelt einer Überdosierung (siehe oben), nur eben mit entsprechender Häufung der dort beschriebenen Extremzustände. Gefährlich wird es vor allem bei Verwirrtheitszuständen mit Personenverkennung, bei Erstickungsangst, Lähmungen, epilepsieartigen Krämpfen, Bluthochdruck, Herzrasen bzw. -stolpern, und natürlich bei der Gefahr von Schock, Kollaps, Herz- und Kreislaufversagen. Wo findet sich der Coffeinismus am häufigsten? Missbrauch und Sucht von Coffein in jeglicher Form findet sich nicht nur bei Fernfahrern, Nachtarbeitern, Examenskandidaten, bei Kellner und Akademikern generell, sondern auch bei sportlich Aktiven mit begrenzten bzw. nachlassenden körperlichen Reserven. Und hier vor allem beim altersbedingten Leistungsrückgang, der nicht akzeptiert, sondern chemisch hinausgezögert oder überspielt werden soll (z.B. bei Volksläufen und Fahrrad-Rallyes). Und in zunehmenden Maße auch bei Langzeit-Partys ("Coffie-Partys"), wofür immer häufiger Coffein-Tabletten am Abend zuvor (aus der Apotheke?) bezogen werden. Exzessiver Kaffee-Konsum wird z.B. zur Aktivierung und Stimmungsaufhellung praktiziert von Patienten mit Depressionen, Ess-Störungen, Psychosen und natürlich von Drogenabhängigen. Als Ersatz für Rauschdrogen, z.B. in Vollzugsanstalten ("Kaffee-Peitsche", mitunter sogar in die Venen gespritzt), bisweilen auch in Suchtabteilungen und Drogenfachkliniken. In psychiatrischen Kliniken wird Kaffee gerne von Psychose-Erkrankten zur Milderung bestimmter Nebenwirkungen durch Neuroleptika (Antipsychotika) ge- bzw. missbraucht. Schlussfolgerung Die "segensreichen Wirkungen des schwarzen Muntermachers" sollen nicht in Zweifel gezogen oder gar verteufelt werden. 160 Liter pro Person und Jahr allein in Deutschland sprechen für sich. Aber es ist auch nicht falsch, sich Rechenschaft abzulegen über eine künstliche, weil chemische Aktivierung, selbst auf der Grundlage eines allseits geschätzten und gesellschaftlich integrierten Genussmittels - und das mit Recht. Besonders wenn die Grenze zur individuellen Überdosierung erreicht bzw. überschritten ist, vom Coffeinismus ganz zu schweigen. Und wie kann man sich klar machen, ob man bereits darauf angewiesen ist? Ganz einfach: Man schiebt, wie erwähnt, am besten die am Morgen gewohnte Kaffeedosis einmal auf - und wartet auf die Folgen: seelisch, körperlich, psychosozial. Wenn man es nicht selber merkt, frage man seine Umgebung. Dann zeigt sich, wie weit man bereits "drin hängt". Ob jetzt Konsequenzen angezeigt sind, ist eine andere Frage. Entscheidend ist erst einmal das Erkennen und Anerkennen einer Wirkung, die viele schätzen, aber bisher nur wenige richtig einzuschätzen vermögen. "Genuss ohne Reue" setzt immer "Genuss mit Kenntnis" voraus. Das dann ernüchternde Wissen bietet zwar von sich aus noch nicht die Lösung, hilft aber wenigstens so manches auf Normalmaß zu regeln. LITERATUR: Interessantes, wenngleich von der Allgemeinheit nicht ernst genommenes Thema mit einer Reihe wissenschaftlicher Publikationen, aber nur begrenzter Fach- und vor allem Sachbuch-Literatur. Grundlage vorliegender Ausführungen sind: APA: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen - DSM-IV. Hogrefe-Verlag für Psychologie, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle 1998. Faust, V., H. Baumhauer: Medikamenten-Abhängigkeit. In: V. Faust (Hrsg.): Psychiatrie - Ein Lehrbuch für Klinik, Praxis und Beratung. Gustav-Fischer-Verlag, Stuttgart-Yena, New York 1996 Poser, W., S. Poser: Medikamente-Missbrauch und Abhängigkeit. Thieme-Verlag, New York 1996 Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt. |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |