Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
DEPRESSION IM KINDER- UND JUGENDALTERKurzgefasste Übersicht
Wenn man an Depressionen denkt, hat man vor allem einen älteren Menschen vor Augen. Doch das ist ein Irrtum. Depressionen gibt es in jedem Lebensalter. Ältere kommen zwar in manchen Studien etwas häufiger vor, wohl aber vor allem deshalb, weil sie eher den Arzt konsultieren, entsprechend diagnostiziert und behandelt werden – und damit öfter in die Statistik eingehen. Auch im mittleren Lebensalter, den so genannten „besten Jahren“ oder moderner ausgedrückt: der „Rush Hour des Lebens“, soll eine wachsende Zahl betroffenen sein. Doch die geht eher nicht zum Arzt. Das verzerrt das Bild. Auf jeden Fall sind die „besten Jahre“ in Bezug auf depressive Beeinträchtigungen keinesfalls die besten. Und wie steht es mit den Heranwachsenden, Jungendlichen oder gar Kindern? Da muss man ebenfalls umdenken. Nicht jedem ist eine unbeschwerte Kindheit und heitere Jugend beschert. Wenn es Depressionen in jedem Lebensalter gibt, dann machen sie auch nicht vor den Jüngsten halt. Aktuelle Klassifikation der Depression Doch je jünger die Patienten sind, desto mehr unterscheiden sich ihre Krankheitszeichen einer Depression von der „klassischen Symptomatik“ im Erwachsenenalter. Minderjährige leiden anders, das war schon früheren Psychiatern bekannt (obgleich die Kinder- und Jugendpsychiatrie noch ein recht junges Fach ist, etwa ein halbes Jahrhundert alt). Zuerst aber die klassifikatorischen Voraussetzungen, wie heute depressive Zustände diagnostiziert und nach Schweregrad und Verlauf eingeteilt werden. Dabei gibt es vor allem zwei große Institutionen, auf die in dieser Serie schon mehrfach hingewiesen wurde: Zum einen das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen in 4. Auflage (DSM III-TR) der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA). Es gilt in den USA und in vielen anderen Nationen und wird weltweit vor allem in wissenschaftlicher Hinsicht genutzt. Administrativ verpflichtend, besonders in Europa und damit auch in Deutschland aber ist die Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Im ICD-10 wird die Depression unter den affektiven (Gemüts-)Störungen klassifiziert. Der Schweregrad unterteilt sich in leichte, mittelgradige und schwere depressive Episoden oder rezidivierende (erneut auftretende) depressive Störungen, eventuell mit psychotischen Symptomen (s. u.). Die depressiven Krankheitszeichen müssen mindestens 2 Wochen bestehen. Von einem Rezidiv (Rückfall) spricht man nach einem mindestens 2-monatigen beschwerdefreien Intervall. Auszuschließen sind organische (körperliche) Grunderkrankungen sowie der Missbrauch psychotroper Substanzen (Alkohol, Rauschdrogen, Medikamente) als primäre Ursache. Als Leitsymptome der Depression nach ICD-10 gelten
Depressionen bei Minderjährigen Wie unterscheiden sich nun depressive Störungen im Kindes- und Jugendalter von denen der Erwachsenen? Das fassen die Kinder- und Jugendpsychiater Frau Professor Dr. Claudia Mehler-Wex und Herr Dr. Michael Kölch von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universität Ulm in ihrem interessanten Beitrag im Deutschen Ärzteblatt 9 (2008) 149 zusammen. Sie schreiben: Depressive Symptome bei Minderjährigen sind stark alters-abhängig, d. h. nicht nur gegenüber den Erwachsenen, sondern auch im eigenen Alters-Bereich. Hier ist nämlich zu differenzieren in Kleinkind, Vorschulkind, Schulkind und Jugendlicher. Im Einzelnen:
Gemeint ist ein (vor allem bei Eltern, Pflegepersonal und sogar Ärzten täuschendes) Überwiegen körperlicher Symptome; scheinbar rein-körperlich, in Wirklichkeit aber seelisch ausgelöst und unterhaltend, wenn auch in der „Körper-Sprache“ des Kleinkindes (deshalb auch psychosomatisch genannt: seelische Belastungen äußern sich körperlich, aber ohne organischen Grund). Welches sind nun die wichtigsten körperlichen Störungen im Rahmen einer Kleinkind-Depression? Vor allem Ein- und Durchschlafstörungen sowie Ess-Störungen; und hier vor allem eine Ess-Verweigerung mit Gewichtsverlust. Interessant auch eine erhöhte Infekt-Anfälligkeit (ständiges „Kränkeln“). Die „larvierte Depression“ des Kleinkindes beunruhigt also besonders durch Appetit-, Schlaf-, Gedeih- und Entwicklungsstörungen oder Bauchschmerzen. Der Kinderarzt findet keinen krankhaften Befund. Er fragt aber vielleicht nach seelischen Symptomen und verweist dann auf den Kinder- und Jugendpsychiater. Und den interessieren dann vor allem weitere mögliche Symptome wie Unruhe, Weinen und Schreien. Dazu Desinteresse, Passivität, Apathie (Teilnahmslosigkeit), mangelnde Ausdrucksfähigkeit, immer wieder auftretende Wein-Attacken, in der Regel ohne Grund, leichte Irritierbarkeit (schnell durcheinander zu bringen) und Agitiertheit (unruhig, nervös, gespannt). Interessant, dass nicht nur depressive Erwachsene über den Rückgang von Kreativität und Leistungsfähigkeit klagen, man findet dies auch schon beim Kleinkind. Denn auch seine Kreativität ist – im Rahmen seiner Möglichkeiten – reduziert; die Fantasie verblasst, die Ausdauer nimmt ab. Dafür nimmt vielleicht eine ungewöhnliche Anhänglichkeit, ja sogar Albernheit zu. Und ein vermehrt selbst-stimulierendes Verhalten in jeglicher Form („sich in seinem kindlichen Elend selber belohnen“).
Rein äußerlich fällt aber noch etwas anderes auf, nämlich eine Hypomimie, wie es die Experten nennen, d. h. eine Verarmung der Mimik, vielleicht sogar bis hin zur maskenhaften Starre. Auch die übrigen Bewegungsmuster, ob die Gestik im Speziellen oder generell verarmend, es dominiert eine eigenartige Passivität. Und die erstreckt sich auch auf den seelisch-geistigen Bereich im Sinne von Introversion (Innenschau, in diesem Fall aber krankhaft einseitig und andauernd auf sich selbst bezogen) und Interesselosigkeit (nichts macht mehr Spaß, nichts interessiert, nichts motiviert). Unter diesem Aspekt stellt hier nicht nur der Arzt, sondern schon zuvor die besorgte Umgebung eine soziale und kognitive Entwicklungsverzögerung fest, d. h. zwischenmenschlich und geistig geht es nicht mehr voran. Dafür schiebt sich eine eigenartige Aufmerksamkeits-Suche in den Vordergrund, d. h. nicht nur die Anhänglichkeit des Kleinkindes, sondern eine ungewöhnliche bis lästige Art, im Mittelpunkt stehen zu wollen. Unverändert auch das selbst-stimulierende Verhalten (Fachbegriff: Autostimulation, z. B. im sexuellen Bereich). In körperlicher Hinsicht findet sich der bereits erwähnte motorische Entwicklungsrückstand (d. h. die Entwicklung der Bewegungsmuster, die ständig Fortschritte machen sollten, lässt zu wünschen übrig). Auch die sprachliche Entwicklung macht eher Rück- statt Fortschritte (Fachbegriff: regressiver Sprachgebrauch). Und es finden sich so genannte sekundäre Enuresis (Einnässen), wenn nicht gar Enkopresis (Einkoten). Sekundär deshalb, weil es sich nicht um organische (d. h. primäre) Ursachen, sondern um eine Depression handelt; wir erinnern uns: seelische Krankheiten lösen auch organische Störungen aus, und zwar ohne krankhaften Befund.
In geistiger Hinsicht mehren sich die Merk- und Konzentrationsstörungen, nunmehr auch mit schulischen Konsequenzen, bis hin zu Leistungseinbruch und damit Schulversagen. Dafür vereinnahmen unnötige Sorgen, Kümmernisse, Probleme mit wachsendem Gedankenkreisen: sinnlos, vor allem zu dem später besonders häufig beklagten „Problem-Grübeln“ ausufernd. In diesem Zusammenhang kann es dann zu den ersten folgenschweren Überlegungen kommen, ob dieses Leben überhaupt noch lebenswert ist. Das verstärkt die Suche nach Zuwendung, Halt, Stützung, Trost, Verfügbarkeit. Unter den körperlichen Beschwerden (wohlgemerkt: ohne organischen Befund) nach wie vor Schlafstörungen und Ess-Störungen. Es können aber auch andere somatische (körperliche) Beschwerden auftreten: Kopf, Herz-Kreislauf, Magen-Darm, Wirbelsäule und Gelenke (in der Regel aber erst im Erwachsenenalter so richtig quälend).
In körperlicher, treffender: psychosomatischer Hinsicht vor allem Schlaf- und Ess-Störungen und eine Reihe psychosomatisch interpretierbarer Beschwerden (s. o.); jetzt aber vermehrt auch Früherwachen (und nicht nur Ein- und Durchschlafstörungen), Morgentief („Morgengrauen“ mit Angst vor dem kommenden Tag, Berg auf der Brust und Hoffnungslosigkeit) sowie eine durchgehende Unfähigkeit zur Entspannung und damit Erholung. Ein besonderes Problem im Jugendalter, d. h. während der Ausbildung und damit in einer zwischenmenschlich eigentlich aktiven Zeit sind Leistungseinbußen, vor allem der erwähnte Interessen- und Antriebsverlust, sozialer Rückzug, Zukunftsängste, die Suizidalität. In einer Art sinnlosem „Rund-um-Schlag“ aufgrund schwindender Frustrationstoleranz kommt es vermehrt zu Unmut, Miss-Stimmung, Reizbarkeit, ja Jähzorn („schuld sind die anderen“); gelegentlich auch bisweilen fast hysterisch anmutende Verhaltensweisen. Interessant nicht nur die erwähnten Ängste, sondern zunehmend zwanghaft erscheinende Handlungen. Da die Krankheit alles absorbiert und wenig für die Leistungs-Anforderungen des Alltags übrig lässt, können entwicklungs-notwendige Stimulation und Reifung fehlen, was wiederum mit einer Entwicklungs-Verzögerung im sprachlichen, psycho-motorischen (Bewegungs-Ablauf), kognitiven (geistigen) und sozialen Bereich zu bezahlen ist. Und mit einem weiteren Verlust an Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen und dem notwendigen Engagement. Eine nicht seltene Verzweiflungs-Reaktion, vor allem bei chronischem, unbehandeltem Verlauf, ist der so genannte Substanz-Missbrauch, d. h. Alkohol, Rauschdrogen, Nikotin, bisweilen auch Medikamente oder eine verheerende Mehrfach-Abhängigkeit. Suizidgefahr Es dürfte kaum eine Depression geben, in der der Betroffene schließlich nicht zermürbt, lebensmüde oder gar suizidal im gefährlichen Sinne wird. Das schließt auch Jugendliche und Heranwachsende ein. Man sagt: Die Selbsttötung ist die zweithäufigste Todesursache der Heranwachenden nach dem Unfalltod. Oft geht eine so genannte präsuizidale Phase voraus (Einzelheiten siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie). Dazu gehören:
Wie häufig ist damit zu rechnen? Die so genannte Lebenszeit-Prävalenz (Häufigkeit auf die gesamte Lebenszeit bezogen) von Suizidversuchen bei Kindern und Jugendlichen soll bei etwa 3 bis 4% liegen. In den letzten Jahren scheint sich die Gefahr etwas verringert zu haben, jedenfalls in den Industrie-Nationen. Die wichtigsten Risiko-Faktoren sind auf jeden Fall seelische Störungen (und hier insbesondere die Depressionen), ferner Suizide oder früher Tod eines nahen Familien-Angehörigen sowie Leistungsprobleme. Während Suizidgedanken und parasuizidale Handlungen (also alles, was eine ernste Lebensmüdigkeit nahelegt) bei Mädchen deutlich häufiger auftreten (10 bis 35% je nach Studie), verüben die Jungen dreimal öfter vollendete Suizide. Das heißt, junge Patienten mit Suizidversuchen müssen – wie in allen anderen Alters-Bereichen – sehr sorgfältig beobachtet werden. Wie häufig sind Depressionen im Kindes- und Jugendalter? Die Häufigkeit depressiver Störungen in den westlichen Industrie-Nationen schwankt
Ab dem 13. Lebensjahr treten Depressionen eindeutig häufiger auf, geben die Experten zu bedenken. Dafür sind depressive Episoden im Jugendalter oft kürzer als bei den Erwachsenen. Ein Drittel normalisiert sich wieder innerhalb von 3 Monaten. Leider ist bei bis zu 80% von hohen Rückfall-Raten (und damit einer verborgen andauernden Depressions-Gefahr) auszugehen. Tatsächlich kommt es beunruhigend häufig zu einer erneuten depressiven Episode nach 1 (25%), 2 (40%) bzw. 5 Jahren (72%). Mit anderen Worten: Wer im Kindes- und Jugendalter eine Depression erleiden musste, muss auch in allen anderen Altersstufen damit rechnen. Allerdings gibt es eine Reihe von wirkungsvollen Vorbeuge- bzw. Gegenmaßnahmen (s. später). Wie entstehen Depressionen im Kindes- und Jugendalter? Die Entstehung einer Depression generell und im Kindes- und Jugendalter im Speziellen ist „multifaktoriell“, wie dies die Experten nennen. D. h. es spielen genetische (Erbfaktoren) und damit neurobiologische, somatische (körperliche), peristatische (Umfeld) und Persönlichkeits-Aspekte eine Rolle. Äußere Belastungen können über eine Art „biologische Bahnung“ neurobiologische (konkret: vor allem die Gehirnfunktion betreffende) Veränderungen anstoßen; diese wirken sich wiederum vulnerabilitäts-steigernd aus, d. h. sie erhöhen die seelisch-körperliche Verwundbarkeit. Das hat vor allem für die ersten Lebensjahrzehnte Bedeutung, denn der Einfluss von Umweltfaktoren als Depressions-Auslöser ist umso stärker, je jünger die Betroffenen sind. Die meisten neurobiologischen Befunde zur Depression stammen aus Untersuchungen an Erwachsenen. Große Unterschiede zu Kindheit und Jugend sind allerdings nicht zu erwarten. Bedeutsam ist also auch hier die genetische (Erb-)Beteiligung oder kurz: Erkrankung der Eltern ? erhöhtes Erkrankungs-Risiko ihrer Kinder. Man spricht von etwa 50%. Besonders hoch ist die Vererbbarkeit für schwerere Verlaufsformen und früh beginnende Depressionen. Auf den Gehirn-Stoffwechsel (Fachbegriff: Neurotransmitter) wurde in dieser Serie immer wieder Bezug genommen. Die am häufigsten zur Diskussion stehenden Botenstoffe sind Serotonin, Noradrenalin und Dopamin. Auch neuroendokrinologisch gibt es Besonderheiten, was hier allerdings den Rahmen sprengen würde. Doch eines ist sicher: Depressionen sind „Gehirn-Erkrankungen“, haben also eine organische Ursache. Das wird auch durch hoch-spezialisierte organische Untersuchungsverfahren (Stichwort: MRT) bei depressiven Kindern unterstrichen, bei denen in bestimmten Bereichen des Gehirns eine Substanz-Minderung nachweisbar ist. Ähnliches gilt für Änderungen des Gehirnstoffwechsels, je nach Gehirn-Lokalisation. Auch der Schlaf depressiver Patienten zeigt auffällige Besonderheiten (siehe die in allen Altersbereichen geklagten Schlafprobleme: Ein- und Durchschlafstörungen sowie Früh-Erwachen). Psychosoziale Depressions-Belastungen im Kindes- und Jugendalter Depressionen weisen – das klingt in dieser Serie immer wieder an – eine so genannte mehrschichtige Entstehungsweise auf. Zum einen kommt man immer wieder zu der Erkenntnis, dass biologische Faktoren eine große (die größere!) Rolle spielen. Das heißt genetische Aspekte (Vererbung) sowie „Schwachstellen“ in bestimmten Gehirnfunktionen, wenn nicht gar in der Gehirnsubstanz selber. Nicht zu unterschätzen aber sind auch die seelischen, konkreter: psychosozialen Belastungen. Darauf beruhen verschiedene Theorien, wie sie kurz im Kasten dargestellt werden.
Tatsächlich oder vielleicht sogar ausgeprägter als in anderen Altersstufen sind so genannte defizitäre (mangelhafte) Fertigkeiten zur Problem-Lösung und dependente (von anderen abhängige) Wesenszüge bei Kindern und Jugendlichen als ernsthafte und folgenreiche Risikofaktoren für Depressionen. Aber auch ein primär aggressiv-impulsiver Handlungsstil, beispielsweise im Rahmen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) mündet in 30% der Fälle über zahlreiche zwischenmenschliche Konflikte zu einer sekundären depressiven Entwicklung, geben Frau Professor C. Mehler-Wex und Dr. Michael Kölsch zu bedenken. Nicht zu vergessen sind auch problem-belastete Eltern-Kind-Beziehungen (Fachbegriff: dysfunktionale Eltern-Kind-Interaktionen) mit unzureichender elterlicher (Gemüts-)Zuwendung. Vor allem aus dem Missverhältnis zwischen der Erwartungs-Haltung des Kindes und zwiespältigen, wenn nicht gar für das Kind kaum absehbaren und damit letztlich unkontrollierbaren Reaktionen der Eltern resultieren Anspannungs-Zustände sowie eine ständige Frustration (vom lat. frustra = vergeblich) – und nicht selten Depressionen. Auch sind so genannte kritische Lebensereignisse bei 70% der depressiv erkrankten Kinder und Jugendlichen als prämorbide (also vor der eigentlichen Erkrankung belastende) Risikofaktoren nachweisbar. Die wichtigsten Belastungs-Faktoren bei Kindern und Jugendlichen mit depressiven Erkrankungen sind:
Nicht unerheblich auch folgende Aspekte: Chronische Belastungen, z. B. Probleme in zwischenmenschlicher Hinsicht, Mangel an Freundschaften und Zuwendung, subjektiv als (zu) gering empfundene Attraktivität, schulische Über- oder Unterforderung, Schulwechsel oder Teilleistungsschwächen u. a. Man sieht: Allein die psychosozialen Risiko-, Belastungs- und dann schließlich auslösenden Depressions-Faktoren im Kindes- und Jugendalter sind vielschichtig, unabhängig von neurobiologischen Defiziten (s. o.). Wie diagnostiziert man eine Depression im Kindes- und Jugendalter? Je jünger der Patient, desto eher hält man sich – nachvollziehbar – mit einer Diagnose auf seelischem Gebiet zurück. Anders als im organischen Bereich, wo die meisten körperlichen Funktionen bereits ausgereift sind, ist dies seelisch und psychosozial im Kindes- und Schulalter natürlich noch nicht der Fall. Was also – so die untersuchenden Ärzte und Psychologen – gehört noch in den Rahmen der Entwicklungsstufe (selbst wenn inzwischen auffällig und offensichtlich nicht „normal“) und was ist bereits eine eindeutige psychische Erkrankung mit der Notwendigkeit einer gezielten Therapie? Deshalb beginnen die Fachleute, in diesem Fall die Kinder- und Jugendpsychiater, ergänzt durch entsprechend spezialisierte Psychologen, Sozialarbeiter, Sprach- und Ergotherapeuten sowie ggf. Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin, mit einer ausführlichen Anamnese (Kranken-Vorgeschichte), was Schwangerschaft, Geburt, Entwicklung, körperliche Krankheiten, seelische Auffälligkeiten, familiäre Belastungen u. a. anbelangt. Vor allem die so genannte Familien-Anamnese ist von großer Bedeutung, betonen Frau Professor Mehla-Wex und Herr Dr. M. Kölch von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universität Ulm. Das setzt allerdings voraus, dass nicht nur der kleine Patient, sondern auch seine Bezugspersonen verfügbar, offen und kooperativ sind. Denn beim Kind sind vor allem die so genannten dissimulativen Tendenzen zu berücksichtigen, wie das die Experten nennen, also eine mehr oder weniger bewusste Verheimlichungs-Neigung, nicht zuletzt aus Überforderung, aber auch Resignation und vor allem Scham. Auch sind seine verbalen und introspektiven Fähigkeiten noch nicht so ausgereift. Das heißt, das Kind kann seine Befindlichkeiten noch nicht so gezielt ausdrücken wie ein Erwachsener und hat darüber hinaus auch noch weniger Möglichkeiten zu einer ergiebigen „Innenschau der Seele“. Deshalb werden hier vor allem non-verbale Methoden eingesetzt, z. B. Zeichnen oder projektive Verfahren, mit denen man indirekt seinem Innenleben näher kommen kann. Grundsätzlich auszuschließen sind aber körperliche Ursachen, vor allem hirn-organische Beeinträchtigungen, Infektionen (postinfektiöse Depression?) sowie endokrinologische Störungen (z. B. Schilddrüsen-Funktionsstörungen, und zwar sowohl eine Über- als auch Unterfunktion). Unerlässlich ist eine körperlich-neurologische Untersuchung, eine gezielte Labor-Diagnostik und eine Vorgeschichte, die sich ausschließlich auf organische Krankheiten konzentriert. Nicht zu vergessen – selbst in diesem „zarten Alter“ – ist die Frage nach eingenommenen Medikamenten (zeitweise oder dauerhaft) oder gar nach Substanzmissbrauch (Alkohol, Rauschdrogen, Nikotin, Mehrfach-Abhängigkeit), denn die zählen ggf. als Induktoren einer Depression, also sie klinken das depressive Zustandsbild (im Wartestand?) regelrecht aus. Was könnte es sonst noch sein? Allein schon in diesen Ausführungen kam eine ganze Reihe von möglichen Störungen zur Sprache, die eine Depression auslösen (z. B. Rauschdrogen) oder verursachen können (z. B. hirnorganische sowie Stoffwechsel-Störungen). Aber auch im Rahmen der engeren affektiven Erkrankungen (früher Gemütsstörungen genannt) gilt es zu unterscheiden: z. B. bipolare Störungen (manisch-depressive Erkrankungen) oder schizoaffektive Leiden (Depression oder Manie sowie Schizophrenie) bzw. schizophrenie-nahe Krankheiten (siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie). Auch eine so genannte Anpassungsstörung (früher vor allem als depressive Reaktion oder reaktive Depression bezeichnet) nach einem Schicksalsschlag gilt es auszuschließen, wobei die Belastung nicht aus Erwachsenen-Sicht eingestuft werden sollte. Kinder haben – bildhaft gesprochen – „schmalere Schultern“ und sind deshalb gegenüber Verlust- oder Belastungs-Erlebnissen empfindlicher als es die Einschätzung der Erwachsenen unterstellt. Allerdings muss bei den Anpassungsstörungen eine eindeutige zeitliche Verknüpfung nachweisbar sein (auch hier: siehe das spezielle Kapitel in dieser Serie). Das Gleiche gilt für Angststörungen, auch sie zeigen mitunter Stimmungseinbrüche, Rückzugs- und Vermeidungstendenzen sowie körperliches Unwohlsein mit breiter Symptom-Skala. Auch das gilt es zu klären, vor allem Trennungs- und Schul-Ängste .Ko-Morbidität: Wenn eine Krankheit zur anderen kommt Dass ein Mensch von mehreren Krankheiten auf einmal geschlagen ist, ist in der Organ-Medizin nicht selten, im höheren Alter sogar die Regel. Beispiele: Herz-Kreislauf, Wirbelsäule-Gelenke, Magen-Darm, Stoffwechsel u. a. Das Gleiche gilt im Grunde auch für seelische Störungen, nur wird es dort (bisher) seltener diagnostiziert – und damit adäquat berücksichtigt. Inzwischen ist man hellhöriger geworden, nicht zuletzt im Kindes- und Jugendalter, wo – wenngleich selten – ebenfalls mehrere körperliche Leiden vorkommen können. Gar nicht so selten gilt dies auch für seelische Störungen. So belasten bei manchen Minderjährigen neben der Depression auch eine oder gar mehrere Angststörungen (man spricht von bis zu 75%). Das Gleiche gilt für Störungen des Sozialverhaltens (bis zu 50%) und den schon mehrfach erwähnte Substanz-Missbrauch mit oder ohne Aggressivität (etwa 25%). Gerade Letzteres wird diagnostisch oft verkannt (ist Aggressivität eine Krankheit?). Hier drohen aber aufgrund der hohen Impulsivität mit störender Fremd-Aggressivität irgendwann die befürchteten Kippreaktionen, wobei die Fremd-Aggressivität mehr oder weniger plötzlich und unerwartet in eine Selbst-Aggressivität umschlägt. Und dann haben wir erste Suizidversuche, die – tragisch oft – später dann in einen vollendeten Suizid münden können. Auch bei Ess-Störungen zeigen sich nicht selten depressive Krankheitszeichen. Und häufig wird vor allem rückblickend festgestellt: Zwangs-Symptome gehen einer Depression oft voraus. Umgekehrt werden Zwangsstörungen durch Depressionen noch verstärkt – und damit noch qualvoller und behindernder. Wie behandelt man eine Depression im Kindes- und Jugendalter? Die Therapie der depressiven Störung bei Minderjährigen sollte multimodal sein, wie es die Experten bezeichnen, d. h. nach bewährter, aber durchaus mehrschichtiger Art und Weise. In der Regel reicht eine ambulante Behandlung. Schwere Depressionen und drohende Suizidalität erfordern aber die stationäre Aufnahme in einer Fachklinik und möglichst Spezial-Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, empfehlen die Kinderpsychiater C. Mehle-Wex und M. Kölch von der entsprechenden Klinik in Ulm. Dasselbe gilt für Mehrfach-Erkrankungen (Stichwort: Ko-Morbidität) sowie junge Patienten, die keinen Schulbesuch mehr bewältigen können oder die besonders ausgeprägten familiären Umständen entstammen, die das Kindeswohl gefährden; außerdem jene, die in einer ambulanten Therapie nicht erfolgreich behandelt werden konnten. Eine multimodale Therapie der Depressionen in diesem Alter umfasst psychotherapeutische, psychosoziale und bei Bedarf pharmakotherapeutische Maßnahmen. Bei leichten Depressionen steht die psychosoziale Behandlung im Vordergrund. Diese umfasst die Beratung der Eltern in Bezug auf einen feinfühligeren Erziehungsstil und die Beseitigung von Belastungsfaktoren. Bei einer mäßig schweren depressiven Episode ist auch der Einsatz von Medikamenten zu diskutieren. Bekanntlich hat die Kombination Psycho- und Pharmakotherapie ab einem gewissen Schweregrad der Depression die besten Behandlungs-Erfolge. Auch muss nicht zuletzt in diesem Fall ein besonderer Aspekt berücksichtigt werden, nämlich der Zeitfaktor. Hier wird man zwar erst einmal stutzig: wieso in diesem Alter besondere Eile? Doch Kindern und Jugendlichen läuft gerade in dieser Phase die psychosoziale Adaptation in Schule, Ausbildung und anderen Bereichen davon, wie es die Fachleute nennen, oder kurz: Lehrstoff und Anpassung. Deshalb ist bei schweren depressiven Episoden, bei denen nicht nur Schulversäumnis, sondern auch sozialer Rückzug drohen können, früh an eine begleitende Antidepressiva-Therapie zu denken.
Abbau belastender Faktoren, Aufbau positiver Aktivitäten, Strukturierung des Alltags, Förderung und Bewusstmachung vorhandener Ressourcen (Hilfsquellen jeglicher Art), Training sozialer Kompetenzen, Erlernen von Problemlösungs-Strategien, Modifikation negativer Perzeptions- und Interpretationsmuster („schwarze Brille“, negativistische, pessimistische, fatalistische Einstellung) sowie Steigerung von Selbstsicherheit und Selbstwert. Am häufigsten wird heute wohl die kognitive Verhaltenstherapie eingesetzt, gefolgt von der interpersonalen Therapie. Auch die Familientherapie (je jünger, desto bedeutsamer sind familiäre Interventionen), die klient-zentrierte Spieltherapie und tiefen-psychologische Verfahren haben ihre Anhänger und Erfolge, wenngleich wissenschaftlich weniger abgesichert (Einzelheiten siehe die Fachliteratur).
Sinnvoll ist nicht nur eine ausreichend lange Behandlungsdauer während des depressiven Zustandes, sondern auch noch etwa 6 Monate nach deutlicher Stimmungsaufhellung (Fachbegriff: Remission). Ein vorzeitiges Ausschleichen löst unnötige (Rückfall-)Risiken aus. Das abrupte Absetzen (es sei denn ärztlicherseits begründet) ist nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern in allen Altersstufen mit unangenehmen bis gefährlichen Konsequenzen belastet. Schlussfolgerung Depressionen nehmen zu – und zwar in jedem Lebensalter. Depressive Störungen im Kindes- und Jugendalter machen hierbei keine Ausnahme. Es ist aber ein großer Unterschied, ob man die Schwermut in der zweiten oder in der ersten Lebenshälfte, vielleicht sogar in den beiden ersten Lebensjahrzehnten ertragen muss. Und dies nicht nur wegen der depressiven Not oder gar Qual, sondern auch wegen der psychosozialen Konsequenzen (entwicklungsmäßig, zwischenmenschlich, schul- und ausbildungsbedingt usw.). Deshalb gilt es gerade Depressionen in diesem heiklen Lebensabschnitt rechtzeitig zu erkennen, vor allem aber zu akzeptieren (eine Aufgabe, die insbesondere den Eltern bzw. näheren Angehörigen zufällt) und dann gezielt, d. h. über den Hausarzt fachspezifisch einem Kinder- und Jugendpsychiater vorzustellen. Damit wird es in der Regel möglich, eine der quälendsten (und tödlichsten: siehe Suizidgefahr) seelischen Störungen rechtzeitig abzufangen, folgenschwere Konsequenzen (zwischenmenschlich, ausbildungsmäßig, entwicklungspsychologisch) zu verhindern und vor allem drohenden Rückfällen vorzubeugen. Literatur Inzwischen umfangreiches Angebot an wissenschaftlichen Publikationen, aber auch Fachbüchern sowie populär-medizinischen Sachbüchern. Nachfolgend eine Auswahl deutschsprachiger Fachbücher, wie sie die Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater im Literaturverzeichnis ihres Artikels angeführt haben: Blanz, B. u. Mitarb.: Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter. Schattauer-Verlag, Stuttgart-New York 2006 Freisleder, F. J. u. Mitarb. (Hrsg.): Depression, Angst, Suizidalität. Affektive Störungen im Kindes- und Jugendalter. Zuckschwerdt-Verlag, München 2001 Gerlach, M. u. Mitarb.: Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter. Springer-Verlag, Wien 2004 Herpertz-Dahlmann, B. u. Mitarb. (Hrsg.): Entwicklungspsychiatrie. Schattauer-Verlag, Stuttgart-New York 2003 Petermann, F. (Hrsg.): Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie und -psychotherapie. Hogrefe-Verlag, Göttingen 2000 Petermann, F. u. Mitarb. (Hrsg.): Risiken in der frühkindlichen Entwicklung. Entwicklungspsychopathologie der ersten Lebensjahre. Hogrefe-Verlag, Göttingen 2000 Remschmidt, H. u. Mitarb. (Hrsg.): Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 und WHO. Verlag Hans Huber, Bern 2000 Warnke, A., G. Lehmkuhl (Hrsg.): Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2006 Wichtige Fachgesellschaften: Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Berufsverband der Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Deutschland e. V. Bundesarbeitsgemeinschaft der leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie e. V. Adressen in: Warnke, A., G. Lehmkuhl (Hrsg.): Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. Deutscher Ärzteverlag, Köln 2006 |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |