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ANTISOZIALE / DISSOZIALE PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN

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Sie sind schon zu fürchten, die antisozialen bzw. dissozialen Persönlichkeitsstörungen. Und in der Tat, auch die Psychiater lassen mit ihrer Charakter-Schilderung keinen Zweifel daran, dass es sich hier um überaus schwierige Partner, Familienmitglieder, Bekannte, Nachbarn, Arbeitskollegen, Vorgesetze, Untergebene, ja Fremde im Alltag handeln kann.

Zum einen besteht ein "tiefgreifendes Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer", und das schon seit jungen Jahren. Konkret: Falschheit, wiederholtes Lügen und Betrügen, Impulsivität, Reizbarkeit und Aggressivität (wiederholte Schlägereien, Überfälle oder sonstige Missgriffe), dabei rücksichtslos die Sicherheit anderer (aber auch die eigene) missachtend, kurz: verantwortungslos, herzlos, ohne Reue, kein Schuldbewusstsein, unfähig, aus negativen Erfahrungen, ja sogar Bestrafungen zu lernen, dafür die Neigung, seine Verfehlungen zu beschönigen, gewissenlos zu rechtfertigen oder gar andere zu beschuldigen.

Bei der "härtesten" Untergruppe, die im angelsächsischen Bereich mit dem früheren Begriff der "Psychopathen" charakterisiert wird, geht es sogar noch direkter zur Sache: trickreiche und sprachgewandte Blender mit oberflächlichem Charme, erheblich übersteigertes Selbstwertgefühl, Erlebnishunger, ständiges Gefühl der Langeweile, krankhaftes Lügen und betrügerisch-manipulatives Verhalten, Mangel an Gewissensbissen oder Schuldbewusstsein, oberflächliche Gefühle, auf jeden Fall kein Einfühlungsvermögen für andere, eher Gefühlskälte, parasitärer Lebensstil ("gnadenlose Ausnutzer"), unzureichende Verhaltenskontrolle, Fehlen von realistischen und vor allem langfristigen Zielen, spontan bis unkontrolliert, verantwortungslos, mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, Missachtung allgemeingültiger Regeln, frühe und ständig wechselnde Partnerschaften sowie später häufig wechselnder Geschlechtsverkehr, kriminelle Verhaltensweisen u.a.m.

Was muss man wissen und vor allem wie sehen es die zuständigen Fachleute, die Psychiater, Psychologen, Kriminologen usw.? Wie teilen es die international führenden Klassifikationen (ICD-10 der WHO und DSM-IV-TR der APA) ein? Was wissen wir über genetische Ursachen, Gehirnstoffwechsel, neuro- und psychophysiologische Abweichungen, vor allem aber psychosoziale Risikofaktoren wie elterliche Zurückweisung, Vernachlässigung, instabile Beziehungen, Misshandlungen, Missbrauch u. a.? Und letztlich: Kann man überhaupt etwas tun und wenn ja, was? Und wie beurteilen die forensischen Psychiater und Psychologen solche Menschen, wie urteilen die Richter?

Nachfolgend eine kurz gefasste Übersicht zu diesem auch gesellschaftlich relevanten Krankheitsbild und ihren psychosozialen Konsequenzen.


Erwähnte Fachbegriffe:

Persönlichkeitsstörung - antisoziale Persönlichkeitsstörung - dissoziale Persönlichkeitsstörung - sozial - dissozial - antisozial - asozial - Psychopathie - abnorme Persönlichkeit - psychopathische Entwicklung - Soziopathie - Charakterneurose - grenzwertige Persönlichkeit - Persönlichkeit - Persönlichkeitsstruktur - Charakter - Wesensart - Verantwortungslosigkeit - geringe Frustrationstoleranz - Aggressivität - Selbstbezogenheit - Impulsivität - fehlendes Mitgefühl - Neigung zu unüberlegten Reaktionen - Falschheit - wiederholtes Lügen - Decknamen - Betrügereien - Impulsivität - Schlägereien - Überfälle - Verantwortungslosigkeit - fehlende Reue - herzloses Unteiligtsein gegenüber anderen - Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen - Beziehungsstörungen - fehlendes Schuldbewusstsein - Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, besonders Bestrafung, zu lernen - haltlose Beschuldigung anderer - geringe Introspektions-Fähigkeit ("Innenschau") - mangelhafte Selbstkritik - Gefühlskälte - Egozentrizität - widersinnige Anpassungs-Erwartungen - kriminelle Anfälligkeit - Delinquenz - trickreiche, sprachgewandte Blender - oberflächlicher Charme - Erlebnishunger - Stimulationsbedürfnis - ständige Langeweile - krankhaftes Lügen - Pseudologie - betrügerisch-manipulatives Verhalten - Mangel an Gewissensbissen - kein Schuldbewusstsein - oberflächliche Gefühle - Gefühlskälte - parasitärer Lebensstil - "gnadenlose Ausnutzer" - unzureichende Verhaltenskontrolle - Promiskuität - häufig wechselnder Geschlechtsverkehr - Verantwortungslosigkeit - Jugendkriminalität - Ko-Morbidität - Mehrfach-Erkrankung - zusätzliche Alkohol-, Nikotin-, Medikamenten- und/oder Rauschdrogen-Abhängigkeit - Persönlichkeitsstörung und Alter, Geschlecht, soziale Schicht, frühkindliche Entwicklung u. a. - Persönlichkeitsstörung im Kindes- und Jugendalter - Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) - "Zappelphilipp" - u. a.

Genetische Ursachen - biologische Ursachen - Erbbelastung - neurohormonelle Veränderungen - Hirnstoffwechsel - Neurotransmitter - Botenstoffe: Serotonin, Noradrenalin, Dopamin - Hormone wie Testosteron und Vasopressin - Cortisol - Oxytocin - morphologische Veränderungen - Gehirnsubstanz-Veränderungen - strukturelle und funktionelle Bildgebung - Kriegs-Verletzung - Unfall-Verletzung - psychophysiologische Aspekte - psychosoziale Risikofaktoren: "Unter-Empfindlichkeit für höhere Gemüts- bzw. Charakter-Eigenschaften" - sensation seeking - vermehrte Reizsuche - pränatale Faktoren - Schwangerschaft und Alkoholmissbrauch - Schwangerschaft und Nikotinmissbrauch - niedriger sozioökonomischer Status, geringe elterliche Aufsicht, Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheiten, elterliches Erziehungsverhalten, wiederholter Wechsel der Bezugspersonen, Misshandlung, Missbrauch u. a.

Vorbeugende Schutz-Faktoren - therapeutische Maßnahmen - Psychotherapie - behaviorale oder kognitiv-behaviorale Behandlungsverfahren - Trainings-Programme - Coping-Mechanismen - relapse prevention - Pharmakotherapie - Psychopharmaka: Antidepressiva und Neuroleptika - Rückfallprophylaxe: Carbamazepin, Valproat, Lithium - Psychostimulanzien - Methylphenidat u. a.

Forensische Aspekte - Verhaltenssteuerung - strukturelle Deformierung der Persönlichkeit - krankhafte Persönlichkeitsdefizite - Legalprognose - Maßregelvollzug - "schwere andere seelische Abartigkeit" - Affekt-Regulation - Einengung der Lebensführung - Beeinträchtigung der Beziehungs-Gestaltung - unflexible Denkstile - Störung der Selbstwertregulation - Schwäche von Abwehr- oder Realitäts-Prüfungsmechanismen - Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit - Schuldminderung - "Charakter-Schuld" - sonstige forensische oder juristische Beurteilungs-Aspekte - u.a.m.

Man sieht, hört und liest es jeden Tag, aus den Medien, aus dem eigenen Alltag: Die Menschen werden immer unzufriedener, missgestimmter, unfreundlicher, egoistischer, nicht wenige dauernd gereizt bis aggressiv. Und einige dauerhaft verlogen, betrügerisch, rücksichtslos oder gar gewalttätig. Natürlich kann man sich, ja soll sich an den Ausspruch des ehemaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer erinnern, der gleichsam konstruktiv resignierend beschwichtigte: "Nehmt die Menschen, wie sie sind, es gibt keine anderen ..." Aber bisweilen kann man an dieser Menschheit, vor allem an der so genannten zivilisierten, schon zweifeln, wenn nicht gar verzweifeln.

Dabei fällt immer häufiger ein psychiatrischer Fachbegriff, der zwar einiges aussagt, aber im Detail dann doch die meisten überfordert: dissoziale oder antisoziale Persönlichkeitsstörung. Dissozial oder antisozial ist das Gegenteil von sozial und man weiß Bescheid. Persönlichkeit ist die Wesensart, der Charakter. Und wenn dieser essentielle Kern des Menschen gestört ist, dann muss man mit einigem rechnen, vor allem wenn der Betreffende noch dissozial oder antisozial sein soll. Um was handelt es sich also konkret?

Nachfolgend deshalb eine kurz gefasste Übersicht zu einem psychiatrischen Krankheitsbild mit wachsender allgemeiner Bedeutung (bzw. Belastung) mit Schwerpunkt auf den wichtigsten Stichworten zum Erkennen, Verstehen, ggf. Korrigieren oder Lenken, notfalls den Kontakt vermeidend.

Als Erstes gilt es aber trotz der Kürze der Abhandlung einige Begriffe zu klären. Denn aus den Wörtern geht meist auch die Bedeutung hervor, weit umfangreicher und eingängiger als durch trockene Definitionen und zumindest für den Laien nichts sagende bis blutleere Klassifikationen.

Sozial - dissozial: Was heißt das?

- Unter dem Begriff sozial halten die Lexika reichlich Informationen vor, von den Sozial-Abgaben bis zur Sozial-Wohnung. Alles hat natürlich irgendwie mit dem lateinischen Begriff societas = Gemeinsamkeit, Teilnahme, Gemeinschaft, Verbindung, im erweiterten Sinne auch Genossenschaft, Bündnis u. a. zu tun.

Zwei der vielen Definitionen weisen auch auf die besondere Aufgaben bzw. Verantwortung des Sozialen hin: Zum einen die Sozialethik für die sittlichen Normen und Prinzipien menschlichen Handelns im gesellschaftlichen Leben und zum anderen die soziale Kompetenz, also die Schlüsselqualifikation, die man (eigentlich) von allen, vor allem aber von Führungspersonen fordern sollte mit den Fähigkeiten zur mitmenschlichen Sensibilität, Team-Arbeit, konstruktiven Konflikthandhabung und fairen Konfliktlösung.

Viel ergiebiger aber sind die Handbücher sinnverwandter Wörter und Ausdrücke für den täglichen Gebrauch (z. B. "Sag es treffender", ein Taschenbuch aus dem Rowohlt-Verlag), für deren bedeutungsgleiche Begriffe wir eine ganze Seite reservieren, weil sie im Grunde alles ausdrückt, was wir uns mit dem Wort sozial wünschen:

Sozial heißt...

menschenfreundlich, wohlwollend, gütig, liebevoll, menschenliebend, mitmenschlich, freundlich, altruistisch (selbstlos), un-egoistisch, uneigennützig, aufopferungsfähig, opferbereit, hilfreich, hilfsbereit, karitativ, menschlich, human, selbstlos, hingebend, absichtslos, dienend, freigebig, wohltätig, mildtätig, barmherzig, hochherzig, generös, gebefreudig, großmütig, hilfreich, opferwillig, erbarmend, mild, mitleidig, mitfühlend, erbarmungsvoll, gnädig, gemeinnützig, für alle da, väterlich, mütterlich, brüderlich, schwesterlich, geschwisterlich u. a.

Sozial wäre also schön; die Wirklichkeit ist natürlich nicht ganz so erfreulich. Doch damit könnte man leben (siehe den Ausspruch von Konrad Adenauer), wenn es nicht das andere Extrem gebe, die erwähnte Dissozialität.

Zu den Begriffen dissozial oder antisozial gibt es in den Lexika wenig bis gar nichts zu lesen. Dafür kommt in kleinen Abhandlungen das Wort asozial vor, das die Psychiatrie aber wegen seiner grundsätzlich negativ wertenden Bedeutung inzwischen vermeidet: ... unfähig zum Leben in der Gemeinschaft, den sozialen Interessen zuwider laufend; Menschen, die sich den normativen Mindestanforderungen und Verhaltensmustern einer Gesellschaft nicht anpassen können oder nicht anpassen wollen (aus Die Zeit-Lexikon). Hier hilft wieder das Wörterbuch der sinnverwandten Begriffe weiter (s. o.), nämlich:

Asozial, das heißt ...

gemein, niedrig, nicht würdig, verwerflich, ehrlos, schimpflich, schmachvoll, unwürdig, schandbar, abscheulich, ruchlos, verächtlich, skandalös, schurkig, schuftig, kriminell, verbrecherisch, böse, schändlich, bübisch, verabscheuenswert, verderbt, verdammenswert, ungeheuerlich, unerhört, schreit zum Himmel, tadelnswert, charakterlos, verkommen, verworfen, gewissenlos, niederträchtig, unwürdig, nichtsnutzig, schändlich, sittenlos, unmoralisch, liederlich, anstößig, ungehörig, unanständig, schamlos, würdelos, unzüchtig, brutal, roh, unmenschlich, rücksichtslos, gefühllos, mitleidlos, schonungslos, unbarmherzig, gnadenlos, unerbittlich, unnachsichtig, grausam, bestialisch, sadistisch, pervers, erbarmungslos, verworfen, scheußlich, menschenverachtend, zerstörungswütig, barbarisch u. a.m.

Das spricht Bände, das braucht keine weiteren Definitionen oder auch allgemein verständliche Erläuterungen. "Volkes Stimme" ist unerreicht, was sich nebenbei auch in Zitaten-, Sprichwörtern- bzw. Aphorismen-Büchern treffend ausdrückt.

Allerdings: Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus sind hier viele Begriffe eigentlich nicht zusammengehörig, müssten per definitionem sauber getrennt werden, gehören ganz unterschiedlichen Werte-Ebenen an. Aber das soll hier nicht weiter beschäftigen, entscheidend ist das, was "man" in diesem Zusammenhang als Ganzes sieht, positiv wie negativ.

Nach dieser nun doch etwas längeren Einführung aus populär-medizinischer Sicht oder kurz: "Was versteht die Allgemeinheit(!) unter sozial oder asozial?", soll nun erläutert werden, wie es die psychiatrische Wissenschaft damit hält, wie sie diese Persönlichkeitsstörungen definiert, klassifiziert, ihr (Fehl-) Verhalten beschreibt, die Ursachen und Hintergründe diskutiert, die heutigen Therapiemöglichkeiten erörtert sowie juristische Fragen (z. B. der Schuldfähigkeit) sieht. Als erstes aber gilt es die Frage zu klären:

Persönlichkeitsstörung - was ist das?

Was Persönlichkeitsstörungen sind, wird in einem eigenen, ausführlichen Kapitel in dieser Serie dargestellt. Außerdem gibt es noch verschiedene Beiträge zu so genannten Sub-Typen, also nicht bloß die Übersicht über Persönlichkeitsstörungen generell, sondern über paranoide, schizoide, schizotypische u. a. Persönlichkeitsstörungen. Auch ist in dem Haupt-Kapitel eine Einleitung über frühere Begriffe (z. B. Psychopathie, abnorme Persönlichkeit, psychopathische Entwicklung, Soziopathie, Charakterneurose u. a.) zu lesen, und eine kleine historische Übersicht. Denn es gibt kaum ein seelisches Krankheitsbild, das eine so wechselhafte Vorgeschichte im Rahmen der letzten hundert Jahre aus psychiatrischer Sicht durchgemacht hätte. Das hat sich übrigens bis heute nicht geändert (siehe später). Wer sich also etwas einlesen will, dem sei vor allem der Beitrag über Persönlichkeitsstörungen empfohlen.

Was die heutigen Definitionen anbelangt (man sieht schon, die Mehrzahl deutet auch hier unterschiedliche Meinungen an), so sollen folgende Vorschläge kurz wiedergegeben werden:

  • Unter einer Persönlichkeitsstörung versteht man ein tief eingewurzeltes Fehlverhalten mit entsprechenden zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Konflikten. Konkret spricht man von einer Persönlichkeitsstörung dann, wenn eine Persönlichkeitsstruktur durch starke Ausprägung bestimmter Merkmale so akzentuiert (betont hervorgehoben) ist, dass sich hieraus ernsthafte Leidenszustände und/oder Konflikte ergeben.

Natürlich sind die Grenzen zwischen Persönlichkeitsstörung und "noch als gesund zu bewertender Persönlichkeitsstruktur", bei offenen Fragen auch als "grenzwertige Persönlichkeit" bezeichnet, durchaus fließend. Das kennt übrigens jeder aus dem Alltag.

Ursächlich (Fachbegriff: Ätiologie) diskutiert man sowohl hereditäre (erbliche) als auch hirnorganische Faktoren (Entzündungen oder Verletzungen des Zentralen Nervensystems). Aber auch psychosoziale Einflüsse (zwischenmenschlich, Erziehung, spätere ungünstige Einflussnahmen usw.). Deshalb der eigentlich von allen akzeptierte Begriff der "mehrschichtigen Entstehungsweise" einer Persönlichkeitsstörung.

Was den Verlauf anbelangt, so tritt die Persönlichkeitsstörung meist erstmals in der Jugend auf und verblasst im mittleren und höheren Lebensalter oft (aber nicht immer) wieder. Dies hängt nicht zuletzt von der jeweiligen Form der Persönlichkeitsstörung und natürlich individuellen Aspekten ab. Manche werden tatsächlich ruhiger (im Sinne der Umgebung: weniger Reibungspunkte und Konflikte), was aber auch soviel heißt wie Vitalitätseinbuße und psychosoziale Einengung (z. B. Rückzug und damit Isolationsneigung). Andere sind unverändert ausgeprägt oder werden gar noch "akzentuierter", d. h. lästiger bis unerträglicher, wenn nicht gar riskant bis gefährlich.

Inzwischen hat man sich auf einen Definitions-Kompromiss geeinigt, der da lautet: Eine Persönlichkeitsstörung liegt dann vor, wenn durch Ausprägungsgrad und/oder die besondere Konstellation von psychopathologisch relevanten Merkmalen dieser Bereiche erhebliche subjektive Beschwerden und/oder nachhaltige Beeinträchtigungen der sozialen Anpassung entstehen. (Zur Erklärung einiger Begriffe: Konstellation = Sachlage, auch Zusammentreffen von Umständen; Psychopathologie = Lehre vom Beschwerdebild seelischer Erkrankungen; relevant = wesentlich, bedeutsam.)

Nach wie vor ungelöst ist aber das Phänomen der "Persönlichkeit" oder "Persönlichkeitsstruktur", das schon im gesunden Zustand von einer Fülle von Eigenschaften geprägt ist, die von "normal" bis "grenzwertig" gehen kann. Deshalb glaubt man auf Grund der bisherigen Forschungsergebnisse die möglichen Persönlichkeitszüge auf einige wesentliche Schwerpunkte zurückführen zu können (so genannte Persönlichkeitsmodelle), woraus sich dann - wiederum mit entsprechendem Schwerpunkt - auch krankhafte Übersteigerungen bzw. eindeutige Erkrankungen ergeben.

Dabei gibt es allerdings ebenfalls noch Unstimmigkeiten, was alles dazu gehören soll, doch hört man im allgemeinen immer wieder von paranoiden (wahnhaften), schizoiden sowie schizo-typischen Persönlichkeitsstörungen (mit bestimmten Ähnlichkeiten zur Schizophrenie). Außerdem tauchen stets folgende Fachbegriffe auf: antisoziale oder dissoziale Persönlichkeitsstörungen (siehe unten), emotional instabile Persönlichkeitsstörungen vom impulsiven Typus oder vom Borderline-Typus (letzteres auch als Borderline-Persönlichkeitsstörung beschrieben) sowie histrionische (hysterische) Persönlichkeitsstörung, narzisstische Persönlichkeitsstörung, vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung, dependente (abhängige) Persönlichkeitsstörung, zwanghafte Persönlichkeitsstörung sowie andere spezifische Persönlichkeitsstörungen wie depressive, passiv-aggressive, exzentrische sowie weitere Persönlichkeitsstörungen. Kurz: ein weites Feld, eben die Menschheit in allen Facetten.

Was ist eine dissoziale Persönlichkeitsstörung?

Auch das moderne Wort dissozial oder wie früher asozial bzw. wie in den USA antisozial, es klingt unschön bis bedrohlich. Das war früher nicht anders, eher heftiger. Dort wurden die "abnormen Persönlichkeiten" in die Nähe der geborenen Verbrecher oder des "Entartungs-Verbrechers" gerückt. Da blieb keine Frage offen. Erst nach und nach bemühte man sich um eine beschreibende Sichtweise mit vor allem wertfreiem diagnostischen Ansatz. Da geht es dann nicht nur um die (vorschnelle und einseitige) Verurteilung, sondern um Norm-Abweichungen: Was ist bei diesen Menschen anders wie im Durchschnitt der Bevölkerung in ihren jeweiligen gesellschaftlich akzeptierten Verhaltensweisen. Damit unterschied man dann auch die unterschiedlichen Ziele im Denken, Erleben und Verhalten, was natürlich bei problematischer Zusammenstellung dann auch ungünstig ausgehen kann. Dafür gerät man nicht mehr so schnell in Gefahr, einseitige gesellschaftliche Wertungen zu bevorzugen, es wird aber auch immer komplexer, schwieriger.

Auf jeden Fall definieren die Psychiater, leider etwas umständlich: Sozial störendes Verhalten ist erst dann Ausdruck einer dissozialen Persönlichkeitsstörung, wenn es auf einem tiefgreifenden, früh beginnenden und überdauernden Muster psychopathologisch relevanter (seelisch krankhafter) Persönlichkeits-Eigenschaften gründet.

Das hört sich zwar arg wissenschaftlich an, wird dann aber auch konkret untermauert mit den lebensnahen Begriffen Verantwortungslosigkeit, geringe Frustrationstoleranz (also die Unfähigkeit, auch über längere Zeit die Spannungen zu ertragen, die aus der Nicht-Befriedigung persönlicher Wünsche entstehen), ferner hohe Aggressivität, Selbstbezogenheit, Impulsivität (d. h. Neigung zu unüberlegten und damit auch unerwarteten Reaktionen) und fehlendes Mitgefühl).

Soweit wäre also alles einheitlich, klar und damit für den Alltag nutzbar. Doch - wir hörten es schon -, es gab früher unterschiedliche Meinungsbilder (dann zumeist von den wissenschaftlich führenden und damit ton-angebenden Psychiatrie-Persönlichkeiten geprägt) und es gibt heute unterschiedliche so genannte "kategoriale Modelle", von denen im wesentlichen zwei die Hauptrolle spielen (und in dieser Serie schon oft erwähnt wurden): Das eine ist die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) mit ihrem Diagnostischen und Statistischen Manual Seelischer Störungen (DSM-IV-R), das andere die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit ihrer Internationalen Klassifikation Psychischer Störungen (ICD-10). Beide Institutionen versuchen sich langsam einander anzunähern, was die ja dann weltweit verbindlichen Empfehlungen anbelangt, haben aber augenblicklich entweder wissenschaftlich (DSM-IV-TR) oder im klinischen Alltag Europas (ICD-10) den Vorrang.

Für den interessierten Laien sind das aber fach-spezifische Probleme, die die Experten unter sich ausmachen sollen. Wir jedoch wollen wissen, was man konkret unter einer dissozialen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung zu verstehen hat.

Die antisoziale Persönlichkeitsstörung

Die antisoziale Persönlichkeitsstörung ist ein Begriff der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) in ihrem DSM-IV-TR. Die dort angeführten Kriterien (kennzeichnende Merkmale) konzentrieren sich vor allem auf leicht objektivierbare Verhaltens-Phänomene wie offenkundiges delinquentes (straffälliges) Verhalten. Über die Vor- und Nachteile siehe unten. Was also wird gefordert, um die Diagnose einer antisozialen Persönlichkeitsstörung zu erfüllen?

  • Zum einen besteht ein tiefgreifendes Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer. Das soll seit dem 15. Lebensjahr dominieren. Dabei müssen mindestens drei der folgenden Kriterien erfüllt sein:

- Der Betreffende schafft es nicht (konkret: versagt) sich in Bezug auf gesetzmäßiges Verhalten den gesellschaftlichen Normen anzupassen. Das äußert sich wiederholt in Handlungen, die einen Grund für eine polizeiliche Festnahme darstellen.

- Falschheit, die sich in wiederholtem Lügen, dem Gebrauch von Decknamen oder dem Betrügen anderer zum persönlichen Vorteil oder Vergnügen äußert.

- Impulsivität oder Versagen, vorausschauend zu planen.

- Reizbarkeit und Aggressivität, was sich in wiederholten Schlägereien oder Überfällen äußert.

- Rücksichtslose Missachtung der eigenen Sicherheit bzw. der Sicherheit anderer.

- Durchgängige Verantwortungslosigkeit, die sich in wiederholtem Versagen zeigt, eine dauerhafte Tätigkeit auszuüben oder finanziellen Verpflichtungen nachzukommen.

- Fehlende Reue, die sich in Gleichgültigkeit oder Rationalisierung (nachträgliche und bewusste Begründung unbewusster Motive) äußert, wenn die Person andere Menschen kränkt, misshandelt oder bestohlen hat.

Außerdem muss der Betreffende mindestens 18 Jahre alt und die Störung des Sozialverhaltens bereits vor Vollendung des 15. Lebensjahres erkennbar gewesen sein. Und es darf das antisoziale Verhalten nicht ausschließlich im Verlaufe einer Schizophrenie oder einer manischen Episode (krankhafte Hochstimmung, meist im Rahmen einer manisch-depressiven Störung) auftreten.

Das sind - so die Kritiker - durchaus harte Daten, mit denen man sich eine weitgehend hieb- und stichfeste Diagnose erlauben kann. Die Nachteile aber sind ebenfalls nicht zu übersehen: Zum einen die einseitige Betonung rein antisozialer Verhaltensstile (und damit überwiegend das männliche Geschlecht betreffend), dann die häufige Überlappung antisozialer Verhaltensweisen mit Rauschdrogen- und Alkoholkonsum, Missbrauch oder gar entsprechender Abhängigkeit. Und schließlich eine Reihe weiterer "Schwachpunkte" aus wissenschaftlicher und klinischer Sicht, die aber hier zu weit führen würden. Auf jeden Fall sind die DSM-IV-Kriterien der antisozialen Persönlichkeitsstörung der APA für viele zu einseitig, zu wenig differenziert (den Bedingungen des Lebens in der westlichen Welt angepasst) und wohl auch zu direkt US-amerikanischen Verhältnissen entsprechend.

Was sagen nun die Forscher und Kliniker der Weltgesundheitsorganisation (WHO)?

Die dissoziale Persönlichkeitsstörung

Die dissoziale Persönlichkeitsstörung, wie sie im ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert wird, beschreibt nach Ansicht der Experten entsprechend problematische Verhaltensweisen und relevante (bedeutsame) Persönlichkeitseigenschaften genauer, vor allem was Gefühlsarmut und Unfähigkeit anbelangt, aus Bestrafung zu lernen.

Um die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung nach den ICD-10-Forschungskriterien stellen zu können, müssen als erstes die allgemeinen Kriterien für eine Persönlichkeitsstörung erfüllt sein. Beispiele (s. o.):

  • Tief verwurzelte, anhaltende Verhaltensmuster, die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen zeigt. Dabei findet man gegenüber der Mehrheit der betreffenden Bevölkerung deutliche Abweichungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in Beziehungen zu anderen. Solche Verhaltensmuster sind meist stabil und beziehen sich auf vielfältige Bereiche von Verhalten und psychischen Funktionen. Häufig gehen sie mit persönlichem Leiden und gestörter sozialer Funktionsfähigkeit einher. Weitere Aspekte siehe das Kapitel über Persönlichkeitsstörungen.

Darüber hinaus müssen mindestens drei der folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen vorliegen:

- Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer.

- Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen.

- Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen.

- Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten.

- Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen.

- Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen (durchsichtig wirkende nachträgliche Begründung unbewusster Motive) für das Verhalten, durch das die Betreffenden in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind.

"Gewissenlose Psychopathen"

Dass einem ein Mensch als Persönlichkeitsstörung im Alltag "aufstößt", vor allem, wenn er Merkmale der antisozialen oder dissozialen Persönlichkeitsstörung aufweist, ist eigentlich kein Problem, handelt es sich doch um eine individuelle Feststellung, eine persönliche Diagnose mit allen Konsequenzen, die der Betreffenden daraus ziehen kann, darf oder will (was ja von vielen Faktoren abhängt, man denke nur an einen Vorgesetzten oder nahen Verwandten mit entsprechenden Wesenszügen ...).

Schwieriger wird es in der Wissenschaft, z. B. in der forensischen Psychiatrie, die sich ja dann auch mit der Frage: schuldfähig oder nicht, weil beispielsweise seelisch krank, beschäftigen muss. Hier gilt es Instrumente zur standardisierten Diagnostik solcher Persönlichkeitsstörungen zu erarbeiten. Das sind meist so genannte halb-strukturierte Interviews (d. h. zum einen vorgegeben, zum anderen bis zu einer gewissen Grenze persönlich variierbar). Dabei kann aber die Erfahrung eines forensischen Psychiaters nicht schaden, wie man sich denken kann. Und die so genannte Fremd-Anamnese, d. h. die Erhebung der Vorgeschichte durch die Hinweise Dritter.

Dazu gibt es Check-Listen, die sehr konkret zur Sache gehen, vor allem was Impulsivität, geringe Introspektions-Fähigkeit ("Innenschau") und Selbstkritik, Mangel an Empathie (Zuwendung), Gefühlskälte, Egozentrizität, überhöhten Anspruch, paradoxe (widersinnige) Anpassungs-Erwartungen u. a. anbelangt. Bei solchen Menschen kehrte man deshalb wieder zu dem alten, wegen seiner Stigmatisierung oder gar Diskriminierung verlassenen Begriff der "Psychopathie" zurück.

Solche "Psychopaths", wie man sie im angelsächsischen Bereich nennt, gelten in Fachkreisen deshalb als eine (mögliche) Untergruppe der antisozialen Persönlichkeitsstörung, die vor allem durch problematische Persönlichkeitsmerkmale und eine hohe Rückfall-Gefahr gekennzeichnet ist. Außerdem wird in diesem Zusammenhang von verstärkter Delinquenz (krimineller Anfälligkeit) gesprochen, insbesondere wenn psychosoziale Belastungsfaktoren und nur beschränkte geistige Gaben hinzukommen.

Eine solche Psychopathie-Check-Liste wurde beispielsweise in Kanada erarbeitet (R. D. Hare u. Mitarbeiter) und enthält durchaus eindrucksvolle Kriterien, wie der forensische Psychologe und sein Team auch in dem Buch "Gewissenlose Psychopathen" detailliert geschildert hat (siehe Literatur). Was versteht er darunter?

Trickreich sprachgewandter Blender mit oberflächlichem Charme, erheblich übersteigertes Selbstwertgefühl, Stimulationsbedürfnis (Erlebnishunger) bei ständigem Gefühl der Langeweile, krankhaftes Lügen (Fachbegriff: Pseudologie), betrügerisch-manipulatives Verhalten, Mangel an Gewissensbissen oder Schuldbewusstsein, oberflächliche Gefühle, Mangel an Empathie (Einfühlungsvermögen) bis zur Gefühlskälte, parasitärer Lebensstil ("gnadenloser Ausnutzer"), unzureichende Verhaltenskontrolle, Promiskuität (Geschlechtsverkehr mit häufig wechselnden Partnern), frühe Verhaltensauffälligkeiten, Fehlen von realistischen, langfristigen Zielen, Impulsivität (spontan bis unkontrolliert), Verantwortungslosigkeit, mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit, Verantwortung für eigenes Handeln zu übernehmen, viele kurzzeitige partnerschaftliche oder eheliche Beziehungen, Jugendkriminalität, Missachtung von Weisungen und Auflagen, politrope (häufig wechselnde) Kriminalität u. a.

Bei solchen Check-Listen kann natürlich bei entsprechender Persönlichkeitsstruktur ein recht exaktes Negativ-Bild des Betreffenden erarbeitet werden. Allerdings fallen solche Eigenschaften auch bei anderen Persönlichkeitsstörungen auf, was das Problem der Ko-Morbidität beleuchtet (siehe unten).

Ko-Morbidität: Wenn eine Störung zur anderen kommt

Das Problem der Mehrfach-Erkrankung spielt im körperlichen Bereich eine große Rolle (man denke nur an den älteren Menschen: Herz, Kreislauf, Magen-Darm, Wirbelsäule, Gelenke, Immunsystem, Sinnesorgane u. a.). Das gleiche gilt für eine Reihe von seelischen Erkrankungen und hier vor allem für Persönlichkeitsstörungen. So finden sich beispielsweise enge Beziehungen zwischen der antisozialen und narzisstischen Persönlichkeitsstörung (siehe das ausführliche sowie das Kurz-Kapitel in dieser Serie). Allerdings spielen beim krankhaften Narzissmus Impulsivität, Aggressivität und Betrügereien keine entscheidende Rolle. Ansonsten gibt es schon Überschneidungen und "Verdichtungen", wenn beide Krankheitsbilder sich treffen. Das gleiche gilt für die histrionische (früher hysterisch genannte), paranoide (wahnhafte) und Borderline-Persönlichkeitsstörung (emotional instabil vom Borderline-Typ).

Auch zeigen Menschen mit einer antisozialen/dissozialen Persönlichkeitsstörung häufig Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit, d. h. sind alkohol-, rauschdrogen-, nikotin- und/oder medikamentensüchtig bis hin zur Mehrfach-Abhängigkeit (Fachbegriff: Polytoxikomanie).

Was sollte ausgeschlossen werden?

Natürlich kann ein antisoziales und damit delinquentes (straffälliges) Verhalten auch im Rahmen einer schizophrenen oder manischen Episode auftreten. Doch dann sind diese Verhaltensauffälligkeiten auf die jeweiligen Krankheitsphasen beschränkt. Es gibt aber auch die Mehrfachbelastung mit Persönlichkeitsstörung, manischer Hochstimmung und schizophrener Psychose.

Wie häufig ist eine antisoziale/dissoziale Persönlichkeitsstörung?

Die Frage, wie häufig eine antisoziale/dissoziale Persönlichkeitsstörung zu ertragen ist, hängt - wie man unschwer nachvollziehen kann, wenn man diesem Beitrag bis hierher gefolgt ist -, von der Diagnose bzw. deren Erhebungs- bzw. Untersuchungs-Instrumenten ab; und vor allem von der Klientel, die man gerade untersucht.

Die US-Amerikaner mit ihrem DSM-IV-TR berichten in ihrer Bevölkerung von 3% bei Männern und 1% bei Frauen. Dieser Geschlechts-Unterschied leuchtet zwar ein, hat aber auch seine eigene Begründung. Er hängt nicht nur mit den häufigeren Aggressionsdelikten und dem eher delinquenten Verhaltensstil bei Männern zusammen, sondern auch mit der Frage, was zählt bei der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung und hier vor allem einer antisozialen. Dissoziale weibliche Verhaltensstile, wie Vernachlässigung von Schutzbefohlenen oder ausbeuterisches Beziehungsverhalten finden sich nämlich in den gegenwärtigen diagnostischen Kategorien kaum, jedenfalls nicht adäquat berücksichtigt.

Und geradezu zum fürchten sind natürlich die Häufigkeitszahlen in Suchtbehandlungszentren, Gefängnissen und forensischen Abteilungen, nämlich bis zu 70%.

Wie verläuft eine antisoziale/dissoziale Persönlichkeitsstörung?

Wir haben schon gehört: Persönlichkeitsstörungen können im Alter vor allem in ihrem "Stör"-"Charakter" milder, unauffälliger, angepasster oder sogar schwieriger werden, sie können aber auch gleich bleiben.

Die antisoziale Persönlichkeitsstörung verliert aber in der Regel mit den Jahren an Bedeutung, vor allem was ihre soziale, gesellschaftliche, in diesem Punkt leider auch oft kriminelle Bedeutung anbelangt. Denn die kriminelle Laufbahn eines Menschen, der sich zumindest immer oder überwiegend im Bereich des Strafbaren bewegt, diese "Karriere" nimmt vom Jugendlichen über den jungen Erwachsenen bis zum mittleren Lebensalter ab, um jenseits der 40 dann meist deutlich zurück zu gehen. Damit schwindet auch das diagnostische Merkmal einer delinquenten Verhaltensstils, was ja zum Charakteristikum der antisozialen/dissozialen Persönlichkeitsstörung weitgehend beiträgt.

In diesem Zusammenhang muss auch gesagt werden, dass antisoziale Persönlichkeiten ein erhöhtes Risiko eingehen, eines unnatürlichen Todes zu sterben. Sie sind nicht nur gehäuft Täter, sonder auch Opfer von Gewalttaten. Außerdem haben sie gegenüber der Normalbevölkerung ein verstärktes Selbsttötungsrisiko.

Wie zeigt sich eine spätere antisoziale/dissoziale Persönlichkeitsstörung im Kindes- und Jugendalter?

Kennzeichnend für eine Persönlichkeitsstörung generell ist ja das bereits frühe Störungs- oder Krankheitsbild, was in der US-amerikanischen Fassung auch mit einem konkreten Alter versehen wird. Tatsächlich gehen antisoziale/ dissoziale Persönlichkeitsstörungen fast regelhaft mit einem devianten (von der Norm abweichenden) Verhalten im Jugendalter einher, was sich z. T. schon im Kindesalter abzeichnen kann.

So finden sich bei fast zwei Drittel aller Kinder mit Störungen des Sozialverhaltens schon im Alter bis zu zwölf Jahren bereits drei oder mehr Symptome einer antisozialen Persönlichkeitsstörung (siehe oben). D. h. Kinder und Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens zeichnen sich durch ernsthafte dissoziale Verhaltensweisen mit körperlicher Aggressivität gegenüber Menschen und Tieren aus, ergänzt durch Zerstörung von fremdem Eigentum, Brandstiftung und sonstigen grenzwertigen bis kriminellen Verhaltensweisen. Dabei differenziert man in dem DSM-IV-TR-System zwischen einem Typus, der bereits vor dem 11. Lebensjahr auffiel (englischer Fachbegriff: "early starter") und einer später auftretenden Form ("late starter").

Das hat naturgemäß einen Einfluss auf die prognostischen Aspekte, d. h. den Krankheits- oder - wenn es gut geht - Heilungsverlauf, Prognose genannt. Die früh beginnenden Störungen des Sozialverhaltens (d. h. vor dem 11. Lebensjahr) gleiten besonders oft in eine spätere antisoziale Persönlichkeitsstörung ab. Dies vor allem dann, wenn auch eine unterdurchschnittliche geistige Leistungsfähigkeit vorliegt. Dem gegenüber sind die "Spät-Starter" etwas günstiger dran. Sollte aber ihr gestörtes Sozialverhalten mit einer Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS, populär als "Zappelphilipp" bezeichnet) zusammenfallen, dann droht die so genannte hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens, die auch von schwereren Formen antisozialen Verhaltens begleitet sein kann.

Wenn sich dann noch einige jener Charakterisierungen abzeichnen, die in der erwähnten "psychopathischen Check-Liste" angedeutet wurden (man erinnere sich vom trickreichen, sprachgewandten Blender bis zur polytropen Kriminalität), und dies bereits in jungen Jahren, dann sieht die Zukunft besonders düster aus.

Nachfolgend deshalb zur besseren Orientierung eine tabellarische Übersicht zum gestörten Sozialverhalten aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht:

VOM GESTÖRTEN SOZIALVERHALTEN BIS ZUR ANTISOZIALEN PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG

Zu den Störungen des Sozialverhaltens zählt man in der Kinder- und Jugendpsychiatrie typische kindliche antisoziale Handlungen wie ständiges Streiten, Lügen und Weglaufen, und natürlich Gewaltverbrechen und kriminelle Handlungen jeglicher Art.

Die Häufigkeit dieser Störung bei Heranwachsenden liegt bei 2 bis 8%. Jungen sind in einem Verhältnis von 5:1 deutlich häufiger betroffen als Mädchen.

Bei etwa der Hälfte der betroffenen Kinder bilden sich diese Negativ-Symptome im Erwachsenenalter wieder zurück. Die andere Hälfte aber geht ein deutliches Risiko ein, auch später durch delinquentes (kriminelles) Verhalten aufzufallen oder sogar eine antisoziale Persönlichkeitsstörung zu entwickeln (man spricht von jedem Zehnten).

Die Frage, wen diese unglückseilige Entwicklung treffen könnte, lässt sich offenbar durch eine genaue Untersuchung klären, die auch rückwirkend entsprechende Hinweise berücksichtigt. So fand man bei Patienten mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung in zwei Drittel der Fälle bereits vor dem 12. Lebensjahr drei oder mehr Krankheitszeichen, die auf ein fortdauerndes späteres dissoziales Verhalten hinweisen.

Solche prognostischen Risikofaktoren für einen ungünstigen Heilungs- und damit Lebensverlauf sind beispielsweise:

- Männliches Geschlecht (s. o.), bei dem mit einer grundsätzlich höheren Wahrscheinlichkeit angenommen werden muss, dass das ursprüngliche dissoziale Verhalten beibehalten und sogar eine antisoziale Persönlichkeit entwickelt wird. Bei Mädchen gehen die Beschwerden eher "nach innen", haben also eine mehr "still leidende Komponente", weniger nach außen abgeführte aggressive Reaktionen.

- Eine ungünstige Prognose besteht auch für Kinder, bei denen dissoziales Verhalten schon im Vorschulalter bzw. vor dem 11. Lebensjahr zu beobachten ist. Die Wissenschaftler nennen diese Gruppe "early starters", im Gegensatz zu jenen Betroffenen, bei denen es erst im Jugendalter deutlich wird (so genannte "Late-onset-Typus").

Beim frühen Krankheitsbeginn finden sich auch häufiger so genannte komorbide Erkrankungen (wenn zu einem Leiden ein anderes oder gar mehrere kommen). Hier vor allem die inzwischen in heißer Diskussion stehende Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) sowie Teilleistungsstörungen mit kognitiven (geistigen) Defiziten, besonders im Bereich verbaler Intelligenz (Ausdrucksfähigkeit) und unzureichender Gedächtnisfunktionen.

- Belastend ist auch ein häufiger Wechsel von Bezugspersonen bis zum 11. Lebensjahr, einer der wichtigsten psychosozialen Risikofaktoren für fortdauerndes antisoziales Verhalten.

- Ganz allgemein wird aber auch dem Erziehungsstil der Eltern eine zentrale Bedeutung beigemessen - einschließlich dem Risiko, in eine antisoziale Persönlichkeitsstörung abzugleiten. Dazu die Experten: Wenn adäquate Interaktionen (also angepasste zwischenmenschliche Reaktionen) des Kindes von den Eltern nicht wahrgenommen werden, dafür aber schon kleinere Vergehen zu harten elterlichen Strafen führen, verschlechtert dieser folgenschwere Erziehungsstil die Heilungsaussichten des Kindes. Denn die Reaktion der Eltern auf dissoziales Verhalten ist damit letztlich mit einer Art von "Zuwendung" verbunden, wenn auch mit negativer. So wird das Auftreten erwünschten Verhaltens aber nur negativ verstärkt und dissoziales Verhalten wahrscheinlicher.

- Umgekehrt reagieren Kinder mit Störungen des Sozialverhaltens häufiger aggressiv als nicht dissoziale Gleichaltrige, da sie ihr Gegenüber oft als feindselig wahrnehmen und mehr Schwierigkeiten haben, sich in andere hinein zu versetzen.

- Zu den so genannten "aversiven familiären Bedingungen", die die Gesamtsituation nur verschlechtern können, zählen vor allem Arbeitslosigkeit, Delinquenz (kriminelles Verhalten) und seelische Erkrankungen der Eltern selber (wozu dann meist auch noch der erwähnte inkonsequente und vor allem vom Kind schwer durch- und überschaubare Erziehungsstil solcher Eltern kommt).

- Der genetische Aspekt, also die Erbanlage, war schon früher ein großes Thema, trat aber in der wissenschaftlichen Diskussion und vor allem in der Allgemeinheit hinter den ja meist augenscheinlich "belastenden Umweltbedingungen" (s. o.) zurück. Inzwischen ist die Forschung aber hier weiter und stellt fest: Untersuchungen an Risiko-Populationen zeigen, dass die Söhne krimineller Väter doppelt so häufig verurteilt werden wie die von vorstrafenfreien Tätern.

- Das wäre aber erst einmal der Beweis für eine mehrschichtige Ursache, denn Väter im Gefängnis oder auf der Flucht können vermutlich keine guten Erziehungsberechtigen abgeben. Doch weiß man inzwischen auch, dass die Gefahr, eine Störung des Sozialverhaltens bzw. gar eine antisoziale Persönlichkeitsstörung zu bekommen dann deutlich größer wird, wenn auch bei einem biologischen Elternteil eine solche Störung vorliegt.

- Heute sind es vor allem umfangreiche Adoptions- und Zwillings-Studien, die neben den umweltbedingten Risikofaktoren die genetische Bedeutung unterstreichen. Ja, große Studien gehen sogar soweit, dass sie bei nachgewiesener Erb-Belastung den Einfluss von Umweltfaktoren deutlich schwächer einstufen, als die "biologische Last".

- Denn inzwischen gibt es auch eine Reihe von biochemischen, neurophysiologischen, bildgebenden und psychophysiologischen Untersuchungsbefunden, die übereinstimmend auf so genannte "biologische Marker" hinweisen, die als "Vulnerabilitäts-Faktoren" für dissoziales Verhaltens interpretiert und als problematische Vorhersage-Kriterien eingestuft werden müssen.

Zusammenfassend deshalb noch einmal die Merkmale betroffener Kinder und ihres familiären Umfeldes mit hohem Risiko für eine spätere antisoziale Persönlichkeits-Entwicklung:

- Betroffene Kinder: frühes dissoziales Verhalten (vor dem 10. bis 12. Lebensjahr) vom "early-starter-Typus".

- Eltern und Familie: dissoziales und delinquentes Verhalten, Vorstrafen, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, inkonsistentes Erziehungsverhalten, mangelnde Beaufsichtigung des Kindes, Eheprobleme, höhere Anzahl von Kindern in der Familie u. a.

- Dissoziales Verhalten: häufig und schwerwiegend, Auftreten in verschiedenen Bereichen (zu Hause, Schule, Verein), gegen unterschiedliche Personen gerichtet, teilweise grausam und mit Delinquenz verbunden (nach A. E. Kazdin, 1996, zitiert nach T. Vloet u. Mitarb., 2006)

Aus T. Vloet u. Mitarb.: Prädiktoren dissozialen Verhaltens. Der Nervenarzt 7/2006 782

Was kann zu einer antisozialen/dissozialen Persönlichkeitsstörung führen?

Ein Mensch mit einer antisozialen oder dissozialen Persönlichkeitsstörung mag für sein Umfeld noch so belastend sein, für sich selber ist er das nicht weniger. Wir haben ja auch gehört, dass er nicht nur früher Opfer einer Gewalttat werden kann als andere, sondern auch noch häufiger von eigener Hand stirbt. Das spricht Bände. Es ist also unwahrscheinlich, zumindest nach einiger Zeit der persönlichen Erfahrung auf dieser Welt, vor allem mit Mitmenschen, die sich zu wehren wissen, dass jemand so etwas freiwillig aufzieht und vor allem durchzieht. Es müssen also schicksalhafte Ursachen eine Rolle spielen. Was gehört dazu?

Über den psychologischen Teufelskreis, der sich im Rahmen einer solchen Persönlichkeitsstörung zusammenbraut und ggf. immer enger zieht, muss nicht weiter diskutiert werden. Selbst persönlichkeitsgestörte Menschen in erst einmal und scheinbar unantastbarer, übergeordneter, ja mächtiger Position, die sich noch so gnadenlos gebärden sollten, werden irgendwann von der "Hand der Gerechtigkeit berührt", zuerst vielleicht sanft, nach und nach aber immer konsequenter, härter, jetzt vor allem für sie selber.

Wer das nicht begreift, dass er einlenken, dazu lernen, praktische Schlussfolgerungen im Alltag ziehen muss, sonst geht er unter, der ist scheinbar "unbelehrbar" - oder krank, also seelisch krank. Das wäre ja nun das Charakteristikum einer psychischen Störung, in diesem Fall einer Persönlichkeitsstörung.

Warum aber? Was spielt sich hier ab? Was belastete bereits im Vorfeld eines menschlichen Lebens, also in der Vorgeschichte von Eltern, Großeltern und sonstigen Verwandten, die beispielsweise ihren genetischen Erb-Teil beigetragen haben, auf das das spätere Menschenkind (und jetzt müsste man es bei negativer Belastung als Opfer bezeichnen), auf das es also keinen Einfluss hatte?

Und schließlich danach, wenn sich das Umfeld zu wehren beginnt: Angefangen in der Herkunftsfamilie, fortgesetzt in weiterer Verwandtschaft, Nachbarschaft, in der Schule, am Ausbildungsplatz, bei der Partnerwahl, im "Freundeskreis", bei der Arbeit - wann auch immer? Wenn grundsätzlich keine "vernunft-gesteuerte Reaktion" zu registrieren ist, dann kommt auch beim Umfeld der Verdacht auf, dass sich hier etwas auf "genetischen Schienen" bewegt, unbelehrbar und deshalb folgenschwer bis zum seelischen, psychosozialen, wirtschaftlichen oder gar körperlichen Ruin.

Und in der Tat: Für einen sogar erheblichen genetischen Faktor als Basis einer dissozialen Persönlichkeitsstörung gibt es eine überwältigende Evidenz, wie das die Experten nennen, also in diesem Fall eine statistisch fundierte Gewissheit. Mit anderen Worten: Wenn bei einem biologischen Elternteil eine antisoziale Persönlichkeitsstörung vorliegt, droht auch in einem nicht geringen Prozentsatz der Fälle für das Kind das Gleiche.

Genetische Einflüsse tragen vor allem zur Entwicklung von Kriminalität, aggressivem Verhalten, Impulsivität sowie eben einer dissozialen Persönlichkeitsstörung bei. In einer retrospektiven (also rückwirkenden, die vorhandenen Untersuchungen sammelnden) Studie an über 2.600 Zwillingen konnte ein deutlicher genetischer Effekt in 71% der Fälle nachgewiesen werden.

So etwas ist also in direkter Weise möglich, aber auch indirekt, gleichsam durch Erhöhung der so genannten Vulnerabilität, also Verwundbarkeit gegenüber negativen Umwelteinflüssen (psychosoziale Risikofaktoren genannt). Wenn also ein Kind einer schweren Vernachlässigung ausgesetzt ist, kann sich daraus schon ein großes Problem im späteren Lebensverlauf entwickeln. Das leuchtet jedem ein. Noch problematischer aber wird es, wenn ein Kind mit ererbter Störung des Sozialverhaltens in der entscheidenden Lebensphase vernachlässigt wird; dann sind die Konsequenzen noch folgenschwerer. Selbst biologisch lässt sich das in genetischen Untersuchungen zurückverfolgen.

Und um beim Stichwort biologisch zu bleiben: Zurzeit arbeitet man intensiv an der Frage, ob bestimmte Botenstoffe des Gehirns (also der Gehirnstoffwechsel mittels so genannter Neurotransmitter) eine entscheidende Rolle spielen. Das ist für einige von ihnen bereits gesichert (z. B. erniedrigter Serotonin-Spiegel mit verstärkter Aggressivität), bei anderen noch unklar, aber verdächtig (z. B. Dopamin, Noradrenalin). Außerdem spielen noch Hormone wie Testosteron und Vasopressin eine aggressions-fördernde Rolle, während Cortisol und Oxytocin aggressive Durchbrüche eher zu hemmen scheinen.

Während man sich nun die neuro-hormonellen Befunde kaum plastisch vorstellen kann, ist das bei den morphologischen, die also die fassbare (Gehirn-) Gestalt betreffend, ganz anders. Hier gibt es ja inzwischen moderne Untersuchungsmethoden der so genannten strukturellen und funktionellen Bildgebung, die sogar Teile des Gehirns eindrucksvoll darzustellen vermögen, und damit natürlich auch Veränderungen gegenüber normaler Gehirnstrukturen.

So weiß man beispielsweise schon früher (z. B. aus Kriegs-Verletzungen), dass den so genannten fronto-orbitalen Abschnitten des Gehirns, d. h. dem augenhöhlen-nahen Stirnhirn-Anteil eine wichtige Funktion in der Bedeutung von Gemüt und damit auch entsprechender Gedanken und Verhaltensmuster (einschließlich Störungen?) zukommen. Dies betrifft vor allem das Erkennen (und Respektieren?) der gemütsmäßigen Bedeutungsinhalte von Situationen in Bezug auf Belohnung und Bestrafung.

So wundert es nicht, dass Menschen, die hier verletzungsbedingt beeinträchtigt sind, entsprechende Auffälligkeiten zeigen, und zwar plötzlich und sehr im Gegensatz zu ihrem früheren Charakter. Und es wundert nicht, dass antisoziale Persönlichkeitsstörungen ebenfalls Auffälligkeiten in dieser Region aufweisen, wie die strukturelle und funktionelle Bildgebung demonstriert. Einzelheiten mit den Fachbegriffen der betroffenen Gehirnregionen würden hier zu weit führen, aber das Stirnhirn, von dem man früher annahm, es hätte überhaupt keine ernsteren Funktionen, ist auch bei den neuesten Erkenntnissen wieder dabei - zu Lasten der persönlichkeitsgestörten Untersuchten.

In zunehmendem Maße beschäftigt sich auch die Psychophysiologie mit antisoziale Störungen jeder Altersgruppe. Dies betrifft vor allem das ausgeprägte und stabile (also letztlich nicht lernfähige) Delinquenz-Verhalten.

Interessant dabei sind die so genannten Hautleitwertreaktionen, die bei solchen Menschen reduziert sind bzw. sich schneller an entsprechende Reize gewöhnen. Übrigens auch bei den biologisch belasteten Vätern der untersuchten Probanden. Wenn man das ganze psychologisch weiter spinnt, dann könnten die Betroffenen tatsächlich eine verminderte konditionierte Angstreaktion durch Hyporeagibilität des autonomen Nervensystems aufweisen. Oder auf Deutsch: Jeder lernt durch Erfahrung, wird gleichsam auf die Erkenntnis konditioniert bzw. geprägt, "das solltest du lieber lassen, das geht nicht gut, das hat (schmerzhaft im seelischen, wie körperlichen Sinne) Folgen, und zwar bei gleichen Bedingungen so gut wie immer gleich".

Dadurch wird eine Art Furcht ausgelöst, verbunden mit der Ursache, die es ab jetzt zu vermeiden gilt. Das lernt das Gehirn und damit der Betroffene selber. Und wenn er das willentlich nicht lernt, dann folgt die Strafe auf dem Fuß, und zwar in der jeweiligen Konsequenz von Ursache und Wirkung.

Wer jetzt hier nicht ausreichend sensibel und selbst-kritisch empfinden und damit reagieren kann (z. B. hyposensibel und damit hyporeagibel, wie die Experten sagen), weil beispielsweise sein autonomes Nervensystem dafür nicht die sonst üblichen Gehirnfunktionen entwickelt hat, der kann eben auch nicht oder nur schwer aus Strafe lernen.

Das ist einerseits das Feuer, in das man nicht grundlos hineingreifen sollte (wie ein Kind schon vor Tausenden von Jahren rechtzeitig gelernt hat), das sind aber auch höhere Aspekte wie Gemüt, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Mitleid u. a. Und wenn die nicht ausreichend ausgebildet sind, dann folgen jene kennzeichnenden Merkmale, wie sie in den Tabellen der antisozialen oder dissozialen Persönlichkeitsstörung aufgeführt sind.

Oder kurz: Es gibt Menschen, die sind schon (z. B. erblich bedingt) nicht von ihrer Gehirnstruktur und -funktion dafür ausgebildet, "normal mitmenschlich" zu empfinden und zu reagieren. So etwas nennt man dann eine gestörte Persönlichkeit; und wenn die sich bevorzugt in gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher Hinsicht äußert, eine antisoziale oder dissoziale Persönlichkeitsstörung.

Es sieht sogar so aus, als ob diese "Unter-Empfindlichkeit" für solch höhere Gemüts- bzw. Charakter-Eigenschaften dazu beitragen könnte, dass jemand nicht nur nicht normal empfinden kann, was andere empfinden, sondern sogar noch schlimmer, also "unempfindlich" reagiert, als ob er das Ganze noch auf die Spitze treiben wolle (oder konkreter: auf die Spitze treiben müsse, denn er läuft je letztlich auf einer erb-bedingten und damit biologischen Schiene). Die Experten bringen damit auch noch das Phänomen des "sensation seeking" in Verbindung, also eine vermehrte und oft riskante Reiz-Suche.

Im Übrigen gibt es sogar so genannte pränatale Faktoren, die die Mutter vor und während der Schwangerschaft betreffen. So fand man, dass ein Alkoholmissbrauch und das mütterliche Rauchen in der Schwangerschaft mit einem 2- bis 4-fach erhöhtem Risiko für die Entwicklung einer Störung des Sozialverhaltens verbunden ist. Mütter, die in der Schwangerschaft rauchen, setzen nach entsprechenden Studien ihr Ungeborenes dem besonderen Risiko eines späteren fortdauernden (!) aggressiven und impulsiven Verhaltens aus. Ja, man spricht sogar davon, dass diesen Kindern eine besonders frühe Straffälligkeits-Karriere drohen könnte, bis hin zur gewalttätigen Kriminalität (wenn es sich um männliche Nikotin-Opfer im Mutterleib handelt).

Inwieweit hier die Genussgifte eine primäre oder sekundäre Rolle spielen, ist allerdings noch ungeklärt. Denn wenn eine Frau alkoholkrank oder nikotinsüchtig wird, hat dies ja auch eine eigene Vorgeschichte. Und wenn sie beides während ihrer Schwangerschaft nicht lassen kann, aus welchen Gründen auch immer, ist das ebenfalls eine mehrschichtige Voraussetzung, teils selber erblich, teils von ihrer Sucht-Persönlichkeit abhängig, teils auch schicksalhaft durch entsprechende Umwelt-Belastungen geprägt. Kurz: Es kann vieles eine Rolle spielen, und zwar in diesem Fall eine verhängnisvolle.

- Das leitet zum letzten Kapitel von Ursachen, Hintergründen und individuellen Motiven über, nämlich den so genannten psychosozialen Risikofaktoren für eine dissoziale oder antisoziale Persönlichkeitsstörung. Problematisch und weitgehend bewiesen sind dabei niedriger sozio-ökonomischer Status, geringe elterliche Aufsicht und die Zugehörigkeit zu einer ethnischen (also zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe) Minderheit.

Eine zentrale Bedeutung kommt auch dem elterlichen Erziehungsverhalten zu: Dazu gehören Zurückweisung, Mangel an Aufsicht (s. o.) und ein zu geringer Einbezug des Kindes in das Familienleben, was seelische, körperliche und vor allem gemütsmäßige Aspekte anbelangt.

So kann es beispielsweise und auf den ersten Blick paradoxerweise geschehen, dass ein Kind nur durch "aufsässiges", ja grenzwertiges bis straffälliges Verhalten die gewünschte Aufmerksamkeit seiner Eltern erreicht, auch wenn natürlich mit negativen Folgen. Unter diesem Aspekt ist es nicht verwunderlich, dass sich der Teufelskreis besonders schnell schließt und kaum mehr lösbar ist. Und wenn dann noch ein wiederholter Wechsel der Bezugspersonen oder der eines überforderten, weil beispielsweise allein erziehenden Elternteils hinzu kommt, ganz zu schweigen von Misshandlung und sozialer Isolierung (von dem Einzelnen bis zur gesamten Familie), dann lässt sich damit natürlich ein nicht geringer psychologischer Teil der dissozialen Entwicklung verstehen.

Was kann eine dissoziale oder antisoziale Persönlichkeitsstörung verhindern helfen?

Wer diesen Zeilen bis hierher gefolgt ist, den beschleicht wahrscheinlich eine gewisse Resignation. Was soll man auch in solchen Fällen tun, sie wirken irgendwie hoffnungslos, nicht nur in Bezug auf sich selber, auch was ihr leidendes Umfeld anbelangt. Das mag nicht immer so sein, je nach "charakterlicher Verdichtung der grenzwertigen bis folgenschweren Eigenschaften", doch die besonders verhängnisvoll gelagerten Extremfälle fordern ihren Preis, auch in Zukunft.

Deshalb legt man vermehrt ein Augenmerk auf so genannte protektive, d. h. vorbeugende Schutz-Faktoren gegenüber einer antisozialen Entwicklung. Auf was gilt es zu achten und vor allem was gilt es zu unterstützen?

Selbst in manch einem psychosozial hochbelasteten Umfeld sind gute, d. h. tragende, mitfühlende, dann auch erfolgreicher korrigierende Beziehungen eine heilsame Hilfe. Das wären dann die Eltern, zumindest aber ein Elternteil oder ein wichtiger Erwachsener, sei er verwandt oder nur bekannt, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft. Da sollte man nicht wählerisch sein, die Entscheidung trifft ohnehin der Patient mit einer antisozialen oder dissozialen Persönlichkeitsstörung. Solche positiven Bezugspersonen, die manchmal noch nicht einmal etwas von ihrer wichtigen psychologischen Stellung ahnen, müssen sich dann aber auch ihrer Verantwortung bewusst sein - und nebenbei einen "langen Atem" entwickeln. Der Erfolg ist nicht gerade augenscheinlich, die Enttäuschungen förmlich programmiert, der resignierte Rückzug verständlich - und doch, doch, doch...!

Weitere protektive Faktoren, diesmal auf den Betroffenen selber zentriert, sind eine möglichst hohe Intelligenz (also die angeborene und später ausgebaute Fähigkeit zu geistiger Leistung einschließlich Begabung und Erfahrung), das weibliche Geschlecht (Männer stellen sich hier grundsätzlich negativer), eine echte Beziehungsfähigkeit, ein solides Arbeitsverhalten (vor allem in der Schule) und eine hohe Kompetenz im nicht-schulischen Bereich.

Hier kommen einige ganz unterschiedliche Fähigkeit oder - wenn es negativ ausgeht - Defizite zur Sprache. Dafür sieht man dann aber auch, wie mehrschichtig ein Mensch angelegt ist und wo sich eine negative Häufung nachteilig bis katastrophal auswirkt und eine ausgewogene Mischung bei ansonsten grenzwertiger Anlage wenigstens auch ausgewogene Verhaltens-Verhältnisse zu schaffen vermag.

Zuletzt gibt es auch biologische Merkmale, die man sich beim Studium der oben dargelegten psychophysiologischen Forschungsergebnisse selber zu Recht legen kann (z. B. erhöhte autonome Reagibilität, zu messen am Hautleitwert, der Herzfrequenz u. a.). Deren vor allem diagnostische Nutzung ist allerdings eine aufwendige Angelegenheit und Spezialisten vorbehalten, gleich für welche Aufgabe (z. B. gutachterlich, wissenschaftlich, vielleicht sogar als therapeutische Unterstützung in einem mehrschichtigen Behandlungsangebot).

Was kann man therapeutisch tun?

Die besten Chancen für ein halbwegs unauffälliges Leben hat die rechtzeitige und konsequente Vorbeugung, beginnend mit früher Diagnose und gezielter Korrektur im Alltag. Wenn dies verpasst wurde, aus welchem Grund auch immer, bleibt nur noch die Therapie, sofern sie zustande kommt. Da spürt man allerdings durchgehend einen Hauch therapeutischen Pessimismus. Das muss nicht sein, wird sogar durch empirische (durch wissenschaftliche Erfahrung erhärtete) Hinweise widerlegt. Dies gilt vor allem für die

- Psychotherapie, also die Behandlung mit seelischen Mitteln. Am erfolgreichsten sind dabei - in der Fachsprache ausgedrückt - hoch-strukturierte behaviorale oder kognitiv-behaviorale Behandlungsverfahren. Sie wirken offenbar am besten der bekannten mangelhaften gemütsmäßigen Ansprechbarkeit im Allgemeinen und der erschwerten Lernfähigkeit aus Bestrafung im Besonderen entgegen.

Dabei geht es weniger um die Ausbildung emotionaler Faktoren wie Empathiefähigkeit, also Einfühlungsvermögen in andere Personen, was offenbar schon biologisch nicht gelingt und deshalb auch nicht langfristig nutzbar bzw. letztlich erfolgreich trainierbar ist. Gerade bei den "Psychopathen" (siehe die spezifische Untergruppe) sollte man eher auf eine Steuerung und Minderung der Impulsivität und besseren Verhaltenskontrolle abzielen. Das erfordert dann allerdings eine genaue Analyse des aggressiven Verhaltens. Und hier vor allem eine Analyse der im Vorfeld oder während der Gewalttat herrschenden aggressiven Gedanken (weniger der Emotionen, der Gefühle). Und dann natürlich die gemeinsam diskutierte Frage: Was hat mein aggressives Verhalten für Konsequenzen: zwischenmenschlich, familiär, partnerschaftlich, nachbarschaftlich, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, "auf der Straße" usw.

Es geht also, wenn man so will, um die einfachsten, oberflächlich und damit banal wirkenden seelischen und gedanklichen Einflüsse, die eine solche Persönlichkeit umtreibt.

Ergänzt wird diese Vorgehensweise noch durch bestimmte Verfahren, die die falsche Belohnungs-Erwartungen (aggressiven Verhaltens) und dann doch auch irrtümlichen Schlussfolgerungen korrigieren helfen, die ja ebenfalls die unzähligen Fehl-Reaktionen des Betreffenden zu bahnen pflegen (Fachbegriff: Stimulus-Kontrolle und kognitive Umstrukturierung). Denn schließlich geht es darum, die gerade bei dissozialen Persönlichkeiten häufig auftretenden Verleugnungs- und Bagatellisierungs-Prozesse anzugehen, oder allgemein verständlich: Stimmt es denn wirklich, dass es niemals ich bin, der hier ständig für Unruhe, Ärger oder Streit sorgt und wenn ja, ist das bisschen Gewalt denn wirklich so schlimm, es sorgt doch höchstens für klare Verhältnisse ...?

Günstig wirken sich auch bestimmte Trainings-Programme zur Verbesserung der sozialen Fertigkeiten aus (einfach zwischenmenschlich komplikationsloser funktionieren lernen), wobei vor allem das so genannte Rollenspiel und die Video-Technik hilfreich sind. Letztlich geht es einfach um die Frage: Problem erkennen, statt Aggression lieber gewalt-freie Lösungsmöglichkeiten und sein Ziel ohne kriminelle Gefährdung zu erreichen suchen. Und sich vor allem nicht ständig "hier und jetzt" gereizt-aggressiv zu verzetteln, sondern die große Zukunfts-Orientierung, den entscheidenden Lebens-Entwurf im Blick zu behalten.

Und wenn es schon passiert ist? Dann muss man an Methoden zur selbst kontrollierten Vermeidung von Rückfällen arbeiten (englischer Fachbegriff: relapse prevention). Hier wird die immer wieder auftretende und schließlich zum Delikt führende straf-riskante Verhaltenskette als entscheidende Risiko-Situation rückwirkend erarbeitet, entlarvt und hoffentlich für die Zukunft neutralisiert. Für jede dieser einzelnen Risiko-Situationen werden so genannte Coping-Mechanismen entwickelt, die den Delikt-Teufelskreis unterbrechen sollen. (Coping, wörtlich: Anstrengung zur Überwindung von Schwierigkeiten, auf das Seelenleben übertragen die bewussten und unbewussten Verhaltensweisen, die eine ggf. psychisch verletzliche Wesensart stabilisieren soll.)

- Die pharmakologische Behandlung der dissozialen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung wirkt auf den ersten Blick einfacher, ist es aber ebenfalls nicht. Was soll man denn medikamentös verändern, wenn es sich um eine "negative und dann noch überwiegend vererbte und schließlich durch das "genervte Umfeld" verhärtete Charakter-Variante" handelt und nicht um die konkreten und entsprechend psychopharmakologisch behandelbaren Krankheiten Schizophrenie, Depression, Angststörung u. a.?

Natürlich kann man psychotrope (auf das Seelenleben wirkende) Substanzen geben, beispielsweise das störende impulsive Verhalten zu dämpfen versuchen. Dazu gehören - auf unterschiedlichen Ebenen angreifend - bestimmte Antidepressiva, z.B. die selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer - SSRI oder atypische Neuroleptika, also Antipsychotika. Selbst das bei manischen und depressiven Störungen als Rückfallprophylaxe eingesetzte Lithium wurde schon versucht, des gleichen die gegen Epilepsie und ebenfalls zur manisch-depressiven Rückfallprophylaxe genutzten Substanzen Carbamazepin und Valproat. Und bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS, volkstümlich: "Zappelphilipp") mit Schwerpunkt auf dem impulsiv-aggressiven Verhalten die Psychostimulantien, hier vor allem das Methylphenidat.

Die therapeutischen Erfolge halten sich in diesen Fällen allerdings leider in engen Grenzen. Sie können aber vor allem beim ADHS durchaus beeindruckend sein. Insbesondere bei so genannten "reinen" antisozialen Persönlichkeitsstörungen ist jedoch die Psychopharmakotherapie nur eine Unterstützungsmaßnahme der psychotherapeutischen Bemühungen. Allerdings wird gerade auf diesem Gebiet in letzter Zeit wieder verstärkt geforscht, und das hat in der Psychiatrie noch immer irgendwann zu erstaunlichen (Spät-)Erfolgen geführt.

Forensische Aspekte der dissozialen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung

Die forensische Psychiatrie ist - wie bereits erwähnt - ein Teilgebiet der Psychiatrie, das sich mit den juristischen Fragen befasst, die sich im Zusammenhang mit psychisch kranken Menschen stellen. Sie bedient sich in erster Linie dreier Rechtsgebiete: Zum einen des Sozialrechts (Frage der Berentung), zum anderen des Zivilrechts (z. B. Geschäftsfähigkeit und Betreuungsrecht) sowie drittens des Strafrechts (Beurteilung der Schuldfähigkeit, der so genannten Legalprognose, d. h. wie geht es aus juristischer Sicht weiter, einschließlich des Maßregelvollzugs, in denen psychisch kranke und gestörte sowie suchtmittelabhängige Menschen behandelt werden).

Die Diagnose antisoziale Persönlichkeitsstörung nach DSM-IV-TR und der Dissozialität im Sinne der ICD-10-Klassifikation lässt zwar einiges vermuten, sagt aber nichts Konkretes über die Schuldfähigkeit aus. Sollte eine Schuld-Minderung diskutiert werden, dann müsste man beispielsweise eine "schwere andere seelische Abartigkeit" feststellen. Diese ist - so in der Fachsprache - durch eine "die Verhaltenssteuerung generell beeinträchtigende und in die wichtigsten Lebensbezüge ausstrahlende strukturelle Deformierung" der Persönlichkeit gekennzeichnet. Das sind also krankhafte Persönlichkeits-Defizite, die gegenüber der "reinen Kriminalität" eines ansonsten psychisch Gesunden abzugrenzen sind.

Gemäß einer interdisziplinären Arbeitsgruppe am Bundesgerichtshof könnten für die Einstufung einer Persönlichkeitsstörung als "schwere andere seelische Abartigkeiten" folgende Punkte sprechen (in der Fachsprache):

Erhebliche Auffälligkeiten der gemütsmäßigen Ansprechbarkeit bzw. der Affekt-Regulation; Einengung der Lebensführung bzw. Stereotypisierung des Verhaltens (ständig krankhaft wiederholt); durchgängige oder wiederholte Beeinträchtigung der Beziehungs-Gestaltung und psychosozialen Leistungsfähigkeit durch affektive (gemütsmäßige) Auffälligkeiten, Verhaltensprobleme sowie unflexible, unangepasste Denkstile; durchgehende Störung der Selbstwertregulation sowie deutliche Schwäche von Abwehr- oder Realitäts-Prüfungsmechanismen.

Das wäre also erst einmal die Grundlage, gleichsam die erwähnte Einstufung einer Persönlichkeitsstörung als schwere seelische Abartigkeit. Wie steht es nun aber um die Steuerungsfähigkeit im konkreten Fall der begangenen Straftat?

Auch das ist ein Thema für sich, z. B. die Frage, "ob auffällige Persönlichkeitsmerkmale des Probanden überhaupt in Verbindung zur begangenen Straftat standen und in der Tat-Situation zu einer "Desintegration psychischer Funktionen" mit erheblichen Einbußen der Steuerungsfähigkeit geführt haben." So können beispielsweise dissoziale bzw. antisoziale Denkstile zu einer besonderen Verführbarkeit im Rahmen einer scheinbar günstigen Situation beigetragen haben.

Das ist jedoch für sich genommen nicht schuldmindernd. Eine Schuldminderung kommt erst in Frage, wenn sich die problematischen Denkstile in das Gesamtbild der Persönlichkeit eingegraben haben und damit zu schwerwiegenden gemütsmäßigen, vor allem zwischenmenschlich belastenden Beziehungen einschließlich mangelhafter Impulskontrolle führen.

Für das Gericht bzw. zuvor für den forensischen Psychiater mit seinem Gutachter-Auftrag bedeutsam sind in Bezug auf die relevanten Beeinträchtigungen der Steuerungsfähigkeit folgende Aspekte: konflikthafte Zuspitzung und emotionale Labilisierung in der Zeit vor dem Delikt, abrupter impulshafter Tatablauf, bedeutsame konstellative Faktoren (z. B. Alkohol-Intoxikation) sowie ein enger Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsproblemen und Tat.

Dagegen sprechen gegen eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit solche Verhaltensweisen, die auf intakte psychische Funktionen schließen lassen, nämlich eine schon vorbestehende dissoziale Verhaltensbereitschaft, aus der dann das Delikt hervorgeht, planmäßiges Vorgehen und insbesondere eine entsprechende Tat-Vorbereitung, die Fähigkeit zu warten, d. h. ein u. U. lang hingezogenes Tat-Geschehen, komplexe Handlungsabläufe in Etappen, konkrete Vorsorge gegen die drohende Entdeckung und schließlich die Möglichkeit, unter vergleichbaren Umständen auch ein anderes Verhalten als das entsprechende Delikt zu wählen.

Deshalb besteht in forensischen und juristischen Kreisen eine relativ große Zurückhaltung, die antisoziale bzw. dissoziale Persönlichkeitsstörung für sich allein genommen, d. h. als alleinige Grundlage für eine Schuld-Minderung anzusehen. Die Diskussion um die so genannte "Charakter-Schuld" hält allerdings an. Jetzt schiebt sich vor allem die biologische Perspektive in den Vordergrund (siehe die Hinweise auf genetische Ursachen, strukturelle und funktionelle Hirn-Veränderungen, biochemische bzw. psychophysiologische Hintergründe u. a.).

Auf der Basis neuer Erkenntnisse scheinen sich derzeit auch neue Sichtweisen zu entwickeln, die eines Tages in überarbeitete forensische und juristische Beurteilungs-Aspekte und damit Gesetze münden könnten.

LITERATUR

Die früheren Psychopathien und heutigen Persönlichkeitsstörungen sind zwar seit jeher ein Thema von besonderer Wichtigkeit, sei es im Alltag bezüglich Familie, Nachbarschaft und Arbeitsplatz, sei es in der kriminologischen und forensischen Wissenschaft. An Fachliteratur mangelt es deshalb nicht, sogar an durchaus fundierten allgemein verständlichen Sachbüchern und Publikationen.

Bei der dissozialen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung, die natürlich in den entsprechenden Situationen für noch mehr Aufsehen, ja heftige Emotionen sorgen, wird es allerdings schon schwieriger, trotz des großen Interesses mit meist eindeutiger Schuldzuweisung aus der Allgemeinheit. Die Gründe gehen zum Teil aus dem obigen Text hervor, dürften sich aber angesichts der erfreulichen Forschungs-Fortschritte eines Tages klären und beheben lassen.

Wer sich für die wichtigsten deutschsprachigen Fachbüchern zum Thema Persönlichkeitsstörungen generell interessiert, der sei auf die verschiedenen Beiträge über Persönlichkeitsstörungen in dieser Serie hingewiesen. Zudem sollte man sich zwei 2005 bzw. 2006 erschienenen Übersetzungen älterer Werke aus dem angelsächsischen Bereich merken, die einen guten Einblick in die Wesensart antisozialer bzw. dissozialer Persönlichkeitsstörungen vermitteln, und zwar allgemein verständlich und spannend geschrieben:

Hare, R.D.: Gewissenlos - die Psychopathen unter uns. Springer-Verlag, Wien-New York 2005

Stout, M.: Der Soziopath von nebenan. Die Skrupellosen, ihre Lügen, Taktiken und Tricks. Springer-Verlag, Wien-New York 2006

Aus der großen Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen sei auf einen neuen Weiterbildungs-Artikel für die zertifizierte Fortbildung von (überwiegend psychiatrischen Fach-)Ärzten hingewiesen, der auch die Grundlage des zweiten Teils vorliegenden Beitrages darstellt und allen empfohlen sei, die sich mit diesem Thema fachlich beschäftigen müssen:

Habermeyer, E., S.C. Herpertz: Dissoziale Persönlichkeitsstörung. Der Nervenarzt 5 (2006) 605; dort auch weiterführende Fach-Literatur zum Thema

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).