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DYSTHYMIE: CHRONISCHE DEPRESSIVE VERSTIMMUNG

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Dysthymia – depressive Dauer-Verstimmung – anhaltende ängstliche Depression – depressive Neurose – neurotische Depression – depressive Persönlichkeit(sstörung) – depressives Temperament – hysteroide Dysphorie

Erkennen – Verstehen – Behandeln

Was eine Dysthymie ist, wissen nur wenige; unter einer depressiven Dauer-Verstimmung aber kann sich jeder etwas vorstellen. Kein Wunder, so etwas ist so alt wie die Menschheit und scheint in unserer Zeit und Gesellschaft eher häufiger zu werden. Das Beschwerdebild ist aber auch überaus belastend, und zwar nicht nur für die Betroffenen, auch für ihr Umfeld:

freudlos, lustlos, deprimiert, müde, abgeschlagen, Schlafstörungen oder übermäßiges Schlafbedürfnis, geringes Selbstwertgefühl, Merk- und Konzentrationsstörungen, hoffnungslos, Angstzustände, Reizbarkeit, Missmut, innerlich unruhig, nervös und gespannt, Aggressivität, Depersonalisations- und Derealisations-Erlebnisse, Kontaktstörungen, Suizidgefahr, Überempfindlichkeit, Rück­zug, Isolationsgefahr, verminderte Belastbarkeit, besondere Anfälligkeit für seelische und psychosoziale Verwundungen (Traumata) und zusätzliche seelische und körperliche Leiden usw.

Deshalb hat man sich schon sehr früh mit diesem Phänomen beschäftigt, kam aber immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: häufig, belastend, aber als konkretes Krankheitsbild schwer einzugrenzen. Aus diesem Grund sahen sich die entsprechenden Definitionen und Klassifikationen immer wieder neuen Entwürfen, Vorschlägen und Hypothesen ausgesetzt. Und das wiederum führte folgerichtig zu Verwirrungen und vor allem zu der wahrscheinlich irrigen Schlussfolgerung: Im Grunde gibt es die Dysthymie als eigenständiges Krankheitsbild gar nicht und chronische Dauerverstimmungen können überall und durch viele Ursachen ausgelöst und unterhalten werden.

Nachfolgend deshalb eine etwas ausführlicherer Beitrag zu diesem Thema, beginnend mit einem historischen Rückblick von der Antike bis heute und ergänzt durch neuere wissenschaftliche Überlegungen zu Häufigkeit, geschlechtsspezifischen Aspekten, Beschwerdebild, Verlauf, insbesondere was die Dysthymie in der Kindheit, bei Heranwachsenden, in den so genannten besten Jahren und im höheren Lebensalter anbelangt. Dazu einige biologische und differentialdiagnostische Aspekte.

Und dann doch konkrete Hinweise zur medikamentösen und psychotherapeu­tischen Behandlung. Denn wenn man sich auch über terminologische, noso­logische und ätiopathogenetische Fragen bisher noch nicht einig geworden ist (also Begriffe, Ursachen, Hintergründe u. a.), eines quält nun doch, seit die Menschheit besteht: das Leidensbild. Und von der Symptomatik und ihren Auslösern ausgehend lässt sich dann schon einiges zur Therapie und sogar Vorbeugung ableiten.


Erwähnte Fachbegriffe:

Dysthymie – chronische depressive Verstimmung – depressive Dauer-Verstimmung – Dysthymia – anhaltende ängstliche Depression – depressive Neurose – neurotische Depression – depressive Persönlichkeit(sstörung) – depressives Temperament – hysteroide Dysphorie – Sanguiniker – Choleriker – Phlegmatiker – Melancholiker – Körperbau und Charakter – Psychopathie – Persönlichkeitsstörung – Depression – Manie – abnorme seelische Reaktion – vegetative Dystonie – symptomatische Depression – exogener symptomatischer Reaktionstyp – manisch-depressive Störung – endo-reaktive Dysthymie – vegetative Dysfunktion – Charakter-Spektrum-Störung – affektive Dysthymia – major depression – chronisch sekundäre Dysthymie – double depression – doppelte Depression – minor depression – dysthyme Störungen in der Kindheit, im Erwachsenen- und höheren Lebensalter – Ko-Morbidität bei Dysthymie: Depressionen, Angststörungen, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts­störungen (ADHS), Persönlichkeitsstörungen, Suchtkrankheiten, neurologische, internistische u. a. Erkrankungen – Panikattacken – Verlauf der dysthymen Störung – Alters-Depression – Hypochondrie – kognitive Störungen – biologische Aspekte der Dysthymie – elektrophysiologische Befunde – neuroendokrinologische Befunde – neurochemische Veränderungen – genetische Einflüsse – bildgebende Verfahren – Pharmakotherapie - Antidepressiva – trizyklische Antidepressiva – MAO-Hemmer – SSRI-Antidepressiva – atypische Antidepressiva – Psychotherapie – tiefenpsychologische Behandlung – analytisch orientierte Einzeltherapie – kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung – Gruppentherapie – Familientherapie – systemische Familientherapie – u.a.m.

Jeder kennt solche Mitmenschen und spürt die Last für sich selber und andere, die von ihnen ausgeht. Einerseits tun sie einem fast Leid, andererseits ist es ungemein schwer, sie zu ertragen – je länger und vor allem je näher, desto mehr.

Gewiss: Die meisten kennen durchaus zusammenhängende Zeiten von Tagen oder gar Wochen, in denen sie ihr Befinden als halbwegs befriedigend beschreiben. Aber in der Regel fühlen sie sich müde, matt, antriebslos und damit leistungsschwach, kämpfen mit Schuldgefühlen (mit oder ohne Grund), grübeln über sich, ihr Umfeld, die Vergangenheit, die Gegenwart und Zukunft, sind unfähig zu genießen, dafür oft ärgerlich, reizbar oder gar aggressiv – kurz: „Das ist kein Leben“. Und vor allem: „Das war schon immer so, so bin ich eben“.

Dabei kommen diese Menschen mit ihrem Leben eigentlich ganz gut zurecht, auch wenn sie sich ständig unzulänglich fühlen und deshalb mit Minderwertigkeitsgefühlen kämpfen. Im Grunde würden sie gar nicht auffallen, wenn nicht von ihrer dauerhaft herabgestimmten Befindlichkeit eine belastende Atmosphäre ausging, die auch andere in ihrer Stimmung herabzieht, ja selber pessimistisch, unzufrieden, reizbar und aggressiv machen kann. Also meidet man sie – und der Teufelskreis schließt sich.

Ist das selten oder häufig? Oder fallen einem halt nur diese „negativistischen Kandidaten“ mehr auf als „problemlose und pflegeleichte Mitbürger“? Oder hat es zugenommen in unserer Zeit und Gesellschaft, die ohnehin zum Mäkeln, Nörgeln, Kritisieren, Klagen neigt und damit einer allgemeinen Unzufriedenheit Vorschub leistet?

Nachfolgend deshalb eine etwas längere Abhandlung zum derzeitigen Wissensstand über ein Phänomen, das zwar zum Menschsein gehört, aber glücklicherweise nicht bei allen, nicht einmal bei vielen und dann meist in „verdünnter“ Ausprägung. Dort aber, wo es nicht nur die anderen belastet, sondern den Betreffenden in allen Lebensbezügen nachhaltig und folgenschwer beeinträchtigt, und das letztlich ein ganzes Leben lang (auch wenn es die erwähnten Schwerpunkte und Erleichterungs-Phasen geben mag), dort handelt es sich offensichtlich um eine Störung, eine seelische Krankheit. Davon soll hier die Rede sein, basierend auf dem empfehlenswerten Buch:

peter hofmann (hrsg.)
dysthymie
diagnostik und therapie der chronisch depressiven verstimmung
Springer-Verlag, Wien-New York 2002, 93 S. € 29,80. ISBN: 3-211-83764-7

Die depressive Dauerverstimmung – ein historischer Rück­blick

Schon Hippokrates, der vor 2.500 Jahren bedeutendste Arzt des antiken Griechenlands, wurde vor allem durch seine Temperamenten-Lehre bekannt, die auf ein entsprechendes Mischungsverhältnis der vier Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle zurückzuführen sei. So kennen wir alle den heiteren Sanguiniker, den aufbrausenden Choleriker, den gemächlichen Phlegmatiker und den schwermütigen Melancholiker. Letzteres geht auf das Überwiegen der „schwarzen Galle“ zurück – so Hippokrates.

Viel bedeutsamer aber war die Kombination des Beschwerdebildes „Melancholia“, die sich schon damals aus den beiden Krankheitsbildern Phobie (Zwangsbefürchtung) und Dysthymie zusammensetzte. Dabei übernahm die Dysthymie (aus dem Griechischen: schlechte Laune) den affektiven, den Gemüts-Teil.

Im Mittelalter war nicht viel zu erwarten, vor allem nicht aus der Sicht der Seelenheilkunde (= Psychiatrie). Doch im 19. Jahrhundert begann die Erforschung der Geistesstörungen, ausgehend von französischen Ärzten, deren Erkenntnisse dann auch ihre östlichen Nachbarn, die deutschen Kollegen anregten.

  • So vor allem den Pathologen (Pathologie = Krankheitslehre) Prof. Dr. D.K.W. Stark und den Psychiater Prof. Dr. Carl Friedrich Flemming, einen bedeutenden Arzt, Klinikdirektor und Begründer der ersten erfolgreichen psychiatrischen Fachzeitschrift deutscher Sprache (Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie). Flemming unterschied zuerst zwischen „anoesia“, d. h. Störungen des Verstandes, „mania“, d. h. Tobsucht und „dysthymia“, d. h. Störungen des Gemüts. Und bei Letzterem unterteilte er noch in heiter, veränderlich oder apathisch (willenlos). Und nach dem Verlauf in plötzlich, anhaltend, nachlassend und partiell (teilweise). Die häufigsten Symptome waren schon damals eine missmutig-gereizte Verstimmung mit Angst, Denkhemmung und hypochondrisch-neurasthenischen Leibbeschwerden (volkstümliche Übersetzung: „klagsam und nervenschwach“).

Dass sich dann alles als viel komplexer herstellte, bekam auch C.F. Flemming zu spüren, weshalb er sein System später wieder verwarf, umarbeitete, neu definierte und der herrschenden (französischen) Lehrmeinung anpasste. Das lag nicht zuletzt daran, dass man sich von der reinen Theorie ab- und der klinischen Beobachtung zuzuwenden begann. Und da gab es dann ständig Überraschungen: je größer das Wissen, desto mehr. Ein solcher gut beobachtender Kliniker war übrigens K.L. Kahlbaum in der Mitte des 19. Jahrhunderts, der beispielsweise psychische Störungen unterteilte in Störungen der Intelligenz, des Willens und der Stimmung (Dysthymia genannt).

  • Um die nachfolgende Jahrhundertwende wurde die psychiatrische Krankheitslehre dann aber geradezu revolutioniert, und zwar durch den bedeutenden Psychiatrie-Professor Dr. E. Kraepelin, zuletzt München. Er beschrieb vier Grundzustände der Seele, nämliche die depressive Veranlagung (oder konstitutionelle Verstimmung), die manische Veranlagung (konstitutionelle Erregung) sowie die reizbare und zyklothyme Veranlagung. Und die seien in den meisten Fällen als „von Jugend aus bestehend“, also in der Veranlagung begründet und damit meist erblich bestimmt.

Dabei zeigte sich etwas, was zuvor und später immer wieder für Irritationen sorgte, nämlich ein ständiger Bedeutungs-Wechsel bekannter und bis dahin konkret definierter Begriffe, die plötzlich etwas ganz anderes besagten.

Das ist leider auch heute noch ein terminologisches Übel, das für viel Verwirrung sorgt: Gestern bedeutete demnach der Begriff X dieses (und vielleicht auch noch jenes), heute etwas ganz anderes. Und das Neue hat jetzt „amtliche Geltung“ und die daraus entstehenden Konfusionen „sind demnach ein persönliches Problem, man sollte sich halt ständig auf dem Laufenden halten...“. So etwas wird deshalb oft als unnötige Belastung, ja Zumutung, wenn auch altbekanntes wissenschafts-theoretisches Elend interpretiert, das allerdings von der gebildeten und interessierten Allgemeinheit durchaus negativ vermerkt wird und den Verdacht nährt: „gezielte Konfusion festigt das Ansehen...“.

Dysthymia: erste konkrete Beschreibungen

So war es auch bei E. Kraepelin, der den Begriff „dysthymia“ zwar nicht mehr für die depressive Konstitution beibehielt, dafür aber psychopathologisch (psychiatrische Krankheitslehre) klar umriss, nämlich:

„Beginnend in der Adoleszenz (...) zeigen sie eine bestimmte Empfindlichkeit gegenüber den Sorgen, Enttäuschungen und Bürden des Lebens. Alles belastet sie (...), ihr ganzes Leben ist durch ihr Leiden beeinflusst, sie fühlen sich schwach, ohne Energie (...), diese Patienten haben ein großes Bedürfnis zu schlafen, schlafen aber erst sehr spät ein (...), morgens fühlen sie sich nicht erfrischt sondern müde (...) und erst während des Tages erreichen sie einen angemessenen Zustand. Diese Krankheit manifestiert sich normalerweise während der Adoleszenz und bleibt unverändert während des Lebens fortbestehen.“

E. Kraepelin war übrigens ein hervorragender Beobachter. Er wanderte viel durch seine Klinik, füllte seine Taschen mit Zetteln voller Notizen, zog sich dann in die Berge zurück und verfasste in aller Ruhe seine bahnbrechenden Werke. Welch eine durchdachte, erfolgreiche und vor allem beneidenswerte Strategie...

Heute weiß man, das Meiste stimmt, jedenfalls nach dem derzeitigen Wissensstand: Die Dysthymie fängt häufig früh an (meist bei Heranwachsenden) und nimmt einen chronischen Verlauf, d. h wird zur Dauer-Verstimmung. Die Betroffenen leiden an ihrer subjektiv empfundenen Unzulänglichkeit, Freudlosigkeit, Lustlosigkeit und zeigen ein typisches depressives Muster (siehe später). Eine familiäre Häufung bei allen Depressionsformen war schon früher bekannt, wobei Kraepelin noch einmal bestätigte: Eine ausgeprägte Melancholie (heute Depression oder affektive Störung genannt) kann sich auch auf der Grundlage einer konstitutionellen Dysthymie (meist ererbten Verstimmung) entwickeln.

  • Einige Jahrzehnte später bekamen die Psychiatrie im Allgemeinen und dieses Konzept im Besonderen einen neuen Schub, zuerst durch die Typenlehre des Tübinger Psychiaters E. Kretschmer, der u. a. den Körperbau mit psychischen Erkrankungen in Verbindung brachte. Nach ihm handelt es sich bei der Dysthymie um ein angeborenes Temperament, das eine Veranlagung für Depressionen darstellt. Damals war seine Theorie, die Konstitution, Beschaffenheit, Temperament und Geisteskrankheit miteinander verband, ein viel zitiertes Phänomen, das nicht nur Psychiater faszinierte. Heute weiß man, dass sich diese Schlussfolgerungen so nicht halten lassen, doch die Anregungen für neue Konzepte waren gesetzt.
  • Professor Dr. K. Schneider aus Heidelberg beispielsweise erarbeitete eine Psychopathologie (s. o.), die so erfolgreich war, dass sie in vielen Nationen, insbesondere im angelsächsischen Bereich, viele Begriffe und Definitionen und selbst heute noch die modernen Klassifikationen prägte (z. B auch der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung – APA). Eine davon beschäftigte sich mit den psychopathischen Persönlichkeiten, wobei er die Psychopathen als spezielle Form der abnormalen Persönlichkeit auffasste, die lediglich „Varianten der Norm“ waren, von denen er zehn Formen beschrieb. Drei von ihnen haben eindeutige Gemüts-Merkmale, nämlich die depressiven, hyperthymischen und emotional labilen Psychopathen (Einzelheiten siehe die Kapitel über Persönlichkeitsstörungen, dem heutigen Fachbegriff für Psychopathie).
  • Dann wurde es eine Zeit lang ruhiger um die Dysthymie, bis in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts Professor Dr. H. Weitbrecht aus Bonn jene Depressionen näher zu erfassen versuchte, die aus dem manisch-depressiven Formenkreis (entweder manische Hochstimmung oder depressive Episode) herausfielen und doch zweifellos Krankheiten und nicht „nur“ abnorme seelische Reaktionen waren. Er verstand unter Dysthymie eine depressive Reaktion mit endogenem (also biologisch fundiertem) Einschlag. Und er versuchte – typisch für ihn – seine Kritiker schon im Voraus zu beruhigen, in dem er einräumte: „Ein Ärgernis für die strenge Diagnostik, jedoch ein Faktum, das umso weniger zu bezweifeln ist, je mehr man sich mit der Psychopathologie depressiver Zustände beschäftigt“.

Danach wurde er konkret und zählte bezüglich des Beschwerdebildes auf, was er darunter verstand: Depressiv gefärbte Erschöpfungszustände, inkretorisch (vor allem das Endokrinium, also die „inneren Drüsen“ betreffend) verursachte „symptomatische“ Depressionen sowie die vegetative Dystonie mit schwerer depressiver Färbung. Dabei handelt es sich nach seiner Meinung um jene Depressionszustände, die weder einfach psychoreaktiv (z. B nach Schicksalsschlag), noch im Sinne des exogen symptomatischen Reaktionstyps (Folge von körperlichen Leiden) zu verstehen waren und sich auch im Wesentlichen von den manisch-depressiven Zuständen unterschieden.

Allerdings war auch er sich im Klaren: Hier war eine endogene, also biologische und zumeist erbliche Komponente am Werk. Deshalb schuf er den Begriff endo-reaktive Dysthymie, weil hier neben endogenen auch psychogene und/oder somato-reaktive Faktoren eine Rolle spielen sollen. Oder auf Deutsch: erblich-biologisch, seelisch-psychosozial und durch körperliche Erkrankungen ausgelöst und/oder verstärkt.

Als wichtige Ursachen nannte er lange dauernde Entbehrungs-Situationen, die Einbuße von Heimat und Geborgenheit, Beruf und sozialer Eingliederung, den Verlust geliebter Angehöriger usw., was zu solchen Dysthymien führen könne. Der zu erwartende Teufelskreis sei dann gefestigt, wenn auch noch – und in der Regel sehr früh – so genannte vegetative Dysfunktionen hinzutreten. Beispiele: Störungen von Verdauung, Kreislauf, meist aber Schwindel, Kopfschmerzen u. a. Auf jeden Fall fühlen sich diese Menschen „krank“, schwach, antriebslos, von hypochondrischen Befürchtungen und Ängsten gepeinigt – und das über einen langen Zeitraum ihres Lebens und oftmals ohne wieder völlig auf die Füße zu kommen.

Das Beschwerdebild nach Weitbrecht setzte sich also vor allem aus einem deutlichen subjektiven Krankheitsgefühl mit Traurigkeit und „vitalen“ Befürchtungen zusammen, d. h. Angst, Hypochondrie und vegetativen Beschwerden, wobei schon früher häufiger körperliche Schwächezustände belasteten und die Rekonvaleszenz (Genesung) meist verzögert war.

  • Viele der zur gleichen Zeit ton-angebenden oder späteren Meinungsbildner unter den deutschsprachigen Psychiatern schlossen sich dieser Meinung an, auch wenn – wie erwähnt – neue Begriffe für das inzwischen akzeptierte Leiden geschaffen wurden, z. B. die neurotische Depression oder depressive Neurose.

Das betraf im Übrigen auch lange Zeit die angelsächsischen Psychiater und Psychologen, vor allem aus Großbritannien und den USA. So bezeichnete beispielsweise Prof. Dr. H. J. Eysenck aus London die Dysthymie neben der Hysterie als eine der beiden wichtigsten neurotischen Varianten. Für ihn war die Dysthymie (die nebenbei im englischsprachigen Bereich auch oft als minor depression bezeichnet wurde) eine Kombination aus neurotischen Angstzuständen, reaktiven Depressionen und Zwangsstörungen.

Das blieb so einen relativ langen Zeitraum, jedenfalls so lange wie die psychodynamischen Aspekte des Seelenlebens bevorzugt beforscht und als entscheidend bewertet wurden.

  • Mit der Entdeckung der chemischen Stimmungsaufheller, der Antidepressiva in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts verschob sich jedoch erneut der Schwerpunkt: Jetzt unterteilte man affektive (Gemüts-)Störungen entsprechend ihrer Ursache in organische, endogene, reaktive und neurotische Depressionen. Das war eine sehr praktische Differenzierung, die nach Ansicht vieler Ärzte zumindest „eine Zeit lang Ruhe an der diagnostischen und Behandlungs-Front garantierte“. Doch die Forschung schritt fort und erbrachte neue Erkenntnisse, z. B. was die Unterscheidung zwischen unipolaren und bipolaren Störungen anbelangt, d. h. ob jemand nur Depressionen oder zusätzlich manische Hochstimmungen zu ertragen hat. Und sie führte schließlich zu einem klassifikatorischen Umdenken, nämlich: Ist die Diagnose einer „neurotischen Depression“ überhaupt zu halten?

Tatsächlich fanden neuere Studien heraus, dass die „neurotische Depression so heterogen“ war, dass damit eine exakte Diagnose nicht mehr zu rechtfertigen schien. Das passte in das Gesamtkonzept einer neuen wissenschaftlichen Entwicklung, in der auch Begriff und Krankheitsbild der „Neurose“ in Frage gestellt und von den neuen international tonangebenden Klassifikationen schließlich gelöscht wurden.

Damit fiel aber eine zahlenmäßig nicht geringe und über Jahrzehnte besonders differenziert bearbeitete Patienten-Gruppe aus dem Gesamt-Konzept von Psychiatrie und Medizinischer Psychologie gleichsam heraus. Was tun? Immerhin bleiben trotz ständigen terminologischen (Begriffs-) Wechsels die Patienten übrig, wenn auch „ohne nomenklatorische, terminologische und klassifikatorische Berechtigung“, wie von spöttischen Kritiker eingewendet wurde – nicht zu Unrecht übrigens.

  • Man musste sich also etwas Neues einfallen lassen. Und siehe, hier bot sich wieder die alte Dysthymie an, heute beispielsweise von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) Dysthyme Störung genannt.

Natürlich wurde man auch hier durch die Vielfalt des Alltags erneut gezwungen, Kompromisse einzugehen, Überschneidungen zu akzeptieren und damit Unterklassen zu bilden. Solche Subformen sind beispielsweise die „subaffektive Dysthymia“ (eine auf Antidepressiva ansprechende Form) und die „Charakter-Spektrum-Störung“ (nicht auf Antidepressiva reagierend). Außerdem die „unvollständig remittierte, residuale Major Depression“ und die „chronisch sekundäre Dysthymie“. Das Ganze ist allerdings noch in einer lebhaften und vor allem fortschreitenden wissenschaftlichen Diskussion begriffen. Übereinstimmung konnte aber schließlich darüber erzielt werden, dass die Dysthymie die chronisch verlaufende Form einer Stimmungsstörung sei, die prinzipiell auf Pharmakotherapie anspreche, am besten aber mit Psychotherapie kombiniert.

Inzwischen gibt es zwei klassifikatorische Empfehlungen, die sich zwar weitgehend ähneln (wenn auch nicht völlig identisch). Die eine stammt von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit ihrer Internationalen Klassifikation psychischer Störungen – ICD-10, die andere von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) mit ihrem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen – DSM-IV-TR. Irgendwann wird man sich wohl einigen (müssen), wobei es aber – interessanterweise – keine einzelnen Vordenker mehr sein werden wie früher, sondern nationale Gesellschaften und internationale Vereinigungen auf der Basis so genannter Konsensus-Konferenzen, in denen man sich dann in der Regel auf den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zu einigen pflegt. Das ist zwar in der Regel ein wissenschafts-politischer Kompromiss, aber zumindest auf der Basis der neuesten Erkenntnisse. Was gilt derzeit?

  • Die Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert „Dysthymia“ als chronische depressive Verstimmung; der Unterschied zur leichten oder gar mittelgradigen rezidivierenden (immer wieder auftretenden) depressiven Störungen liegt im geringeren Schweregrad. Die Betroffenen fühlen sich oft monatelang müde und depressiv, können aber auch zusammenhängende Perioden von Tagen oder Wochen beschreiben, in denen es ihnen gut geht. Vor allem sind sie trotz bestehender subjektiv empfundener Unzulänglichkeit, trotz Schlafstörungen, Anhedonie (Lustlosigkeit, Freudlosigkeit) und dem Gefühl, das Leben nur mit hoher Anstrengung bewältigen zu können, durchaus in der Lage, den wichtigsten Anforderungen des Alltags gut zu entsprechen.

Charakteristisch ist insbesondere die langdauernde depressive Verstimmung, die gewöhnlich früh im Erwachsenenalter bzw. in der Jugend beginnt und mehrere Jahre belasten kann, manchmal auch lebenslang.

  • Die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) gilt derzeit als die aktivste Institution, was (vor allem neue) Definitionen und Klassifikationen seelischer Störungen anbelangt. Sie ist aber im Wesentlichen ein rein US-nationales Instrument, das sich kaum um die Belange anderer Völker und deren kulturelle und zivilisatorische Eigenheiten kümmert. Interessant sind ihre Vorschläge trotzdem, weil sie die vielen Widersprüche im Rahmen unterschiedlicher Disziplinen wiederspiegeln (Psychiater, Neurologen, Klinische Psychologen und die Psychotherapeuten der verschiedenen Behandlungsformen: z. B. tiefenpsychologisch, psychoanalytisch, verhaltenstherapeutisch, gesprächspsychotherapeutisch u. a.). Gerade bei der Dysthymie gab es deshalb – nachvollziehbarerweise – lebhafte Diskussionen, unterschiedliche Vorschläge und auch Klassifikationen, je nach Auflage des gemeinsamen Lehrbuchs Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – DSM.

Einzelheiten der neuesten Vorschläge nach DMS-IV-TR siehe das Lehrbuch selber. Dort setzt man sich vor allem mit der Differenzierung zwischen Dysthymie und Depression auseinander, wobei dann auch die so genannte double depression vorgeschlagen wurde, die aber nicht überall akzeptiert wird. (Eine double depression liegt dann vor, wenn sich auf eine Dysthymie eine biologische, früher als endogen bezeichnete Depression gleichsam aufpfropft.) Das Gleiche gilt für die schon erwähnte minor depression, also eine milde Form von Depression, die vorwiegend von Allgemeinmedizinern behandelt wird. Die einen halten sie einfach für eine leichtere Verlaufsform im Rahmen immer wiederkehrender depressiver Episoden, die anderen für eine Dysthymie, da sie häufig lange andauert.

Die wichtigsten diagnostischen Kriterien einer Dysthymen Störung nach DSM-IV-TR sind Appetitlosigkeit oder übermäßiges Bedürfnis zu essen, Schlaflosigkeit oder übermäßiges Schlafbedürfnis, Energiemangel oder Erschöpfung, geringes Selbstwertgefühl, Konzentrationsstörung oder Entscheidungserschwernis sowie das Gefühl der Hoffnungslosigkeit.

Was Verlauf und Intensität des Leidens anbelangt, so spricht man heute vor allem von zwei Unterkategorien der Dysthymie, nämlich der so genannten subaffektiven Form (früher Beginn und gutes Ansprechen auf Psychopharmaka) und der so genannten Charakter-Spektrum-Dysthymie (eher in Richtung Persönlichkeitsstörung anzusiedeln).

Eine große Schwierigkeit, gerade bei der Dysthymie, also bei einer chronisch-depressiven Verstimmung ist die Ko-Morbidität, also das mögliche gemeinsame Vorkommen verschiedener seelischer Störungen. Die größten Probleme weisen offensichtlich die Verbindungen mit Persönlichkeitsstörungen auf, konkret: abhängigen, histrionische (hysterischen), narzisstischen, vermeidend-selbstunsicheren und Borderline-Persönlichkeitsstörungen (Einzelheiten siehe später).

In einem solchen Fall ist die Diagnose besonders schwierig, da die chronische Dauerverstimmung zu Veränderungen im zwischenmenschlichen Verhalten und zu einer verzerrten Selbstwahrnehmung führt, alles psychosoziale Konsequenzen, die auch im Rahmen einer Persönlichkeitsstörung drohen. Nur bleibt dann die Frage offen: Wo liegt die eigentliche Ursache? Oder ist der Hintergrund die Doppelbelastung – und dann zu welchem Anteil und mit welchen Konsequenzen?

Schlussfolgerung

So gesehen ist die Dysthymie ein diagnostisches und klassifikatorisches Problem seit jeher. Das waren früher die anhaltenden ängstlichen Depressionen, die depressiven Neurosen oder neurotischen Depressionen sowie die Persönlichkeitsstörungen u. a. Und das ist jetzt die Dysthymie, gleich welchen Namens. Gerade bei den milderen depressiven Verstimmungen ist es besonders schwierig, den Beginn, den Verlauf, die Dauer und den Schweregrad exakt zu beurteilen. Denn je leichter, desto „subjektiver“, abhängig von der Belastungsfähigkeit des Patienten und seines Umfelds. Eine schwere Depression dagegen ist kein diagnostisches Problem, für niemand, und deshalb auch relativ rasch erkennbar und erfolgreich therapierbar. Das erklärt vieles, vor allem die bisherige Unsicherheiten von Definition und Klassifikation – von der Antike bis heute.

Auf jeden Fall ist die Dysthymie – beginnend mit Hippokrates und endend mit den aktuellen Definitionen und Klassifikationen – ein gutes Beispiel dafür, wie sich ein seelischer Notzustand über Jahrtausende hinweg halten kann, ganz gleich, wie man ihn benennt, einstuft oder schwerpunktmäßig zu behandeln versucht. Das seelische Leid an sich ist offensichtlich der wichtigste Bestimmungsfaktor. Ein Trost.

DYSTHYMIE: VERSUCH EINER ALLTAGS-RELEVANTEN ÜBERSICHT

Die Dysthymie gibt es im Lebens-Alltag, gibt es sie auch in der psychiatrischen Wissenschaft? Das ist keine ironische Bemerkung, das ist ein reales Problem, das gerade die Seelenkunde (Psychologie) und Seelenheilkunde (Psychiatrie) auf Schritt und Tritt verfolgt. Und etwas vereinfacht ausgedrückt: Das Beschwerdebild ist allen klar, besonders den Betroffenen und ihrem Umfeld, aber wird daraus auch eine exakt definierbare Erkrankung? Und vor allem: Passt das Beschwerdebild, zumindest in einzelnen Symptomen, nicht auch zu einer ganzen Reihe weiterer seelischer Störungen?

Außerdem gibt es hier ein Phänomen, das nur selten in aller Deutlichkeit ausformuliert wird: Begriffe, Definitionen, Klassifikationen, ja Diagnosen u. a. sind auch eine Frage des Blickwinkels. Beispiel: So wie die vegetative Labilität oder Dystonie, später als funktionelle oder Befindlichkeits- bzw. heute als Somatisierungsstörung bezeichnet, von den klinisch tätigen Ärzte nicht nur abgelehnt, sondern auch mitunter lächerlich gemacht wurde (und noch immer wird: „Sammeltopf ärztlicher Insuffizienz“), bei den niedergelassenen Ärzten und insbesondere den Allgemeinärzten aber einen Großteil der real klagenden Klientel darstellt, so dürfte es auch mit der Dysthymie sein. Nun hängt aber das Gewicht der subjektiven Meinung von der jeweiligen Autorität ab, und die ist erfahrungsgemäß bei klinisch tätigen Ärzten weitreichender (Fachartikel und -Lehrbücher publizierende und Vorträge haltende „Meinungsbildner“, vor allem mit Professoren-Titel). Da kann ein Hausarzt wenig ausrichten, und wenn seine Praxis von solchen Patienten noch so überläuft. Das gleiche Problem also – wie erwähnt – ist auch für die Dysthymie nicht von der Hand zu weisen.

Oder kurz: Dysthyme Störungen spielen in der Klinik nur eine untergeordnete Rolle, falls überhaupt; in der Allgemeinpraxis hingegen sind sie eher Alltag.

Unabhängig davon bleibt auch die offene Frage: Ist die dysthyme Störung lediglich die milde Verlaufsform einer schweren Depression? Und wie soll man die so genannte double depression (doppelte Depression) einstufen, bei der eine Dysthymie mit einer schweren (früher endogen genannten) Depression zusammenfällt? Und vor allem: Wo bleibt die Spezifität der dysthymen Symptomatik, die damit auch die Möglichkeit einer definitorisch und klassifikatorisch eigenen Krankheit Dysthymie rechtfertigt?

Unabhängig von wissenschaftlichen Disputen wird man aber wohl zugestehen müssen, dass viele Menschen unter dysthymen Störungen leiden, gleichgültig, wie sie die Wissenschaftler derzeit einteilen (siehe auch die Geschichte der Dysthymia von der Antike bis heute).

Seelische Störungen: mehr als zwei Drittel der Menschen?

„Die Mehrzahl der Menschen wird im Laufe des Lebens mindestens einmal eine psychiatrische Diagnose erhalten, ließen sie sich untersuchen. Nur wenn es ebenso normal ist, eine psychische wie eine körperliche Störung zu haben, ist die Stigmatisierung überwunden. Je mehr man betont, psychiatrische Erkrankungen seien alle schwer, chronisch und betreffen nur einige wenige Prozente der Bevölkerung (was alles nicht wahr ist), umso leichter fällt es, psychisch Kranke als eine inferiore Minderheit zu stigmatisieren. Die modernen epidemiologischen Studien ergeben mit besserer Methodik immer höhere Lebenszeit-Prävalenzen für psychische Störungen. Sie dürften mehr als zwei Drittel der Menschen betreffen“.

Jules Angst (2001), persönlicher Brief an H. Hinterhuber, aus P. Hofmann (Hrsg.): dysthymie. Springer-Verlag, Wien-New York 2002. Anmerkung: Prof. Dr. Jules Angst von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich gehörte während seiner aktiven Zeit als Arzt und Wissenschaftler zu den international bekanntesten und renommiertesten epidemiologisch tätigen Psychiater. Seine oben dargestellte Überzeugung wird von vielen Fachkollegen geteilt.

Die Dysthymie ist also erst einmal phänomenologisch (vom Erscheinungsbild her) einzustufen und deshalb – kurz gefasst – eine chronisch-depressive Verstimmung: herabgestimmt, unglücklich, bedrückt, niedergeschlagen, traurig, ja trostlos, resigniert und bisweilen hoffnungslos, weil sie sich nur selten oder „niemals“ aufzuhellen scheint.

Begriffe

Der Begriff Dysthymie oder dysthyme Störung wird heute konkurrenzlos eingesetzt.

Frühere Begriffe, die zumindest bedeutungs-ähnlich gebraucht wurden bzw. gelegentlich noch werden sind Psychasthenie, Neurasthenie (in der ICD-10 aber als eigenständiges Krankheitsbild wieder angeführt) sowie Typus melancholicus, chronische depressive Verstimmung unklarer Genese (Ursache) u. a.

Wie häufig ist eine Dysthymie?

Selbst wenn man sehr eng gezogene diagnostische Kriterien (kennzeichnende Merkmale) berücksichtigt, sind dysthyme Störungen häufig. So wird die so genannte Lebenszeit-Prävalenz (Häufigkeit über den gesamten Lebensraum) mit 6% angegeben, die Punktprävalenz (Häufigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt) mit 3%. Das sind allein im deutschsprachigen Bereich mehrere Millionen Betroffene.

Patienten in psychosozialen Einrichtungen (z. B. Beratungsstellen, Polikliniken/Ambulanzen u. a.) sollen bis zu einem Drittel und mehr mit einer Dysthymie belastet sein.

Geschlechtsspezifische Aspekte

Frauen sind 2- bis 3-mal häufiger (je nach Studie zwischen 1,5 und 5-mal) betroffen als Männer. Auch scheinen Frauen in der Regel früher zu erkranken (oft mit handfesten Beeinträchtigungen verbunden, z. B. durch sexuelle Gewalt).

Beschwerdebild

Charakteristisch für die Dysthymie ist die erwähnte Dauerverstimmung, meist missmutig bis reizbar-mürrisch getönt. Problematisch ist eine ständig erhöhte innere Anspannung mit entsprechenden Aufmerksamkeits-Einbußen, Angstzuständen, aggressiven Durchbrüchen sowie Depersonalisations- und Derealisations-Erlebnissen (Beispiel: Bin ich noch ich selber? Alles so sonderbar um mich herum).

Weitere Einzelheiten bitten wir den Beschwerde-Schilderungen der „alten“ Psychiater zu entnehmen, deren Lehrbücher noch aus lebensnahen Alltags-Schilderungen bestanden, die dann auch entsprechend einprägsam den diagnostischen und differential-diagnostischen (was könnte es sonst noch sein?) Weg des Arztes begleiteten, im Gegensatz zu den oft nüchternen, statistik-beladenen und doch blutleeren Aufzählungen, wie sie heute dominieren. Siehe deshalb die Symptom-Schilderungen von E. Kraepelin und H. Weitbrecht sowie die Hinweise in den diagnostischen Leitlinien der ICD-10 und den diagnostischen Kriterien des DSM-IV-TR im historischen Teil dieser Ausführungen. Außerdem die alters-typischen Beeinträchtigungen, wie sie in dem nachfolgendem Kapitel über Dysthymie von der Kindheit bis zum höheren Lebensalter aufgeführt wird.

Ko-Morbidität – wenn ein Leiden zum anderen kommt

Ko-Morbidität, also wenn ein Leiden zum anderen kommt, ist einer der Hauptverantwortlichen dafür, dass die Dysthymie nach wie vor ein schillerndes Phänomen ist, das nicht nur vom klinischen, sondern auch vom wissenschaftlichen Aspekt her kaum in den Griff zu bekommen ist. Das wird auch schon daraus ersichtlich, dass offensichtlich mehr als drei Viertel aller Patienten mit einer Dysthymie auch noch mit einem weiteren seelischen Leiden belastet sind.

Am häufigsten ist die Kombination aus Dysthymie und schwerer Depression (zwischen 30 und 70%, vor allem im Kindesalter), gefolgt von Persönlichkeitsstörungen (zwischen 52 und 60%), Angststörungen (zwischen 40 und 50%) sowie Suchtgefahr (zwischen 11 bis 30%, vor allem Alkoholismus). Selbst bei nicht-psychiatrischen, wenngleich mit seelischen und psychosozialen Konsequenzen belasteten organischen Erkrankung ist mit einer Dysthymie zu rechnen (z. B. dysthyme Störung bei Parkinson-Kranken in jedem fünften Fall?).

Verlauf

Der Verlauf einer dysthymen Störung ist meist abhängig von Umwelt und Lebensereignissen. Ein früher Beginn soll auf einen eher chronischen Verlauf hindeuten, d. h. in der Regel viele Jahre. Auch scheint dies für eine hohe familiäre Belastung zu sprechen, vor allem mit Gemütsstörungen im Sinne von immer wiederkehrenden Depressionen. Weitere Einzelheiten siehe unten.

Dysthyme Störungen sind in jedem Alter möglich, scheinen aber in bestimmten Entwicklungsphasen besonders belastend (und damit zumindest subjektiv im Vordergrund zu stehen). Dazu gehören vor allem die Zeit der Pubertät, die Früh-Adoleszenz (Heranwachsende, junge Erwachsene) und das höhere Lebensalter. Das nimmt nicht Wunder. In diesen Lebensphasen treffen sowohl so genannte patho-plastische Aspekte (körperliche, nicht zuletzt hirn-organische Aufbau- und Rückbildungsvorgänge) als auch psychosoziale Belastungen aufeinander. Wie sieht das die Wissenschaft im Einzelnen?

DYSTHYMIE IN KINDHEIT, ADOLESZENZ, ERWACHSENENALTER UND HÖHEREM LEBENSALTER

Die Dysthymie entwickelt vor allem eine alters-abhängige Leidens-Struktur einschließlich entsprechender psychosozialer Konsequenzen. Nachfolgend deshalb eine etwas ausführlichere Darstellung zu diesem Aspekt:

Dysthymie in der Kindheit

Die weltweit tonangebenden Institutionen WHO und APA (siehe oben) nehmen zur Dysthymie im Kindes- und Jugendalter wenig bis gar keine Stellung. Das ist ein Wissens-Defizit mit erheblichen Auswirkungen, nicht zuletzt auf die Prävention (Vorbeugung). Denn entsprechende Arbeitsgruppen, z. B. um D.M. Klein berichten, dass die von ihnen untersuchten Patienten mit einer Dysthymie erste Anzeichen einer solchen Störung bereits in Kindheit und Jugend hatten, nämlich in jeweils jeden 5. Fall vor dem 6., zwischen dem 6. und 10. und vom 11. bis 15. Lebensjahr. Oder mit anderen Worten: In zwei Drittel aller Fälle begann es bereits in Kindheit und Jugend.

Die für diese Altersgruppen charakteristischen Symptome dazu waren: Appetitlosigkeit, Freudlosigkeit, Schulversagen mit den Anschein von Faulheit und Unaufmerksamkeit, quälende Leistungseinbußen bei Schulaufgaben, Klagen und Äußerungen über nicht recht fassbare körperliche Störungen, insbesondere unklares Missbehagen, Kontaktverlust zu Eltern, Geschwistern und Mitschülern u. a.

Das aber sind auch die Symptome leichterer Depressionen, die sich später zu einer ernsteren Schwermut auswachsen können (und dann keine Dysthymie mehr wären). Mit anderen Worten: Es ist und bleibt schwer, die Dysthymie im Allgemeinen und die des Kindes und Jugendlichen im Besonderen von einer (vor allem beginnenden) Depression abzugrenzen. Nachfolgend deshalb einfach eine Zusammenstellung der wichtigsten Symptome depressiver Zustände im Kindes- und Jugendalter generell (zusammengefasst nach den führenden Lehrbüchern der Kinder- und Jugendpsychiatrie).

Das depressive Leidensbild im Kindes- und Jugendalter

  • Klein- und Vorschulkinder: Spielhemmung, Unruhe, Nervosität und Anspannung (Agitiertheit), Wein- und Schreikrämpfe, Enkopresis (Einkoten), Schlafstörungen, Jaktationen (Hin- und Herwerfen), Appetitstörungen u. a.
  • Jüngere Schulkinder: gereizt, unsicher, Spiel- und Lern-Hemmung, ferner Enuresis (Einnässen ab dem 5. Lebensjahr), Pavor nocturnus (nächtliches Aufschrecken), genitale Manipulationen, Wein- und Schreikrämpfe u. a.
  • Ältere Schulkinder und Jugendliche: Minderwertigkeitsgefühle, ständige Bedrücktheit, Problem-Grübeln, Suizidimpulse, ferner Kopfschmerzen u. a.
  • In psychosozialer Hinsicht fühlen sich die Kinder ungeborgen, verloren, „hoffnungslos ungeliebt“, schlecht und minderwertig, den Einflüssen von Eltern, Mitschülern, Lehrern ausgeliefert. Als wichtigste Symptome gelten Kontaktschwäche, Angst, Gehemmtheit sowie die Neigung zu Rückzug und Isolation; in psychosomatischer Hinsicht Einnässen, Schlafstörungen, Mutismus (Sprachlosigkeit trotz intakter Sprachorgane), aber auch gesteigerte Aggressivität (besonders bei Knaben), Weinen und Weglaufen.
  • Dabei sind es vor allem die Ausdrucksmöglichkeiten der so genannten vitalen depressiven Verstimmung, auf die geachtet werden sollte: die Unfähigkeit des Kindes sich zu freuen, zu spielen, die Abkapselung von Spielgefährten, Konzentrations- und Auffassungsstörungen in der Schule, unbegründete Angstzustände, Appetitlosigkeit mit Gewichtsverlust, Schlafstörungen, ständige Müdigkeit u. a.
  • Wichtig: Auf die erbliche Belastung von Kindern und Jugendlichen durch ein oder gar zwei Elternteile bzw. sonstige nahe Verwandte mit einer offenkundigen Depression achten (gezielt und hartnäckig nachfragen lassen!). Diese erbliche Belastung entscheidet mit darüber, ob es sich ggf. „nur“ um eine pubertäre Befindlichkeitsveränderung oder -störung handeln könnte, die in der Regel von nur kurzer Dauer und von bestimmten Umweltereignissen abhängig ist. So etwas ist normal. Umweltbelastungen können allerdings auch eine erblich angelegte Depression ausklinken. Aber auch das spricht nicht gegen eine Dysthymie, wenn sich später eine zusätzliche schwere Depression ausbildet, die schon mehrfach erwähnte „doppelte Depression“ (double depression).

Schlussfolgerung: Treten dysthyme Störungen schon in der Kindheit auf, dann belasten sie in der Regel bereits das 1. Lebensjahrzehnt. Die Geschlechtsverteilung in der Kindheit ist noch ausgeglichen, die erhöhte Beeinträchtigung des weiblichen Geschlechts beginnt erst später. Besonders problematisch ist die schon frühe Belastung der schulischen Leistung und des Sozialverhaltens. Dies insbesondere bei einer drohenden Ko-Morbidität (Mehrfach-Erkrankung), wobei dann nicht nur Angststörungen und Depressionen (die erwähnte doppelte Depression), sondern auch eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts­störung (ADHS) zusätzlich und wohl mit am ausgeprägtesten beeinträchtigen kann.

Dysthymie in der Adoleszenz

Pubertät und Adoleszenz (die Zeit des Heranwachsenden nach der Pubertät mit Übergang zum jungen Erwachsenen) stellen – wie die Fachleute sagen – eine seelische, psychosoziale, körperliche und auch psychosomatisch bedeutsame „Umbau-Phase“ dar. Sie äußert sich nicht zuletzt in affektiven Beeinträchtigungen (Gemütsänderungen, meist depressive und ängstliche Verstimmungen). Dysthyme Störungen sind in dieser Phase fast die Regel. In manchen Untersuchungen spricht man von zwei Dritteln, die ab Pubertät oder Adoleszenz an einer Dysthymie zu leiden haben.

Außerdem sind diese früh mit einer Dysthymie belasteten jungen Menschen später auch noch vermehrt von schwereren Depressionen, Angststörungen, Ess- und Persönlichkeitsstörungen bedroht. Selbst die missbräuchliche Verwendung von Rauschdrogen und Arzneimitteln ist bei ihnen öfter registrierbar, zumindest im späteren Laufe des Lebens.

Ihr Beschwerdebild ist dementsprechend vielfältig und unterliegt auch oft noch raschen Schwankungen (in der Regel von Umweltbelastungen geprägt).

Die häufigsten psychosozialen Beeinträchtigungen und ihre seelischen und psychosomatischen Folgen sind: Probleme mit dem anderen Geschlecht, in der Schule, am Lehrplatz, mit den Eltern u. a. Vor allem so genannte Identifikations- und Anpassungs-Schwierigkeiten, Selbst-Aggressionen (suizidale Impulse) und Fremd-Aggressionen (bis hin zu scheinbar kriminellen Auswüchsen). Außerdem Merk- und Konzentrationsstörungen (Lernfähigkeit) und eine Überempfindlichkeit bzw. Neigung zu Über-Reaktionen; selbst unbedeutende Belastungen können zu (lebens-)entscheidenden Kurzschlüssen führen (Drogen, kriminelle Gruppierungen, sexuelle Fehltritte, mit den heutigen Möglichkeiten sogar Flucht in ferne Regionen u. a.). Im Extremfall und bei ggf. erblicher Belastung drohen zudem weitere seelische Erkrankungen wie Ess-Störungen, Panikattacken, Phobien und somatoforme (psychosomatisch interpretierbare) Leiden.

Dysthymie im Erwachsenenalter

Das Erwachsenenalter, insbesondere die so genannten „besten Jahre“, gehören inzwischen zu der „kritischsten Lebensphase“, jedenfalls was seelische und psychosoziale Belastungen und Folgen anbelangt: Trennung, Scheidung, Verlust des Arbeitsplatzes (und damit von Ansehen und Aussichten generell) u. a. Letztlich gibt es aber keine Lebens-Epoche, die nicht ins Verheerende und Aussichtslose kippen könnte (nach H.G. Zapotoczky).

Diejenigen, die „erst“ im Erwachsenenalter an einer Dysthymie erkranken (definitorisch nach dem 21. Lebensjahr), zeigen folgende soziodemographischen Schwerpunkte:

Sie sind häufiger verheiratet, erkranken – wenn überhaupt – deutlich später an einer ernsteren Depression, weisen seltener ko-morbide Persönlichkeitsstörungen und Suchtgefahren auf und sind seltener mit Gemütsstörungen in der Vorgeschichte ihrer Angehörigen belastet. Das alles lässt auch die Prognose (die Heilungsaussichten) etwas günstiger erscheinen, zumal auch die Bewältigungs-Möglichkeiten bzw. psychosozialen Strategien im Erwachsenenalter ausgereifter und damit effektiver sind.

Trotzdem haben aber auch die Erwachsenen ihre (typischen?) Dysthymie-Beschwerden, nämlich: geringe Stress-Toleranz, vermehrte innere Unruhe, Nervosität und Anspannung, öfter (und dann zwar nicht massiver, aber auffälliger) reizbar, missgestimmt, ja aggressiv. Und das alles mit in der Regel noch folgenschwereren Konsequenzen in Partnerschaft, Familie, Betrieb, Freundeskreis, Nachbarschaft u. a.

Ein besonderes Phänomen der erwachsenen Dysthymiker ist, dass sie vor allem über ein Beschwerdebild klagen, das sich zumeist körperlich äußere. Das wäre aber noch nicht das Problem. Entscheidend ist die hartnäckige und oft auch recht geschickte Art der Betroffenen, jede seelische oder psychosoziale Ursache für ihr scheinbar organisches Leiden in Abrede zu stellen, zu dissimulieren, wie der Fachausdruck heißt (bewusste Verheimlichung). Der Grund ist bekannt: Es wird gerade in diesem Alter und bei entsprechender Position als ehrenrührig und „scham-besetzt“ angesehen, durch „seelische Beeinträchtigungen in die Knie zu gehen“. Ein organisches Leiden dagegen muss „in Gottes Namen akzeptiert werden“.

Ein weiterer Aspekt ist der ständige Wechsel solcher „körperlicher“ Beschwerden und deren Zahl (was den Experten schon einmal misstrauisch werden lässt): rein organische Krankheiten kommen mit zwei bis drei, selten mehr konkreten(!) Symptomen aus. Bei Verdacht auf seelische Ursache sind es in der Regel deutlich mehr Krankheitszeichen, die zudem – wie erwähnt – noch öfter wechseln und außerdem sehr diffus geschildert werden (und sich am Schluss ja auch nicht durch den jeweiligen Facharzt objektiveren lassen).

Dysthymie im höheren Lebensalter

Das Beschwerdebild eines älteren Menschen unterscheidet sich – besonders wenn man genauer hinsieht – häufig durch eine Reihe charakteristischer Merkmale; das betrifft sowohl organische als auch seelische Leiden. Und hier vor allem affektive, also Gemütsstörungen.

Tritt eine Depression erstmals jenseits des 60. Lebensjahrs auf (das gilt in etwa als Grenze zum „3. Lebensalter“), findet sich eine familiäre Belastung selten. Eine solche Schwermut hängt eher von belastenden Umweltereignissen ab, die der Betreffende nicht mehr bewältigen kann. Auch sind die seelisch-körperlichen regenerativen Reserven inzwischen so reduziert oder gar aufgebraucht, dass ein chronisches Leiden droht (und wenn zeitlich begrenzt, dann deutlich länger als in mittleren oder jungen Jahren).

Wenn also jemand nicht mehr „auf die Füße kommt“, d. h. wenn Erholung oder gar Genesung nicht mehr absehbar scheinen, dann denkt man zuerst einmal an eine affektive Störung im weitesten Sinne. Das Beschwerdebild pflegt dies im höheren Lebensalter auch noch zu unterstreichen: Beispiele:

  • Am häufigsten eine erhöhte Angstbereitschaft, vor allem Verlustsängste (Rückzug vor anderen, Isolationsgefahr, abhängig von fremden Menschen oder Institutionen werden u. a.).
  • Kognitive Beeinträchtigungen, d. h. Merk- und Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, Aufmerksamkeitsdefizite, was vor allem an die „Horror-Vision“ einer beginnenden (Alzheimer-)Demenz denken lässt.
  • Vermehrt missmutig, missgestimmt, reizbar, aber auch misstrauisch, aggressiv, ja feindselig.
  • Dazu unruhig, nervös, gespannt, allerdings auch zugleich müde, matt, abgeschlagen, ja apathisch (teilnahmslos) und oftmals beides zusammen, eine überaus sonderbare und für alle belastende Kombination.
  • Dazu hypochondrisch (vor allem auf mögliche Krankheiten bezogen) bis hin zum hypochondrischen Wahn (der dann durch nichts mehr korrigierbar ist, im Gegenteil: wenn man nichts findet, dann muss es besonders schlimm sein).
  • Gegebenenfalls auch sonstige Wahnideen, vor allem einen Versündigungs- und noch häufiger Verarmungs-Wahn.

Dies alles hört sich eindeutig an, nämlich nach einer „Alters-Depression“. Leider sind diese Symptome zwar gelegentlich „aufscheinend“, aber nur selten so ausgeprägt und damit eindeutig, dass sich keine diagnostischen Zweifel ergeben. Außerdem neigen sie zu einer „fast charakteristischen Unschärfe“, können oder können eben auch nicht die notwendige eindeutige Diagnose absichern. Denn milde bis mäßig ausgeprägte depressive Zustände sind gerade im Alter häufiger, dazu noch wechselnd und „irgendwie unklar“ (zumal man in dieser Altersstufe besonders kritisch auf mögliche, unerkannte oder versteckte organische Ursachen achten muss, was oft genug in „endlose Durchuntersuchungen“ mündet, die zwar die allseits bekannten „Mini-Befunde“ ergeben, und damit einen differentialdiagnostischen Teufelskreis einleiten, nur nicht die gewünschte Sicherheit).

So gesehen ist und bleibt eines unklar: Alters-Depression oder Dysthymie? Oder beides?

Wie auch immer: Im höheren Lebensalter führt zahlenmäßig nicht mehr das weibliche Geschlecht, hier sind Männer wie Frauen wieder gleich häufig betroffen. Im Gegensatz zu den Dysthymie-Erkrankungen im mittleren und jüngeren Alter ist die Belastung durch Umweltfaktoren größer (zumindest aus subjektiver Sicht, und das ist für den Betroffenen entscheidend, nicht das Urteil seiner Umgebung: „Aber Oma...“). Eine solche Belastung, z. B. Tod des Partners oder eines nahen Angehörigen bzw. Freundes, schwere Erkrankung und/oder Krankenhausaufnahme selber oder von einem nahen Angehörigen, Trennung von einer wichtigen Bezugsperson, Ruhestand, Heimaufnahme u. a., kann relativ schnell zu einer Dysthymie führen. Die Beeinträchtigung kann aber auch einige Zeit zurückliegen, was die Diagnose noch mehr erschwert.

Kennzeichnend ist zudem der Umstand, dass „früher so etwas nie beobachtet worden ist, auch nicht bei Eltern, Großeltern und sonstigen nahen Verwandten“. Auch weitere (ko-morbide) Leiden, wie sie sonst gerne mit einer Dysthymie zusammen vorkommen, sind relativ selten (z. B. Angst- und Persönlichkeitsstörungen). Und – ein wesentlicher Unterscheidungsfaktor – das Beschwerdebild wird insbesondere durch kognitive Einbußen (Merk- und Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, verminderte Aufmerksamkeit) sowie vegetative Beeinträchtigungen geprägt (vor allem Appetitlosigkeit mit Gewichtsabfall, Schlafstörungen u. a.).

Wichtig: Im 3. Lebensalter können Belastungen jeder Art, vor allem aber Enttäuschungen, Verluste (real oder nur eingebildet) deutlich länger und intensiver nachwirken wie in früheren Zeiten. Außerdem pflegt sich viel eher ein Teufelskreis einzuschleifen, nämlich ängstliche (Über-)Reaktionen oder versteckte Aggressionen gegen andere oder sich selber. Die Suizidtat im Alter ist besonders gefährlich, vor allem durch verminderte Belastbarkeit und konsequente(re) Durchführung. Problematisch ist auch das Phänomen der traumatischen Summierung, d. h. wenn frühere, längst überwundene oder gar vergessene seelische Verwundungen wieder aufbrechen und sich mit dem aktuellen Leid zu einer unseligen Überlastung verbinden (Stichwort: „Die langen Schatten der Vergangenheit“).

Hier zeigt sich übrigens eine Besonderheit, die immer wieder auffällt, nämlich die Ähnlichkeit von Ursachen, Verlauf und Beschwerdebild bei den beiden Alters-Polen: Kindheit und Jugend (hier vor allem Pubertät und Adoleszenz) sowie höheres Lebensalter. Der Kreis schließt sich – auf allen Ebenen.

Biologische Aspekte der Dysthymie

Trotz ihrer Häufigkeit und ihres Erkrankungs- und sogar Todesfall-Risikos (nicht zuletzt durch eine im Laufe der Zeit immer riskanter werdende Selbsttötungsgefahr) wurde die Dysthymie bisher – zumindest im Vergleich zu anderen Gemütskrankheiten – wenig untersucht, was ihre biologischen Ursachen und Hintergründe anbelangt. Die bisher vorliegenden Studien beschreiben, wenn sie den biologischen Ansatz untersuchen, vor allem die Nähe zur so genannten major depression (also im Wesentlichen der früher so bezeichneten endogenen, d. h. vor allem biologisch begründbaren Depression).

Leider liefert das, was bisher vorliegt, insbesondere aus neurophysiologischen und speziell neuropharmakologischen Studien, derzeit eher widersprüchliche Ergebnisse. Einiges aber ist durchaus bemerkenswert, nämlich was Familien-Anamnese (also Erblichkeit), polysomnographische und Psychopharmaka-Therapiestudien anbelangt (siehe später).

  • Die bislang vorliegenden elektrophysiologischen Befunde sind schwer zu interpretieren, nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen methodischen Voraussetzungen und der Zusammensetzung der Patienten. Eines aber findet sich immer wieder, nämlich eine verkürzte REM-Latenz (siehe das entsprechende Schlaf-Kapitel) sowie eine verminderte Schlaf-Qualität und Schlaf-Effizienz (oder auf Deutsch: unbefriedigender Schlaf, nicht ausgeruht und deshalb auch nicht leistungsfähig am kommenden Tag). Allerdings lassen sich diese Befunde nicht durchgehend bestätigen.

Auch die evozierten Potentiale vermitteln einige krankheits-typischen Hinweise; doch auch hier stehen noch entgültige Befunde aus (Einzelheiten siehe spezielle Fachliteratur).

  • Nicht viel anders sieht es bei den neuroendokrinologischen Befunden aus, besonders bei der so genannten Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HHN). In der Fachsprache hört sich das so an: Insbesondere bei depressiven Störungen finden sich neben erhöhten Plasma-ACTH- und -Cortisol-Werten auch pathologische Ergebnisse im Dexamethason-Hemmtest (DMT). Doch auch hier immer wieder Unklarheiten, je nach Intensität, frühem oder spätem Beginn der Dysthymie sowie weiteren Aspekten, die alle nur eines zeigen: Hier gibt es noch reichlich Forschungsbedarf.

Das Gleiche gilt für die Frage, ob die Veränderungen des Immunsystems (körpereigenes Abwehrsystem) sekundär oder im Zusammenhang mit krankheits-typischem Stress zu sehen ist; und vor allem ob sie eine ursächliche Rolle in der Krankheitsauslösung und -unterhaltung spielen.

  • Bei affektiven (Gemüts-)Störungen wohl am besten untersucht sind die neurochemischen Veränderungen, besonders in neuropharmakologischen Studien unter dem Einfluss bestimmter Substanzen, z. B. antidepressiv wirkenden Medikamenten. Hier geht es insbesondere um den Metabolismus (Verstoffwechselung) der Neurotransmitter (Botenstoffe) Serotonin, Noradrenalin und Dopamin, die vor allem bei den Depressionen eine große Rolle spielen. Das lässt sich auch bei der Dysthymie nachweisen, wenn auch weniger eindrücklich. Ein „Erkenntnis-Durchbruch“ steht allerdings noch aus, auch hier.

Genetische Untersuchungen bestätigen indes die bekannte Erfahrung: Frauen leiden etwa doppelt so häufig unter Dysthymie wie Männer. Familien-Studien ergeben eine familiäre Häufung von Dysthymie und Depressionen und gelegentlich auch manischen Zuständen in der Verwandtschaft, wobei auch die Alkoholabhängigkeit keine geringe Rolle spielt (verzweifelte und später entgleiste Selbstbehandlungsversuche?).

Zudem belastet die Dysthymie in der Vorgeschichte (Eltern, Großeltern, weitere Verwandte) entsprechend betroffene Nachfahren mehr als eine Depression (und natürlich gesunde Vergleichs-Kontrollen). Umgekehrt haben Patienten mit einer ernsteren Depression auch häufig biologische Verwandte, bei denen eine dysthyme Störung nicht übersehbar ist. Und interessanterweise finden sich schließlich sowohl bei Depressionen als auch Dysthymie-Patienten gehäuft Persönlichkeitsstörungen im engeren Familien-Gefüge.

  • Zuletzt noch ein Wort zu den so genannten bildgebenden Verfahren, den Methoden des Neuroimaging. Hier lassen sich bei schwereren Depressionen immer wieder die gleichen Veränderungen dokumentieren. Beispiel: Ein verminderter Blutfluss im Bereich des Stirnhirns und den weiteren Regionen des Gehirns (Basalganglien) bei reinen Depressions-Verläufen sowie manisch-depressiven Erkrankungen während depressiver Episoden. Leider findet sich derlei nicht oder zumindest nur unzureichend angedeutet bei der Dysthymie. Doch man forscht auf diesem Gebiet weiter, es scheint sich zu lohnen, besonders bei jenen Patienten, die sowohl unter einer Dysthymie als auch schweren Depressionen zu leiden haben (siehe double depression).

Schlussfolgerung: Der biologischen Forschung gehört die Zukunft, auch und vor allem in der Psychiatrie. Wenn die Ergebnisse bisher nur in Einzelfällen aufhorchen und in der Mehrzahl unbefriedigt lassen, so ist das kein Grund zur Resignation, sondern zur Intensivierung der laufenden Forschungsbemühungen. Bei der Erarbeitung biologischer Grundlagen seelischer Störungen im Allgemeinen und affektiver (Gemüts-)Störungen im Speziellen steht man noch am Anfang. Doch hier sind die Hoffnungen am größten, insbesondere was die sich daraus ergebenden (neuen?) Therapie-Strategien anbelangt.

DYSTHYMIE – WAS KÖNNTE ES SONST NOCH SEIN?

Ein großes Problem, insbesondere bei den dysthymen Störungen ist die Differentialdiagnose oder auf Deutsch: Was könnte es sonst noch sein? Wo stellen sich hier die meisten Schwierigkeiten?

  • Menschen mit chronischen Schmerzuständen (und auch anderen funktionellen Ausfällen, auch ohne Dauer-Schmerz) droht eine Wesensänderung. Im schlimmsten Falle führt dies zu einem so genanntes algogenen Psychosyndrom, also einer schmerzbedingten Veränderung ihres seelischen Zustandes im weitesten Sinne. Dabei handelt es sich meistens um eine unselige Mischung aus dauerhaft missgestimmt-reizbar bis aggressiv, kombiniert mit einer ängstlich-depressiven Grundhaltung.

Das ist eine alte Erkenntnis und kann im Übrigen von vielen bestätigt werden, ob selber betroffen oder Angehöriger, Freund oder Mitarbeiter, wenn ein auch nur mittelfristig quälendender und vor allem durch nichts zu mildernder Schmerz belastet. Dies vor allem dann, wenn es sich um schwer fassbare körperliche Ursachen handelt. Dazu gehören beispielsweise zwei, in letzter Zeit verstärkt beeinträchtigende Leiden, nämlich die Borreliose und die Fibromyalgie. Bei der Borreliose dürfte es vor allem das körperliche Beschwerdebild sein, das auch bei psychisch gesunden Betroffenen langfristig seelische und psychosoziale Folgen zeigt. Bei der Fibromyalgie sind auch psychische Beeinträchtigungen in der Vorgeschichte zu berücksichtigen (Einzelheiten siehe das entsprechende Kapitel).

  • Ein weiteres Problem ist das chronische Müdigkeits-Syndrom (englischer und weltweiter Fachbegriff: chronic fatigue syndrome – CFS). Gerade bei diesem Phänomen, das sowohl vom äußeren Beschwerdebild als auch in Ursache und Verlauf äußert inhomogen (uneinheitlich) ist, muss eine Dysthymie fast regelhaft hingenommen werden, sagen manche Experten. Wenn man aber genauer nachfasst, findet sich bei einem Großteil des CFS-Patienten kein konkreter Anhalt für eine Depression bzw. Dysthymie. Ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist auch der Umstand, dass die Kranken mit einem chronisches Müdigkeits-Syndrom kaum auf eine Pharmakotherapie mit Antidepressiva ansprechen, selbst wenn sich dann doch vermehrt Überschneidungen mit einer Depression bzw. Dysthymie finden lassen.
  • Das größte diagnostische bzw. differentialdiagnostische Problem ist jedoch die Abgrenzung gegenüber einer schweren Depression (aus dem Angelsächsischen und inzwischen weltweiter Fachbegriff: major depression, gelegentlich noch immer als Typische Depression bezeichnet, am ehesten mit der früheren endogenen Depression vergleichbar). Wo liegen die Unterschiede?

Zum einen bei der weniger starken Ausprägung des Beschwerdebildes und zum anderen im charakteristischen Verlauf mit frühem Beginn und langer Dauer bei der Dysthymie. Einzelheiten zur Depressions-Krankheit siehe die entsprechenden Kapitel. Typisch für die Dysthymie ist auf jeden Fall ein schleichender Beginn, häufig seit Kindheit oder Jugend sowie wie ein fluktuierender (schwankender, schnell wechselnder, schwer absehbarer) Verlauf, wenn nicht gar persistierend (andauernd, ohne Unterbrechung fortbestehend), wie die Fachbegriffe lauten.

Somit wird eine Dysthymie dann diagnostiziert, wenn sich die Erkrankung jahrelange (nach dem DSM-IV-TR mindestens 2 Jahre) hinzieht, das Beschwerdebild fast ohne Unterbrechung durchlitten werden muss, dafür aber weniger ausgeprägt ist wie bei einer schweren Depression bzw. depressiven Episode.

Allerdings entwickelt mehr als die Hälfte der Patienten mit Dysthymie im Laufe ihres Lebens auch eine schwere Depression. Wenn sich also einer bereits vorliegenden Dysthymie später eine oder mehrere Episoden einer major depression (im Kasten) überlagert bzw. aufpfropft, spricht man von einer doppelten Depression (englischer Fachbegriff: double depression). Nach entsprechenden Untersuchungen finden sich bei fast 8 von 10 Patienten mit einer Dysthymie im Verlauf des Lebens auch Episoden einer solchen schweren Depression.

major depression

Der Fachbegriff aus dem Angelsächsischen „major depression“ breitet sich inzwischen auch in der deutschen Fachsprache der Psychiatrie aus. Um was handelt es sich?

Laut DSM-IV-TR der APA (s. o.) bezeichnet man damit eine psychische Störung, bei der es zu einer oder mehreren depressiven Episoden gekommen ist. Dabei entspricht die Beschreibung etwa der in der deutschen Psychiatrie üblichen endogenen Depression (siehe das entsprechende Kapitel) in seiner monopolaren Verlaufsform, d. h. es liegen nur depressive Episoden vor.

Wesentliche Unterschiede bestehen nach Auffassung und Art der Erfassung. Die „endogene Depression“ wird als „typisches Bild“ gesehen, das an seinen Charakteristika erkannt wird (deshalb früher auch die Übersetzung „Typische Depression“). Major depression bedeutet aber gemäß US-amerikanischer Vorstellungen, dass es zwischen ganz leichten und ganz schweren Depressionen ein Kontinuum der Schwere-Belastung gibt. Ein bestimmter Ausschnitt davon wird nun als „major depression“ bezeichnet, sofern konkrete Kriterien erfüllt sind.

Die früher gängigen neurotischen, reaktiven, Erschöpfungs- und anderen Depressions-Arten können ebenfalls eine „major depression“ sein, sofern sie nur schwer genug sind und die entsprechenden Kriterien erfüllen.

Obgleich die wesentlichen Beschreibungsmerkmale für „major depression“ und endogene Depression fast gleich sind, bestehen in der praktischen Anwendung erhebliche Unterschiede. Deshalb auch die Häufigkeits-Unterschiede von wenigen Prozent für die „alte“ endogene Depression und bis 15% und mehr für die „major depression“.

Geblieben und verbindlich ist inzwischen nicht mehr die erwähnte frühere Bezeichnung „Typische (majore) Affektive Störung“ oder auch nur „Majore Depression“, sondern inzwischen die Major Depression, also eine depressive Störung mit charakteristischen diagnostischen Merkmalen.

Nach U. H. Peters: Wörterbuch der Psychiatrie, Psychotherapie und Medizinischen Psychologie, 1999

  • Zwar wird beispielsweise in der ICD-10 der WHO die depressive Neurose oder neurotische Depression noch immer als gleichbedeutender Begriff für die Dysthymie angeführt, doch das hat sich gerade hier nicht durchgesetzt. Tatsächlich lässt sich bei sorgfältig erhobener Anamnese (Vorgeschichte) viel öfters das herausarbeiten, was als charakteristische neurotische Entwicklung gilt (zumindest früher galt, denn auch hier bekommt ja alles neue Deutungen, Definitionen und klassifikatorische Zuteilungen). Einzelheiten siehe die entsprechenden Kapitel über die „Neurosen einst und heute“ sowie „Neurotische Depression“.
  • Weitere Überschneidungsmöglichkeiten ergeben sich vor allem aus den schon mehrfach erwähnten Persönlichkeitsstörungen. Auch hier siehe die entsprechenden Kapitel. Probleme gibt es dabei insbesondere über die Schiene der Ko-Morbidität, d. h. wenn eine Persönlichkeitsstörung (welcher konkreter Unterteilung auch immer, z. B. histrionisch (hysterisch), narzisstisch oder vom Borderline-Typ) auch oder vor allem eine depressive Dauerverstimmung zeigt.

Das Gleiche gilt natürlich für zwei weitere Persönlichkeitsstörungen, die gerade im Gemütsbereich besonders „anfällig“ bzw. „auffällig“ sind, nämlich die dependenten (abhängigen) Persönlichkeitsstörungen und die depressiven Persönlichkeitsstörungen.

- Bei der dependenten (abhängigen) Persönlichkeitsstörung finden sich ebenfalls tiefgreifende Defizite, was Eigeninitiative, Schwung, Antrieb und vor allem die Fähigkeit zu autarken (selbständigen) Entscheidungen u. a. anbelangt. Das führt natürlich auch zu einer chronischen dysthymen Verstimmung, die alles noch verschärft. Hier gilt es nun die spezifischen Persönlichkeits-Aspekte herauszuarbeiten, die allen Persönlichkeitsstörungen zugrunde liegen (siehe das entsprechende Kapitel), was sich dann nicht unbedingt mit einer „reinen“ Dysthymie decken muss.

- Schwieriger wird es bei der erwähnten depressiven Persönlichkeitsstörung, die wieder in die modernen statistischen Psychiatrie-Manuale Eingang zu finden scheint. Hier gibt es in der Tat starke Überlappungen, so dass eine Abgrenzung aus klinischer Sicht (also Beschwerdebild und Verlauf) äußerst schwierig werden kann. Das geht soweit, dass manche Experten als brauchbarstes Kriterium für das Vorliegen der Dysthymie das Ansprechen auf eine medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva bezeichnen, was bei der depressiven Persönlichkeitsstörung deutlich weniger erfolgreich zu sein pflegt.

  • Ein weiteres Problem, das allerdings eher in den Bereich der Ko-Morbidität fällt, ist die Verbindung zwischen Suchterkrankung und Dysthymie. Es leuchtet ein, dass eine schon in der Jugend ausbrechende Dauer-Verstimmung, innere Spannung und damit psychosoziale Beeinträchtigung im Alltag (Familie, Ausbildung, Partnerschaft, Freundeskreis, Hobbys u. a.) zu Mitteln greifen lässt, die erst einmal weniger dem reinen Vergnügen dienen („Kick“), sondern der Selbstheilung – und damit der Gefahr des entgleisten Selbstbehandlungsversuchs.

Dies betrifft in jungen Jahren neben dem Alkohol vor allem die Rauschdrogen (und den Nikotin-Abusus). Die Folgen sind ein schwer einzuordnendes und je nach Krankheits-Schwerpunkt abgrenzbares Bild, zumal insbesondere mittel- oder langfristiger Substanz-Missbrauch bzw. die dann drohende Suchterkrankung auch zu dysthymen (dann eher missgestimmt-reizbaren) Folgezuständen führt. Dies vor allem beim Alkoholismus und unter den Rauschdrogen insbesondere beim Kokain-Abusus.

Eine nebenbei weniger aufregend erscheinende Missbrauchs- bzw. Suchtform ist der Coffeinismus, also der Kaffee-Missbrauch, der sich nach Ansicht einiger Experten besonders zur Stimmungshebung anbiete, wovon besonders Dysthy­miker Gebrauch machen sollen.

  • Zuletzt seien noch auf einige körperliche Erkrankungen hingewiesen, die mit einer Dauer-Verstimmung einhergehen können. Dies betrifft vor allem das höhere Lebensalter, eber auch die$so genannten „besten Jahre“.

An erster Stelle scheinen kardiovaskuläre, als Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu liegen (oft mit Hytertonie, also einem Bluthochdruck verbunden, seltener einem zu niedrigen Blutdruck, der eher dauerhaft „schlapp“ macht).

Dabei erhebt sich die Frage, ob die Dysthymie eine Herz-Kreislauf-Erkrankung bahnt oder ob es sich um eine spezifische seelische oder psychosoziale (Stress-)Reaktion auf das organische Leiden handelt. Interessant der Hinweis einiger Experten, dass diese Herz-Kreislauf- und Dysthymie-Kombination oft im Rahmen von Verlusterlebnissen unterschiedlicher Art gefunden werden soll.

Ähnliche Probleme mit Dysthymie-Folgen sollen im Übrigen auch langfristige Magen-Darm- und einige neurologische Leiden nach sich ziehen (Epilepsie, Parkinson, Multiple Sklerose u. a.?).

Die medikamentöse Behandlung der Dysthymie

Bei der Dysthymie handelt es sich um ein reichlich komplexes, leider auch unscharfes Krankheitsbild. Der Verlauf ist langwierig und es irritieren zahlreiche Komplikationsmöglichkeiten (z. B. die erwähnten zusätzlichen Angst- und Persönlichkeitsstörungen, Alkohol- und Rauschdrogenmissbrauch, die „doppelte Depression“ u. a.). Kein Wunder, dass dieses Leiden selten exakt diagnostiziert und vor allem konsequent behandelt wird (man spricht von etwa der Hälfte aller Betroffenen).

Besonders unterschätzt wird vor allem der frühe Beginn; in diesem Alter geht man noch nicht von einer ernsten Erkrankung aus. Doch gut ein Viertel ist bereits vor dem 21. Lebensjahr betroffen. Und gerade hier sind die Komplikationen und damit die Gefahr der Chronifizierung (Dauerleiden) besonders nachhaltig. Die Heilungsaussichten scheinen schlechter.

Im Gegensatz dazu ist eine frühe und konsequente Therapie durchaus erfolgreich. Nachfolgend deshalb erst einmal die Pharmakotherapie und später die psychotherapeutischen Möglichkeiten.

Menschen, die an einer Dysthymie leiden, gelten nicht gerade als einfache („pflegeleichte“) Patienten. Besonders ihre Compliance, wie der Fachausdruck heißt, also ihre Therapietreue und vor allem Einnahme-Zuverlässigkeit der verordneten Medikamente lässt oft zu wünschen übrig. Wer diesen Ausführungen bisher gefolgt ist, kann es verstehen. Besonders problematisch wird es – wie erwähnt – bei frühem Beginn und mehrfacher Krankheits-Belastung. Und insbesondere dann, wenn sich bereits nachhaltige Einbußen im Alltag bemerkbar machen. Der Fachbegriff lautet „soziale Fertigkeiten“ und umfasst Partnerschaft, Familie, d. h. Eltern, Kinder und andere Angehörige sowie Arbeitsplatz, Nachbarschaft, Freizeit, aber auch den Umgang mit Finanz-Angelegenheiten u. a.

Unter diesem Aspekt drängt sich vor allem die Psychotherapie auf, also die Behandlung mit seelischen Mitteln. Das ist so oder so unumgänglich. Andererseits weiß aber auch jeder, der auf eine solche spezialisierte Behandlung wartet oder als Arzt solche Patienten vermitteln muss, wie schwer es ist, einen entsprechenden Therapieplatz zu bekommen. Und dies insbesondere bei Dysthymikern (die nicht gerade zu den favorisierten Patienten der Psychotherapeuten gehören, auch das muss einmal zugestanden werden).

Die oftmals beste Lösung ist also die Psychotherapie, aber unterstützt durch eine Pharmakotherapie mit entsprechenden Arzneimitteln, eine gezielte Kombinationsbehandlung. Meist aber bleibt nur die Pharmakotherapie übrig. Sie wird gerne als „Behandlung zweiter Wahl“ abgetan, ist es aber nicht, vor allem nicht bei Patienten mit einer Dysthymie und schon gar nicht mit mehrfacher Belastung (bestes Beispiel: „doppelte Depression“). Zwar ist der Zeitraum, den man in der Dysthymie-Pharmakotherapie konkret übersieht, nicht sehr eindrucksvoll, gemessen an der antidepressiven Behandlung von reinen Depressionen. Das aber, was an spezifischen Untersuchungen vorliegt, ist durchaus befriedigend (offene und kontrollierte Studien, Erhaltungstherapie und sogar die so genannten evidenz-basierten Daten im Rahmen einer Meta-Analyse, also einer Zusammenfassung vorliegender Ergebnisse).

Das gute Resultat von mindestens der Hälfte bis zwei Drittel und mehr Erfolgs-Meldungen (das hört sich zwar nicht sehr eindrucksvoll an, ist aber im Rahmen der zu erwartenden Erfolge ein überraschend gutes Ergebnis) gilt sowohl für die ältere Generation der antidepressiven Arzneimittel (z. B. trizyklische Antidepressiva wie Imipramin, Amitriptylin u. a.) als auch die so genannten MAO-Hemmer (z. B. Tranylcypromin), vor allem aber die modernen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Fluoxetin, Sertralin, Paroxetin, Citalopram u. a. Gute Erfolge werden auch von neueren Antidepressiva gemeldet wie Mirtazapin, Venlafaxin, Reboxetin, Nefazodon u. a. Einzelheiten dazu was die Handelsnamen der erwähnten Substanzen anbelangt – siehe die entsprechende Fachliteratur.

Die Erfolge gelten sowohl für die Kurzzeitbehandlung (einige Monate) als auch die Langzeitbehandlung (Jahre). Manchmal wird der Therapie-Effekt als nicht sonderlich eindrucksvoll eingestuft – und der Patient lässt die Medikamente weg, bricht die Behandlung ab. Dann aber wird – und das ist dann wenigstens ein Vorteil dieser ansonsten bedenklichen „Selbstbehandlungs-Strategie“ –, in vielen Fällen plötzlich doch deutlich, was man mit medikamentöser Hilfe bisher erreicht hatte. Hier sind es nicht zuletzt die Angehörigen, Freunde und Mitarbeiter, die von einer gebesserten seelischen und psychosozialen Situation berichten und den Patienten dann doch noch davon überzeugen können, die abgebrochene Therapie wieder aufzunehmen – zu seinen und aller anderen Gunsten.

Neben der scheinbaren Wirkungslosigkeit, die sich dann als doch vorschnelle Fehl-Beurteilung entpuppt, sind es insbesondere die Nebenwirkungen, die zum Abbruch führen können. Dies gilt vor allem für Dysthymiker im Speziellen, und zwar im Gegensatz zu schwer beeinträchtigten Depressiven, die für alles dankbar sind was ihre Qual erleichtert, selbst um den Preis unangenehmer, aber letztlich ertragbarer medikamentöser Begleiterscheinungen.

Dysthymiker sind eben nicht so hart betroffen, haben aber dafür einen gewissen „Nerv“ für zusätzliche Belastungen, z. B. chemischer Art.

Außerdem soll es eher für Männer, weniger für Frauen gelten, zumal Letztere bekanntlich eine etwas ausgeprägtere Leidensfähigkeit zu entwickeln scheinen, während Männer eher von „kurzer Geduld“ sind. Aber das ist nicht zuletzt eine Frage der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur, Einstellung, Betreuung, Geduld und überhaupt Durchhalte-Fähigkeit. Und es gilt natürlich für die Art des Medikaments. Dabei haben ältere Antidepressiva eine etwas schwerere Last zu tragen, neuere Produkte kommen hier besser weg. Doch auch die erwähnten und überaus erfolgreichen SSRI-Antidepressiva haben ihren eigenen „Nebenwirkungs-Preis“, der also besprochen, akzeptiert und durchgehalten werden sollte (zumal sich viele Begleiterscheinungen im Laufe der Behandlung wieder zurückbilden oder zumindest erträglicher werden).

Ein besonderer Vorteil der erwähnten SSRI-Antidepressiva ist auch die Möglichkeit der „Mehrfach-Nutzung“. Oder konkret: SSRI-Antidepressiva helfen nicht nur bei Depressionen und Dysthymie, sondern auch bei Angststörungen, Zwangsstörungen, im Rahmen einer Reihe psychosomatisch interpretierbarer Beschwerden (heute somatoforme Störungen genannt) und gelten selbst bei manchen Persönlichkeitsstörungen als zumindest diskutable Behandlungs-Alternative. Dabei sollen Frauen besonders gut auf SSRI-Antidepressiva ansprechen, insbesondere vor den Wechseljahren; man vermutet ein Zusammenspiel von serotonin-aktiven Antidepressiva und Sexualhormonen.

Sollte bei diesen Medikamente aber einmal kein Erfolg registrierbar sein, dann darf man nicht resignieren, auch nicht auf der medikamentösen Schiene. Jetzt gilt es die ältere Antidepressiva-Generation zu versuchen; auch da lassen sich noch mitunter erstaunliche Erfolge erreichen, besonders mittel- und langfristig (jedes Antidepressivum braucht ohnehin ein bis drei Wochen, manchmal sogar mehr, bis es „greift“).

Schlussfolgerung: Wenn man die bisher verfügbaren Ergebnisse unter dem übergeordneten Gesichtspunkt zusammenfasst: was hilft besser, Psychotherapie oder Pharmakotherapie?, dann sollte doch bei aller medikamentöser Zurückhaltung folgendes zu denken geben:

Die Dysthymie scheint nicht nur eine „mildere Depression“ oder depressive Verstimmung zu sein, die auf irgendwelche fassbaren Beeinträchtigungen zurückgeht. Wenn dem so wäre, müsste eine Psychotherapie völlig ausreichen. Das aber ist leider oft genug nicht der Fall, wenn es sich eben um eine „richtige“ Dysthymie handelt. Hier scheinen biologische Veränderungen im Gehirnstoffwechsel eine wichtige (entscheidende?) Rolle zu spielen, wie bei der schweren (typischen, früher endogen genannten) Depression auch. Oder kurz: Je größer der biologische Anteil, desto wichtiger die Pharmakotherapie, die ja überwiegend biologisch angreift, selbst wenn der „Arzt als Arznei“ auch in diesem Fall keine unbedeutende Rolle spielt.

Es ist aber auch für eine Psychotherapie oftmals erleichternd, manchmal regelrecht entscheidend, dass der Patient durch den biologischen Einsatz des Medikaments die seelische Zuwendung, Hilfestellung, Umorientierung u. a. überhaupt erst nutzen kann. Das wird zwar von manchen Psychotherapeuten in Abrede gestellt und mag bei „reinen seelischen Leiden“ auch seine Richtigkeit haben. Bei der Dysthymie, der man nun doch eine biologische Basis im Sinne einer Gehirnstoffwechsel-Fehlsteuerung (mit-)unterstellt, ist die Kombination aus beiden Behandlungs-Strategien wohl meist das Optimum. Wenn eine Psychotherapie nicht möglich ist, aus welchen Grund auch immer, dann sollte man auf die Pharmakotherapie erst recht nicht verzichten.

Die Psychotherapie des Dysthymie

Man kann es nur immer wiederholen: Die Dysthymie ist auf mehreren Ebenen schwer belastet. Zum einen ihr langer Krankheitsverlauf, zum anderen die hohe Ko-Morbidität (d. h. Mehrfach-Erkrankung, insbesondere zusätzlich schwere depressive Episoden, Angststörungen, Alkohol- und Medikamenten-Miss­brauch, Persönlichkeitsstörungen u. a.). Das alles führt – nachvollziehbar – zu einer massiven Beeinträchtigung im zwischenmenschlichen Bereich, vor allem was soziale Beziehungen und Leistungsfähigkeit anbelangt – und damit die gesamte Lebensqualität.

So gesehen ist die Psychotherapie unverzichtbar. Sie verbessert den Antrieb, stärkt die körperliche Seite (mindert zumindest die entsprechenden Beschwerden) und kann als effektive Rückfall-Vorbeugung genutzt werden.

Leider wird die Dysthymie nicht nur ausgesprochen spät diagnostiziert und meist untertherapiert bzw. gar nicht behandelt, es muss auch ein psycho-dynamisches Problem berücksichtigt werden:

Menschen, die an einer Dysthymie leiden, sind oft über Jahre hinweg in einem verhängnisvollen Selbstbild gefangen; sie blicken in eine pessimistisch gefärbte Zukunft und neigen dazu, bereits gemachte Erfahrungen auch rückwirkend negativ zu interpretieren (Fachbegriff: kognitive Triade). Positive Interpretationen dringen gar nicht mehr durch. Das führt dazu, dass auch neue Erkenntnisse und Erfahrungen meist fehlerhaft in diesem schwarzseherischen, trübsinnigen, ja trostlosen und schließlich sogar lebensverneinenden Sinne verarbeitet werden. Das Denken verabsolutiert sich in abwertenden, griesgrämigen, ja unheilvollen Schlussfolgerungen. Die Sichtweise ist geprägt durch eine sich selbst erfüllende Negativ-Prophezeiung.

Dieser unglückseligen Entwicklung versuchen bestimmte psychotherapeutische Verfahren entgegenzuwirken. Zum Beispiel:

  • Tiefenpsychologische Theorien gehen von der psychodynamischen Annahme aus: Hinter jedem Symptom steht ein Konflikt. Mit anderen Worten: Das Krankheitszeichen muss nicht unbedingt direkt dem Konflikt entsprechen, es bringt nur etwas zum Ausdruck, was schwer zugänglich, weil unbewusst ist (Einzelheiten siehe das Kapitel über die Neurosen).

Hier spielen vor allem drei Aspekte herein: 1. der in der Kindheit ausgelöste Konflikt (die Beziehungserfahrung des Kindes), 2. die Struktur der Persönlichkeit und ihre besondere Anfälligkeit für eine Erkrankung und 3. die Art und Weise, Konflikte zu verarbeiten (z. B. durch eine damit verbundene Anfälligkeit für eine bestimmte Erkrankung).

Ein Teil des so genannten dysthymen Grundkonflikts ist und bleibt das Bedürfnis nach einer engen und vertrauten Bezugsperson. Leider gab es hier schon herbe Enttäuschungen, was die irrige Schlussfolgerung nahe legt: Um weitere Enttäuschungen zu vermeiden, muss man auch nahe Kontakte umgehen.

Eine andere Verarbeitungsweise wäre dagegen das Gegenteil: sich in Beziehungen völlig aufzuopfern, um sich damit dem anderen gegenüber unentbehrlich zu machen. Durch diese Abhängigkeit wird man aber auch beziehungs-anfälliger, kränkbarer, verletzlicher.

So oder so – derartige Einstellungen können sich als „Lebens-Sackgasse“ erweisen. Dies vor allem dann, wenn noch einige Charakteristika des früher so beschriebenen „Typus melancholicus“ dazukommen: autoritätsgläubig, ordnungsliebend bzw. übergewissenhaft, bereit zur Unterordnung, Perfektheits-Anspruch – und damit in der Gefahr, ständig enttäuscht zu werden, bis hin zur Selbst-Entwertung.

Tiefenpsychologische Theorien zur Dysthymie

- Dysthymie als aversive, fluchthafte Abkehr vom Leben, also einer Lebensverneinung (I. H. Schultz, 1955).

- Der Dysthymiker erlebt sich ausgeschieden aus dem Lebensstrom, abgeschnitten von der Zukunft und ohne erfüllende Gegenwart (E. Minkowski, 1923, E. Straus, 1960, V. E. Gebsattel, 1964).

- Die Dysthymie ist der Ausdruck einer verlorenen Sinnfindung, d. h. es fehlt die Voraussetzung für die sinn-gesteuerte Bereitschaft, in dieser Welt weiterleben zu wollen (V. Frankl, 1975).

  • In der analytisch orientierten Einzeltherapie wird deshalb versucht, eine Verknüpfung zwischen aktuellem Erleben und frühen Erlebnissen und Gefühlen herzustellen, d. h. Verdrängtes, insbesondere Konfliktmaterial bewusst zu machen und in das eigene Werden zu integrieren. Durch diese Neubewertung können sich Leben und Verhalten konstruktiv ändern (Beispiel: eine ambivalent erlebte Mutter-Kind-Beziehung kann zugunsten einer befriedigenden Partnerbeziehung gelöst werden).

Wichtig: Bei der Dysthymie spielt das gestörte Selbstwertgefühl und die daraus folgende große narzisstische Bedürftigkeit eine wichtige Rolle (siehe auch das Kapitel über den Narzissmus).

  • Kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze zielen auf die Veränderung zwischenmenschlicher Aspekte und versuchen die so genannte soziale Kompetenz zu stärken. Denn – so diese Theorie – positiv-verstärkende Ereignisse waren bisher in der Minderzahl, ja, es gab überhaupt kaum eine effektive Verfügbarkeit von Verstärkern (z. B. Beruf oder Partnerschaft). Und dies vor allem deshalb, weil der Betreffende in diesem Punkt nicht aktiv genug ist (oder im Laufe des Lebens „ausgebremst“ und damit lähmend inaktiv wurde).
  • Die kognitiven Therapien nutzen beispielsweise die schon antiken Erfahrungen, insbesondere des griechischen Philosophen Epiktet: „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellung von den Dingen“. Oder konkret: Bei der Auslösung und Aufrechterhaltung einer Dysthymie (wie auch einer Depression) spielen vor allem irrige Annahmen und falsche Überzeugungen eine Rolle. Das fassen die Psychotherapeuten in der so genannten depressiven Triade zusammen, nämlich 1. die negative Selbsteinschätzung, 2. das Erleben der subjektiven Überforderung durch die Welt und 3. die negativen Zukunftsvorstellungen, von denen depressive (und dysthyme) Menschen geradezu beherrscht werden.

Solche zwar irrationalen (dem Verstand nicht zugänglichen, ja jeglicher Vernunft widersprechenden), dafür aber „katastrophierenden“ Gedanken verdrängen die situations-adäquaten Überlegungen und führen zu einer abwärts gerichteten „Denk-Spirale“. Negative kognitive Denkschemata wurzeln also in negativen Erfahrungen. Das sind vor allem Verlusterlebnisse in der Kindheit, die sich später als „unverbrüchlich verfestigen“ (was falsch ist) und schließlich das gesamte Denken und Planen in dieser Richtung (negativ) automatisieren.

Konkret heißt das: Der Dysthyme, der ein solches automatisiertes Negativ-Denkschema von sich selber verinnerlicht hat, muss ja eine negative Selbstsicht besitzen, die ihn dazu veranlasst, Ursachen für Misserfolge grundsätzlich bei sich selber zu suchen und Erfolge auf äußere Faktoren zurückzuführen (z. B. Zufall oder Glück). Oder kurz: Negativ bin ich, positiv ist Zufall.

Wer so denkt, hält sich natürlich bedeckt und versucht potentielle negative Erlebnisse zu vermeiden. Das untergräbt allerdings dann die im Alltagsleben geforderte Aktivität und wirkt im Laufe der Zeit depressions-fördernd, ein Teufelskreis.

Deshalb versucht die kognitive Therapie derart fehlerhafte Denkmuster, irrationale Überzeugungen, negative Erwartungshaltungen und unrealistische Ziele bewusst zu machen, zu ändern bzw. ins Positive umzuwandeln. Vor allem werden solche geistigen Fehl-Funktionen in der Psychotherapie oft überhaupt erstmals hinterfragt und damit bewusst. Dysthyme Menschen müssen erst einmal (wieder) lernen, Kontrolle und Kompetenz für ihr eigenes Leben zu erwerben.

Einzelheiten zur konkreten Methode siehe die entsprechende Fachliteratur, z. B. zu den Aspekten: Selbstbehauptung, Nein-Sagen, Wünsche und Forderungen äußern, Kontakte knüpfen, Gespräche beginnen und beenden(!), positive und negative Gefühle offen äußern, sich eigene Ansprüche erlauben, sich durchzusetzen wagen u. a. Die Erfolge sind auf jeden Fall erfreulich.

  • Ein wichtiger Faktor in der Therapie (und damit psychosozialen Rehabilitation) dysthymer Patienten ist die Gruppentherapie. So können beispielsweise die Betroffenen in Rollenspielen lernen, in nachgestellten Problem-Situationen den Umgang mit Kritik, dem Wahrnehmen und Äußern eigener Wünsche und Bedürfnisse, dem erwähnten Nein-Sagen und dem Ausdrücken von Ärger in zwar gespielten, aber realen Situationen näher zu kommen.

Interessante Variationen in diesem Zusammenhang sind auch die Malgruppentherapie, die Musik- und Tanztherapie und die Entspannungsgruppen.

  • Einen besonderen Stellenwert in der Behandlung dysthymer Störungen nimmt inzwischen die Familientherapie ein. Man kann sich vorstellen, dass die Familie als gleichsam „kleinste Interaktions-Zelle“ gerade bei der Dysthymie eine große Rolle spielt. Einzelheiten auch hier siehe die Fachliteratur. Dazu aber wenigstens einige Stichworte: auslösende Bedingungen wie Verlust von Zuwendung, Respekt, Liebe, Freundschaft, Unterstützung, Wärme u. a., chronische Belastungssituationen (schwere Erkrankungen, dauerhafte Familienkonflikte, Arbeitslosigkeit).

Ein wichtiger Faktor ist dabei der immer häufiger zu hörende Aspekt der Vulnerabilität: Das ist eine in der Regel mehrschichtige Verwundbarkeit auf dem Boden einer möglicherweise genetischen (Erb-)Anlage und verstärkt durch frühe Traumatisierungen (Verwundungen), insbesondere kindliche Verlusterlebnisse, unzureichende Bewältigungsmechanismen, immer stärker werdende defizitäre soziale Fertigkeiten bis hin zu gelernter Hilflosigkeit und geringes Selbstwertgefühl (depressive Konstellation). Kein Wunder, dass hier die Familie miteinbezogen werden muss und auch einen wirkungsvollen Beitrag zu leisten vermag („kleines soziales Netzwerk“).

Weitere Einzelheiten zur Systemischen Familientherapie siehe abschließenden Ausführungen im Kasten.

Systemische Familientherapie

Ziel der Familientherapie ist es, krankheitsfördernde Strukturen und krankmachende zwischenmenschliche Kontaktformen aufzudecken, zu bearbeiten und damit ein erhöhtes Verständnis für den Betroffenen und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten im sozialen Umfeld zu erlangen.

Dysthymie wird in diesem Zusammenhang als ein erlerntes depressives Verhalten interpretiert. Also muss man dieses Fehl-Lernen umprogrammieren, in dem man sich mit den Problemkreisen auseinandersetzt, so früh wie möglich. Zentrale Fragen sind: Was ist das Problem? – Wer ist das Problem? – Auf wen wirkt sich dieses Problem aus? – Wer und was gehört zum Problemsystem?

Das ist schon deshalb wichtig, weil die klassischen negativen Selbst- und ständigen Schuld- und Insuffizienzgefühle den Patienten in seinem Glauben bestätigen, allein verantwortlich, wenn nicht gar „schuld“ zu sein – für seine Symptome und das gesamte „Familien-Elend“. Natürlich sehen das auch die anderen so, wer will es ihnen verargen. Denn:

Die Familie versucht(e) lange zu helfen der Patient reagiert zu wenig (aus der Sicht der Familie) die Familie registriert das verwundert, missbilligend, enttäuscht, gereizt, schließlich aggressiv oder zieht sich zurück der Patient fühlt sich unverstanden oder verlassen die Familie reagiert mit Schuldgefühlen und verstärkt wieder ihren Einsatz (jetzt als Über-Engagement oder über-protektives (überzogenes Schutz-)Verhalten der Patient fühlt sich zunehmend wertlos und in eine infantile (kindliche) Rolle gedrängt die Familie erschöpft sich ? und ist ausgebrannt.

Will der Patient jetzt sein depressives Verhalten und Erleben ändern, findet er eine von Schuld und Aggressionen geprägte Atmosphäre vor, in der sein neues (eigentlich konstruktives) Verhalten kein Platz mehr hat. Ja, er stößt auf Unverständnis und wird vielleicht sogar „niedergemacht“. Jetzt ist die Hilflosigkeit auf allen Seiten perfekt, es regieren Ohnmachtgefühle und verzweifelte Reizbarkeit und Aggression. Jetzt braucht es einen Therapeuten, der sich nicht in diesen Sog der Hilflosigkeit hineinziehen lässt (das setzt nebenbei auch langjährige psychotherapeutische Erfahrung voraus).

Zusammengefasst nach B. Steinbrenner und M. Steinbauer, 2002.

Literatur

Grundlage vorliegender Ausführungen ist der empfehlenswerte Sammelband

Hofmann, P. (Hrsg.): Dysthymie. Diagnostik und Therapie der chronisch depressiven Verstimmung. Springer-Verlag, Wien-New York 2002

Weitere Literaturstellen zum Thema:

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Angst, J.: Epidemiologie der affektiven Psychosen. In: K.P. Kisker u. Mitarb. (Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart, Band 5. Springer-Verlag, Berlin-Heidel­berg-New York 1987

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Faust, V.: Medikament und Psyche. Wiss. Verlagsges., Stuttgart 1995

Faust, V. (Hrsg.): Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Klinik, Praxis und Beratung. Gustav Fischer-Verlag, Stuttgart-New York 1996

Faust, V.: Schwermut. Hirzel-Verlag, Stuttgart-Leipzig 1999

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Leonhard, K.: Akzentuierte Persönlichkeiten. VEB-Verlag Gesundheit, Berlin 1968

Marneros, A. u. Mitarb.: Affektive, schizoaffektive und schizophrene Psychosen. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 1991

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Schneider, K.: Klinische Psychopathologie. Thieme-Verlag, Stuttgart 1946

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Zapotoczky, K.G., P.K. Fischhof (Hrsg.): Psychiatrie der Lebensabschnitte. Springer-Verlag, Wien-New York 2002

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
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