Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
HYSTERIEHysterische Neurose - Histrionische Persönlichkeitsstörung - Dissoziative Störungen - Konversionsstörungen - Konversionshysterie Hysterie - kaum ein Begriff aus dem Gebiet der Psychiatrie und Medizinschen Psychologie löst so viele unterschiedliche Ansichten, kontroverse Diskussionen und auch falsche Vorstellungen aus wie dieser. Doch Menschen mit einer hysterischen Persönlichkeitsstruktur, wie immer man sie früher nannte und heute nennen soll, wirken zwar auf den ersten Blick weniger leidend, mehr aufsehen-erregend, doch wohl fühlen sie sich nicht, im Gegenteil. Es sind nicht so sehr die spektakulären Krankheitszeichen, die sie quälen. Es sind mehr die mittel- bis langfristig drohenden psychosozialen Folgen in Partnerschaft, Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft, am Arbeitsplatz usw., die auf Dauer ein solches Leben belasten, beeinträchtigen, ja zerstören können. Deshalb nachfolgend eine kurzgefasste Übersicht, wie sich ein solches Leidensbild im Alltag darstellen kann. Was Hysterie heißt ("hysterisch"), wissen die meisten, allerdings nur in seiner negativ wertenden Bedeutung. In Wirklichkeit handelt es sich um ein konkretes und durchaus belastendes Krankheits- bzw. Leidensbild. Es hat jedoch in den letzten Jahren einen Bedeutungswandel, ja sogar Begriffswandel erfahren. Geschichte und BegriffswandelSo soll der Begriff hysterisch wegen seiner inzwischen fachlich wie populär-medizinisch eher abwertenden Bedeutung ersetzt werden. Dabei bieten sich zwei Begriffssysteme bzw. die dahinter stehenden Institutionen an: Zum einen die - Histrionische Persönlichkeitsstörung des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störung (DSM-IV) der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA). Histrionisch kommt vom lateinischen: histrio = Schauspieler, Gaukler, also ein aufsehen-erregendes, theatralisches Auftreten provozierend. Zum anderen - die dissoziativen Störungen (Konversionsstörungen) mit unterschiedlichen Leidensschwerpunkten: z.B. Amnesie = Erinnerungslosigkeit, Stupor = seelisch-körperliche Erstarrung, Störungen der Bewegung und der Sinnesempfindungen, Pseudo-Krampfanfälle usw. So will heute die Internationale Klassifikation psychischer Störungen - ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Hysterie beschrieben haben. Dissoziation heißt so viel wie Trennung oder eine Art krankhafte Entwicklung, in deren Verlauf zusammengehörige Denk-, Handlungs- oder Verhaltensabläufe zerfallen und damit der willentlichen Kontrolle des Betreffenden entzogen werden. Konversion kommt vom lateinischen: convertere = wenden, umdrehen. Bei einer Konversionsstörungen werden also gleichsam unverarbeitete innerseelische Probleme in äußerlich erkennbare Funktionsstörungen umgesetzt.
Nachfolgend die Schilderung dieses Phänomens mit Schwerpunkt auf den äußerlich nachvollziehbaren Aspekt, wobei die modernen Definitionen und Klassifikationen nur gestreift werden. Definition der HysterieZwar gibt es keine einheitliche Definition, doch wurde eine Hysterie früher wie folgt definiert, was auch heute noch eine gewisse Gültigkeit hat. Die Hysterie ist eine neurotische Störung, die - entweder durch ein vielfältiges körperliches Beschwerdebild ohne organische Grundlage charakterisiert ist: z.B. Gehstörung, Bewegungssturm, "Schwäche", Arm- oder Beinlähmung, Gefühlsstörung, Ausfall der Sinnesorgane wie Stimmlähmung, Blindheit, Taubheit u.a. und/oder - typisch für eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur: ichbezogen, geltungsbedürftig, kindlich, unreif usw. Häufigkeit der HysterieHäufigkeit und Schwerpunkt hysterischer Krankheitszeichen werden durch Geschlecht und Alter, vor allem durch die jeweilige kulturelle Ausgangslage mitgeformt. In jenen Ländern, in denen der Gemütsbereich und insbesondere die Sexualität (die bei der Hysterie eine entscheidende Rolle spielt - s.u.) integriert und als normales zwischenmenschliches Geschehen weitgehend akzeptiert sind, lassen sich hysterische Symptombildungen nur noch selten beobachten. Dies gilt insbesondere für die westlichen Nationen. Dafür ist sie z.B. in Indien und Osteuropa immer noch relativ oft anzutreffen, vor allem bei einfach strukturierten Persönlichkeiten. Dennoch spricht man auch im Westen von 2 bis 3% der Bevölkerung, bei jedoch hoher Dunkelziffer und vor allem modifiziertem Beschwerdebild (siehe später: DSM-IV). Die Geschlechtsverteilung wird inzwischen eher als ausgeglichen bezeichnet, doch fallen Frauen offenbar mehr auf, während man Männern bestimmte Verhaltensweisen mitunter eher nachsieht (z.B. hysterische Persönlichkeit mit entsprechendem Auftreten in Gesellschaft, d.h. Kultur, Politik, Sport u.a.). Psychologische Aspekte der HysterieZur hysterischen Persönlichkeitsstruktur gehören z.B. narzisstische (übersteigertes Bedürfnis nach Bewunderung), egozentrische (ichbezogene) und geltungsbedürftige Einstellungen mit überzogener Selbst-Darstellung und einem infantilen (kindlichen) Bedürfnis nach ständiger Anerkennung. Vor allem sind Hysteriker kaum in der Lage, sexuelle Wünsche so zu integrieren, dass sie für beide Seiten halbweg befriedigend ausfallen. Deshalb sind hysterische Menschen oftmals auch unfähig zu einer reifen Sexualbeziehung und Befriedigung. Außerdem neigen sie in ungewöhnlicher Form dazu, ihre zwischenmenschlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Konflikte zu verdrängen, ja völlig vom Bewusstsein abzuspalten. Ein Mensch mit hysterischer Persönlichkeitsstruktur sieht sich also aufgrund seiner Wesensart kaum in der Lage, die wahren Hintergründe seiner psychosozialen Konflikte zu erkennen und vor allem anzuerkennen. Und damit sind einer Behandlung, inbesondere psychotherapeutischen Bemühungen oft enge Grenzen gesetzt. Die Ursachen sollen nach psychoanalytischer Auffassung in einer einseitigen Fixierung auf den gegengeschlechtlichen Elternteil und in unbewussten Phantasien sexueller Verführung liegen. Auch würden nach diesen Theorien hysterische Frauen ihre eigene Geschlechtsrolle als demütigend ablehnen, hysterische Männer damit ihre männliche Potenz untermauern wollen. Tatsächlich spielt bei nicht wenigen hysterischen Symptomen, z.B. bei hysterischen Anfällen und Beschwerden einerseits die erwähnte sexuelle Komponente eine wichtige Rolle (besonders ausgeprägt im sogenannten "arc de cercle" = kreisbogenförmige Vorbeugung des Körpers mit rhythmischen (koitalen) Bewegungen des Beckens) und andererseits ein vermehrtes Strafbedürfnis. Das sind aber nur einige wenige Überlegungen. Gerade über die Hysterie gibt es zahlreiche - und fachlich oft kontrovers diskutierte - Hypothesen zur Psychodynamik der Entstehung, des Verlaufs und der schwierigen Therapiefähigkeit. Nachfolgend deshalb eine alltags-nähere Beschreibung der Hysterie unter der schon erwähnten Bezeichnung histrionische Persönlichkeitsstörung des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-IV) der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA). Das Leidensbild der Hysterie (histrionischen Persönlichkeitsstörung)Hauptmerkmal einer hysterischen oder jetzt histrionischen Persönlichkeitsstörung ist eine tiefgreifende und übertriebene Emotionalität (Gemütseinstellung) und ein übermäßiges Streben nach Aufmerksamkeit. Die Betroffenen fühlen sich rasch nicht gebührend beachtet oder gar unwohl, wenn sie nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Im Einzelnen in Stichworten:
Psychosoziale Folgen der HysterieSo nimmt es nicht Wunder, dass sich aus dieser Wesensart zahlreiche Probleme im Alltag von Partnerschaft, Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft, Arbeitsplatz u.a. ergeben. Am meisten beklagt wird die mangelnde emotionale (gemütsmäßige) Tiefe im zwischenmenschlichen und vor allem sexuellen Bereich. Negativ vermerkt wird auch die Neigung zu Extrem-Positionen, z.B. entweder "Opfer" oder "Prinzessin" bzw. "Macho". Auf der einen Seite wird gerne versucht, durch emotionale Manipulationen oder Verführungen die anderen zu kontrollieren, auf der anderen Seite fühlen sie sich "schrecklich abhängig", was auch deutlich zur Schau und "in Rechnung" gestellt wird. Gleichgeschlechtliche Freunde, Bekannte oder Arbeitskollegen gehen deshalb rasch auf Distanz, da sie sich in ihrer eigenen Position provoziert, wenn nicht gar bedroht sehen (z.B. berufliche Stellung, eigene Partnerschaft). Außerdem ermüdet diese ständig vorgetragene Erwartungshaltung nach überzogener Aufmerksamkeit und vor allem die Degradierung des Umfelds zur Bühne bzw. zum staunenden Publikum sehr rasch. Wenn die Betroffenen aber keinen Erfolg mehr haben, reagieren sie schnell gekränkt, deprimiert, wenn nicht gar reizbar bis aggressiv. Auch das belastet ("Umfeld zum ständigen Applaus verdammt"). Andererseits sind Menschen mit einer hysterischen Persönlichkeitsstruktur ständig auf der Suche nach Neuigkeiten und Aufregung, auf jeden Fall nach Stimulation. Alltägliches wird rasch langweilig. Zwischenmenschlich sind sie meist intolerant, auf jeden Fall aber schnell frustriert, wenn sie sich nicht sofort bestätigt fühlen. Ihr Handeln ist gleichsam auf unmittelbare Befriedigung programmiert. Neue Aufgaben oder Projekte können sie mit großem Enthusiasmus (Begeisterung) beginnen, doch kann das Interesse schnell erlahmen. Länger bestehende Freundschaften werden oft vernachlässigt, um Platz zu schaffen für neue Beziehungen. Zu den besonders belastenden, weil aufmerksamkeits-erheischenden und natürlich nicht ungefährlichen Reaktionen gehören auch Selbsttötungs-Androhungen oder gar suizidale Handlungen. Auch sind hysterische Reaktionen im Allgemeinen bzw. histrionische Persönlichkeitsstörungen im Speziellen nicht selten kombiniert mit depressiven Verstimmungen, Angststörungen, Somatisierungsstörungen (auch als funktionelle oder Befindlichkeitsstörungen bezeichnet - siehe das entsprechende Kapitel), vor allem aber Konversionsstörungen. Das sind die oben erwähnten seelisch bedingten "Schwächeanfälle" oder Lähmungen, Empfindungsstörungen, Stimmlähmungen, Blindheit, Taubheit u.a. Dasselbe gilt für das Borderline-Syndrom (siehe dieses) oder die narzisstischen (übertriebenes Bedürfnis nach Bewunderung), antisozialen und seelisch von anderen krankhaft abhängigen Persönlichkeitsstörungen. Einzelheiten siehe die entsprechenden Stichwörter bzw. Kapitel.
Zur Therapie der HysterieAm ehesten - falls überhaupt eine Therapie gewünscht wird oder zustande kommt - eine aktive, energische psychagogische Führung (Mischung aus Psychotherapie und pädagogischen Maßnahmen). Bei einfachen Persönlichkeitsstrukturen ggf. Hypnose. Tiefenpsychologisch-analytische Verfahren scheinen sich nur bei Persönlichkeitsstrukturen mit einer gewissen geistigen und gemütsmäßigen Ausstattung bewährt zu haben - plus starkem Leidensdruck. Möglichst keine Psychopharmaka. Gefahr des "doctor-shopping´s" bzw. "doctor-hopping´s". LiteraturÜber viele Jahrzehnte hinweg interessantes Thema mit zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen und auch allgemeinverständlichen Beiträgen mit oft sehr unterschiedlichen Ansichten und entsprechendem Niveau. FachbücherAPA: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen - DSM-IV. Hogrefe-Verlag für Psychologie, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle 1998. Bräutigam, W.: Reaktionen - Neurosen - Abnorme Persönlichkeiten. Thieme, Stuttgart 1985 Brenner, Ch.: Grundzüge der Psychoanalyse. Fischer, Frankfurt 1967 Faust, V.: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Klinik, Praxis und Beratung. G. Fischer-Verlag, Stuttgart-Jena-New York 1996 Fiedler, P.: Persönlichkeitsstörungen. Beltz-Verlag, Weinheim 1995 Fiedler, P.: Dissoziative Störungen und Konversion. Beltz-PsychologieVerlagsUnion, Weinheim 1999 Freud, S. (gemeinsam mit Breuer, F.): Studien über Hysterie. Deudicke, Wien 1922 Kuiper, P.C.: Die seelischen Krankheiten des Menschen. Klett, Stuttgart 1968 Kretschmer, E.: Hysterie, Reflex und Instinkt. Thieme, Stuttgart 1948 Mentzos, St.: Hysterie. S. Fischer-Verlag, Frankfurt 1997 Müller, C. (Hrsg.): Lexikon der Psychiatrie. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York-London-Paris-Tokyo 1986 Scharfetter C.: Allgemeine Psychopathologie. Thieme-Verlag, Stuttgart 1996 Uexküll, Th. v. (Hrsg.): Psychosomatische Medizin. Urban & Schwarzenberg, München-Wien-Baltimore 1996 WHO: Internationale Klassifikation Psychischer Störung - ICD-10. Verlag Hans Huber, Bern-Göttingen-Toronto 1992 |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |