Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
MACHT UND SEELISCHE STÖRUNG
"Wenn man nur den geisteskranken "Führer" Adolf Hitler hätte rechtzeitig aus dem Verkehr ziehen können (wobei es ja nicht unbedingt gleich ein tödliches Attentat sein muss), dann wäre Deutschland und der Welt viel erspart geblieben", lautet sinngemäß ein häufig zu hörender Seufzer. Da regt sich wahrscheinlich wenig Widerstand. Das Gleiche gilt für J. W. Dschugaschwili, den unter seinem eigenen Namen wohl niemand mehr kennt, der aber als russischer Diktator Stalin in seinem und vielen anderen Ländern ähnlich verheerend gewütet hat. Auch er wird heute als psychisch gestört vermutet - rückwirkend (siehe später). Viel weniger bekannt aber sind durchaus integre Politiker von Weltrang wie der Brite Churchill und der Amerikaner Roosevelt, die nebenbei mit Stalin schließlich nicht nur über das Schicksal des geschlagenen Deutschlands, sondern auch einer Reihe weiterer Nationen entschieden - und ebenfalls als nicht gesund gelten (aber zu ihrer Zeit nicht offiziell galten, denn damals waren gesundheitliche Einbußen ein Staatsgeheimnis, und als sie später ans Lichts der Öffentlichkeit drangen, mitunter ein Skandalereignis). Deshalb haben sich die für solche Krankheiten zuständigen Psychiater und Psychologen immer wieder Gedanken gemacht, wie so etwas rechtzeitig erkannt, akzeptiert und zumindest für beide Seiten verträglich "geregelt" werden könnte, denn eine psychisch kranke Einzelperson ohne größere Verantwortung ist kein Thema, ein psychisch labiler oder gar gestörter bis kranker Staatsmann hingegen sehr wohl. Zu der beliebtesten Lektüre zu diesem Thema gehörte übrigens früher das dicke Buch über "Genie, Irrsinn und Ruhm" von W. Lange-Eichbaum, das jedoch nicht nur Politiker, sondern führende Vertreter sämtlicher Disziplinen (Literatur, Bildende Kunst, Musik, Wirtschaft, Militär u.a.) umfasste. Inzwischen sind aus diesem einen Buch 11 Bände geworden, die bis zu einem gewissen Zeitpunkt alle verfügbaren Pathographien (Darstellung von Krankheitseinflüssen auf Entwicklung und Leistung eines Menschen) zusammenfassen. Und bisweilen hat man sogar den Eindruck, zumindest auf den ersten Blick: Gibt es noch Große ihres Fachbereichs, die auch wirklich seelisch gesund gewesen sein sollen? Das wäre zwar ein spannendes Thema von weittragender Bedeutung, doch soll hier einfach einmal auf der Grundlage eines neuen Beitrags in der Fachzeitschrift Krankenhauspsychiatrie das Problem mehr historisch als pathographisch gestreift werden, einschließlich entsprechender Beispiele vom Alten Testament bis heute (Hausteiner, C., B. Pfau: Macht und Geist. Psychische Erkrankungen bei Staatsoberhäuptern. Krankenhauspsychiatrie 3 (2002) 120). Dort heißt es schon in der Einleitung: "Obwohl die Geschichte zahlreiche Beispiele für beeinträchtigte geistige Gesundheit an der Spitze von Staaten mit zum Teil verheerenden Folgen kennt, ist diese Thematik verhältnismäßig selten Gegenstand der öffentlichen Diskussion". Nachfolgend deshalb eine komprimierte Übersicht. Der schmale Grat zwischen Individual- und Gemeinwohl Ärzte - so schreiben die Autoren - finden sich oft wieder in der Rolle als Vertraute und Mitwisser einerseits und als zur Objektivität verpflichtete Gutachter andererseits. Der Grat zwischen den Interessen des Individualwohls und des Gemeinwohls ist oftmals schmal. Dies gilt für jeden Arzt, insbesondere aber für die so genannten Leibärzte großer Persönlichkeiten, vor allem hoher Politiker. Ganz besonders heikel wird es aber, wenn bei führenden Staatsmännern eine Nervenkrankheit diagnostiziert werden muss, wie man das früher nannte, oder heute: eine seelische Störung, die ja bekanntlich von Alzheimer bis Zwangsstörung viel breiter angelegt ist, als man sich das in der Allgemeinheit vorzustellen vermag. Nun muss es nicht gleich eine ernste Erkrankung sein. Es gibt zahlreiche Funktionsstörungen des Gehirns, die sich schon altersbedingt erklären lassen. Daraus erwachsen dann vor allem Probleme der Kognition (vom lateinischen: cognoscere = erkennen), d.h. das was man schlechthin unter geistigen Fähigkeiten (des Erkennens, Verarbeitens, Schlussfolgerns) versteht. Ein zweites Problem ist die so genannte Realitätswahrnehmung. Oder kurz: Ist der Betreffende noch in der Lage, die Realität so zu erkennen und zu interpretieren, wie das einem Gesunden gleichen bildungsmäßigen Niveaus gegeben ist? Nun sind das Einbußen, die fast jeder irgendwann einmal hinnehmen muss, wenn er das entsprechende Alter erreicht hat. Die Frage lautet nur, steht der Betreffende dann noch in verantwortungsvoller Position und was kann es bedeuten, wenn seine geistigen Fähigkeiten, vor allem sein intellektuelles Reaktionsvermögen nachlassen, wenn er gemütsmäßig verflacht und die Realität zu verkennen beginnt. Zwar sind Menschen in Führungspositionen in der Regel erfahrener und älter und damit näher dran an dem so genannten biologischen Wegezoll kognitiver Alterseinbußen. Besonders problematisch wird das aber in jenen Bereichen, in denen tradionellerweise nicht nur das Alter bei Erreichen der Führungsspitze (sei es politisch oder wirtschaftlich) überdurchschnittlich hoch ist, sondern fatalerweise auch nicht das Privileg besteht, zu einem bestimmten Zeitpunkt in Rente gehen zu dürfen bzw. zu müssen. Was heißt das? Die Antwort lässt sich konziliant umformulieren, nämlich: Warum sollen die Gehirne von Militärs, Politikern und Wirtschaftsbossen anders strukturiert sein als die von Piloten und vergleichbaren Berufen, die man vorsichtshalber "rechtzeitig" ihrer Verpflichtungen entbindet? Denn Staatsoberhäupter sind - einmal abgesehen von der Attentats-Gefährdung - einem ähnlichen Spektrum an Todesursachen und vor allem Todeszeitpunkten ausgesetzt wie der einfache Mitbürger, wie man aus der entsprechenden Literatur weiß. Beispiele, die nachdenklich machen · Unter den Beispielen, die zumindest nachdenklich machen sollten, ist König Christian VII. von Dänemark wahrscheinlich eine der markantesten. Dieser mehr als vier Jahrzehnte auf dem dänischen Thron sitzende und seine Umgebung in Angst und Schrecken versetzende Monarch aus dem 18. Jahrhundert hatte - rückblickend diagnostiziert - vermutlich eine paranoide Psychose (d.h. eine wahnhafte Störung, wenn nicht gar Schizophrenie), die nur deshalb weniger Unheil anrichtete, weil sein Leibarzt C. v. Struensee dieses gefährliche Phänomen nicht nur erkannte, sondern auch verhaltenstherapeutisch oftmals zu neutralisieren verstand, womit er schließlich zum eigentlichen Staatslenker aufstieg (was allerdings sein eigenes, zuletzt trauriges Schicksal beschleunigte). · Ein weiteres Beispiel ist der US-amerikanische Präsident Thomas Woodrow Wilson zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der schon viele Jahre vor seinem Amtsantritt unter einem schwer einstellbaren Bluthochdruck mit vorübergehenden Durchblutungsausfällen im Gehirn litt, so dass man bereits vor dem Präsidentenamt an seinem baldigen Tod glauben musste. Wilson war der entscheidende Mann auf der Friedenskonferenz von Paris, wo nach dem 1. Weltkrieg über das Schicksal Deutschlands entschieden wurde. Schon damals fiel er durch Vergesslichkeit, unpassendes Benehmen sowie Jähzorn auf und erlitt später einen ausgedehnten Schlaganfall und eine Halbseitenlähmung. Das wurde lange verheimlicht, zumal sowohl Wilsons Ehefrau als auch sein Leibarzt die Amtsgeschäfte praktisch weiterführten und den Kongress und Vizepräsidenten davon abhielten, rechtzeitig einzugreifen. Alle diejenigen, die sich in der neueren Geschichte etwas auskennen wissen, dass dies ein verhängnisvoller Verlauf war, und zwar erst einmal für die USA selber, später aber auch für Europa, insbesondere Deutschland und wohl die ganze westliche Welt. Man sagt, dass hier wohl einer der politischen Keime für den 2. Weltkrieg gesetzt worden sei, nicht zuletzt gebahnt durch die schwere Erkrankung eines maßgeblichen Politikers, der unter den Folgen einer so genannten vaskulären Demenz (gefäßbedingten Geistesschwäche) gelitten habe. · Noch katastrophaler aber war wahrscheinlich die Krankheit von Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, der als Josef Stalin nicht nur zum Diktator des russischen Weltreichs bzw. der UdSSR, sondern auch als kaltblütiger Verhandlungspartner der westlichen (ebenfalls körperlich und seelisch nicht gesunden) Staatsoberhäupter über das Geschick Osteuropas, Teile der übrigen Welt und den ganzen Weltfrieden der nächsten Jahrzehnte entscheidend eingriff - und wahrscheinlich von seinem eigenen Leiden nicht unwesentlich beeinflusst. Josef Stalin ("der Mann aus Stahl") starb Mitte des 20. Jahrhunderts an einer Gehirnblutung, nach mehreren Schlaganfällen, die alle einen nachdenkenswerten Hinweis auf eine vorausgegangene dementielle Entwicklung gegeben haben (gehirnbedingte Geistesschwäche). Stalin zeigte aber schon weitaus früher viele Merkmale einer paranoiden (wahnhaften) Persönlichkeitsstörung. Die Folgen kann man sich denken. Sie trafen übrigens nicht nur Millionen unschuldiger Opfer, sondern auch einen Sohn aus erster Ehe, seine Frau, seine Geliebte und (wahrscheinlich) mehrere Leibärzte. Stalins Terror überzog nicht nur die eigene Groß-Nation (zusammengezwungen aus vielen Völkerschaften), sondern ängstigte auch die halbe Welt und führte dazu, dass nach zwei verheerenden Weltkriegen das Wettrüsten keine Ende nehmen wollte. Besonders gefürchtet war seine Unberechenbarkeit, seine Willkür, seine extreme Empfindlichkeit gegenüber Kritik, sein nachtragendes und unerbittliches Verhalten gegenüber anderen, sein Misstrauen, seine überzogene Ich- und Selbst-Bezogenheit und - vor allem in seinen Partnerschaften - seine krankhafte Eifersucht. · Weil eingangs davon gesprochen wurde, dass er zusammen mit zwei anderen, seelisch offenbar auch nicht gesunden Staatsmännern das Schicksal Deutschlands und Osteuropas verhandelte (Jalta 1945), sei nur am Rande erwähnt, dass einer der bedeutendsten amerikanischen Präsidenten, nämlich Franklin Delano Roosevelt nicht nur durch seine Kinderlähmung aufs schwerste behindert war, sondern seit Jahren die Zeichen einer Herzinsuffizienz mit massivem Bluthochdruck gezeigt hat, was auch nicht ohne Folgen auf seine Leistungsfähigkeit, insbesondere in emotionaler und geistiger Hinsicht geblieben sei. Sein Namensvetter und einer seiner politischen Vorgänger einige Jahrzehnte zuvor, der amerikanische Präsident Theodor Roosevelt, galt übrigens als manisch, d. h. von einer krankhaften Hochstimmung getragen bzw. beeinträchtigt. Einzelheiten siehe die Falldarstellungen am Ende dieses Beitrags. · Und der Dritte im damals entscheidenden Bunde, der weltberühmte, weil auf mehreren Gebieten geniale britische Premierminister Winston S. Churchill, der keinen geringen Anteil am Sieg der Alliierten gegen das III. Reich der Nationalsozialisten Adolf Hitlers hatte und sich auch schon durch seine frühere politische (und nebenbei auch literarische) Laufbahn hervortat, war offensichtlich manisch-depressiv. In seinen manischen Hochstimmungsphasen (glücklicherweise dann, wenn man sie am ehesten gebrauchen konnte, nämlich u.a. in den großen Krisenzeiten Englands während des 2. Weltkriegs) war er geistig, körperlich und damit politisch unübertroffen, in seinen depressiven Phasen aber monatelang "am Ende" und sogar suizidgefährdet. Außerdem litt er unter den Folgen mehrerer Schlaganfälle, und das schon während seiner letzten Amtszeit. Dies alles wurde erst nach einem Tod bekannt, war zuvor eines der bestgehüteten Staatsgeheimnisse Englands und führte nach der Veröffentlichung (im Übrigen durch seinen Leibarzt nach dem Tode Churchills) auch zu einem Skandal. Weitere Einzelheiten dazu siehe die entsprechende Falldarstellung. · Über die Psychopathologie Adolf Hitlers wurde immer wieder spekuliert. Keinen Zweifel gibt es an einer Parkinson-Krankheit ("Schüttellähmung"), die bekanntlich auch seelische Folgen hat, insbesondere Depressionen mit Miss-Stimmung, Gereiztheit, leichter Irritierbarkeit, mit Pessimismus und sogar Suizidgedanken. Auch ist von einer abgeheilten Enzephalitis (Hirnentzündung) die Rede und von einer Vergiftung durch "Anti-Gas-Pillen", ergänzt durch eine Medikamenten-Abhängigkeit gegen Ende seines Lebens. Genaues aber weiß man nicht, denn alle Aufzeichnungen wurde beim Fall Berlins vernichtet und was übrig blieb, war lediglich das inhaltlose Gerücht um eine "Kopfgrippe" Hitlers, was damals die volkstümliche Bezeichnung für eine bestimmte Hirnentzündung war (epidemische Economo-Enzephalitis). Beides, die Hirnentzündung und die Parkinson-Krankheit können einen Teil von Hitlers Wesensart erklären - aber nur den kleineren. Letztlich dürfte dem Ganzen eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur zugrunde gelegen haben, die man früher als Psychopathie, heute als Persönlichkeitsstörung bezeichnet, wobei gerade das Wesen von Adolf Hitler mehrere Interpretationsmöglichkeiten zulässt und unter den Experten nach wie vor kontrovers diskutiert wird. Für Deutschland und die Welt war es jedenfalls eine Katastrophe. Staatsoberhäupter der jüngeren Vergangenheit Aber es ist nicht nur die Vergangenheit (wobei man praktisch in allen Epochen fündig wird, bis hin zum Alten Testament - siehe später), es sind auch die letzten Jahrzehnte, die zum Nachdenken anregen. · Der finnische Präsident Urho Kekkonen wurde mit 78 Jahren zum vierten Mal gewählt, sicher nicht ohne Grund, er war beliebt und politisch bewährt, musste aber dann doch drei Jahre später wegen einer bis dahin geheim gehaltenen Demenz zurücktreten. Zuvor war er das Beispiel schlechthin für unverwüstliche Gesundheit gewesen, seine Person wurde regelrecht idealisiert. Jahrzehnte hatte er das damals politisch im West-Ost-Konflikt in heikler Lage zu balancierende Finnland durch den Kalten Krieg und die folgenden Jahrzehnte gelotst. Doch zuletzt war er so desorientiert und hilflos, dass wichtige Staatstreffen wegen "Grippe" abgesagt werden mussten, von peinliche Szenen ganz zu schweigen (die aber dann doch als Foto um die ganze Welt gingen). Nun ist es den Wählern nicht vorzuwerfen, dass sie zuletzt nicht mehr den wirklichen Kekkonen, sondern ihre Wunschvorstellung von einem ewig klugen und gesunden Landesvater gewählt haben. Die Soziologen nennen so etwas das "charismatische Herrschertum", in dem ein Staatsoberhaupt aufgrund bestimmter Eigenschaften aufgestiegen und später nicht mehr kritisch hinterfragt wird - je länger, desto weniger. Im Übrigen hat diese, ggf. auch einmal folgenschwer ausgehende "Staats-Geschichte" dazu geführt, dass seit Kekkonen der jeweilige finnische Präsident jährlich einen Gesundheitsbericht abgeben muss. · Und um bei den US-Amerikanern zu bleiben: Einer ihrer erfolgreichsten Präsidenten, zumindest nach außen, war Ronald Reagan. Er hatte schon deshalb gute Startbedingungen, weil sein Vorgänger äußerlich wie politisch eher blass blieb (wenngleich er inzwischen wegen seiner mutigen und moralisch integeren Interventionen den Friedensnobelpreis bekommen hat, nämlich Jimmy Carter). Und Reagan selber als zuvor beliebter Filmschauspieler (nicht zuletzt in Cowboy-Rollen) jenes Idealbild repräsentierte, das die Amerikaner vielleicht nicht ganz so ernst nehmen, in Wirklichkeit aber sehr wohl in ihrem Herzen bewahren, nämlich der stets erfolgreiche "Macher", ob im Alltag oder an der politischen Spitze. Auch nach einem Attentat (1981) und einer Darmkrebs-Operation (1985) mit der Notwendigkeit schwerer Schmerz- und Beruhigungsmittel gab er die Amtsgeschäfte so gut wie nie an seinen Vizepräsidenten ab. Die Ärzte, Psychologen und Journalisten fragen sich allerdings heute, ob seine geistigen Funktionen nicht schon damals nachgelassen haben. Denn später, d.h. nach seiner Amtszeit trat er selber vor die Medien und bekannte an einer Alzheimer-Demenz zu leiden (was nebenbei ein bewundernswerter Schritt war, weil er dieses Leiden zumindest im Ansatz "ent"-stigmatisierte und damit vielen Betroffenen und ihren Angehörigen einen Teil ihrer Scham nahm). · Die Liste ließ sich auch in jüngerer Zeit verlängern, von körperlichen Krankheiten mit seelischen und psychosozialen Folgen bis zum spektakulären Wahn (z. B. Enver Hodscha, dem albanischen Diktator). Und wenn es in einem modernen (westlich-demokratischen) Staat auch nicht enden muss wie bei König Lear, dem berühmten Drama von Shakespeare, bei dem die seelisch-geistige Zerrüttung mit dem Niedergang eines ganzen Reiches endet, so ist doch selbst heute nicht auszuschließen, dass man aus Gründen der Politik-Strategie ("Staatsraison") zu verheimlichten sucht, was zu verheimlichen möglich ist - so lange wie irgend vertuschbar. Denn oft erst später wird bekannt und damit deutlich, wie schwierig es (meist) war, den hochrangigen Politiker von den gröbsten Fehlern abzuhalten, auch wenn unter modernen Bedingungen keine so katastrophalen Folgen "Shakespearischen Ausmaßes" zu befürchten sind. Was aber könnte man tun, wenn die zuständigen Institutionen und Politiker es zu tun gewillt sind. Wer könnte hier mit seinem Fachwissen weiterhelfen? Was könnte man tun, was sollte man tun, was wird getan? Das Problem steht klar vor Augen: Geistiges Versagen kommt auch an der Spitze von Staaten vor, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht. Es ist, wenn überhaupt, nur im Einzelfall vorhersehbar. Und deshalb sollten wir uns auch rechtzeitig über solche Möglichkeiten Gedanken machen. Denn die geistige Kompetenz oder Inkompetenz eines Staatsoberhauptes ist die Archilles-Ferse einer Nation. Denn wenn ein Volk auch kein Genie an seiner Spitze fordert, so wünscht es sich doch bestimmte (überdurchschnittliche) Fähigkeiten, z. B. was logisches Denken, Abstraktion und konkrete Schlussfolgerungen anbelangt, wenn möglich auch eine gewisse moralische Integrität. Ob dieser Wunsch realisierbar oder überhaupt gerechtfertigt ist, mag eine andere Frage sein. Wir leben zwar in einer repräsentativen Demokratie und haben allen Einfluss über legale Wahlen, aber den notwendigen Durchblick haben wir deshalb noch lange nicht, und zwar offenbar immer weniger, trotz wachsenden Einflusses der Medien (was sich zwar gut ausnutzen lässt ("Medien-Kanzler"), aber nicht endlos - um dann eines Tages auch einmal gnadenlos umzuschlagen). So stehen Politiker im Allgemeinen und Staatsoberhäupter im Speziellen vor allem durch die Medien im Rampenlicht und es wird immer wieder deutlich, dass gerade geistige Schwächen sehr rasch zum öffentlichen Thema werden. Das betrifft die eigene Nation, vor allem aber das Ausland, insbesondere bei Staatsbesuchen, also besonders heiklen Situationen, in denen alle Beteiligten unter höchster Anspannung stehen. Hier gibt es eine ganze Reihe von Beispielen, wovon nur der russische Staatspräsident Boris Jelzin erwähnt werden soll, der sich einmal in einem ganz anderen Land wähnte und ein Abkommen unterzeichnen wollte, das gar nicht existierte. War er nur einfach übermüdet oder begann ihn hier eine so genannte hepatische Enzephalopathie nach Alkoholabusus zu beeinträchtigen? Verdachtsmomente gibt es genug, objektive und vor allem veröffentlichte Befunde nur wenige, die Ärzte bleiben auf Mutmaßungen angewiesen. Dabei sind auch hochrangige Politiker Menschen wie jeder andere auch und bräuchten letztlich nichts anderes als eine rechtzeitige und vor allem ungeschönte Diagnose und danach eine gezielte Therapie. Doch Politiker, nicht zuletzt in einer modernen Demokratie, die es in dieser Hinsicht oftmals nicht anders hält (oder halten muss?) als Diktaturen auch, werden aus gutem Grund hermetisch abgeschirmt, Geheimhaltung in jeder Hinsicht ist die Losung. Und sie ist auch das Los, das Schicksal, bedeutet sie doch, dass einem potentiellen Patienten in der Führungsetage eine gezielte Therapie vorenthalten wird. Das betrifft ja schon die körperlichen Leiden und mögliche seelische noch mehr. Auch hier gibt es eine Reihe von Beispielen, wovon eine der interessantesten Thomas Eagleton ist, der im "freiesten Land der Welt", den USA, als Spitzen-Politiker schon ausgebremst wurde, bevor er antreten konnte. Einzelheiten siehe später in den Falldarstellungen. Nun kann man sich aber auch fragen, ob diese Verschleierungstaktiken die wirklich einzige Ursache sind, warum die geistige und seelische Stabilität von Staatsoberhäuptern nicht häufiger Thema der öffentlichen Diskussion werden. Ein erfreulicher Grund wäre, dass diese Spitzen-Politiker in dieser Hinsicht tatsächlich überdurchschnittlich gesund zu sein pflegen. Das ist aber nicht sehr wahrscheinlich. Oder dass man bei der Frage, wie fähig unsere politischen Führer sind, vielleicht nicht so genau hinsieht. Und dies beispielsweise aus Gleichgültigkeit, Interesselosigkeit, naiver Gutgläubigkeit, politischer Abstinenz ("was interessieren mich die da oben") oder einfach aus einer Autoritätshörigkeit und hoffnungs-trunkenen Idealisierung, was eine politische Vater- und Leitfigur an der Spitze des Staates anbelangt - sicher weiter verbreitet als allgemein vermutet. Oder ist es vielleicht eine Art kollektive Scham, ein peinliches Berührtsein, das uns wegsehen lässt, wenn jemand seelisch dekompensiert. So etwas findet man ja nicht nur bei nahen Verwandten, sondern auch bei Freunden, Nachbarn und Berufskollegen. Die Demenz, die (altersbedingte) Geistesschwäche mit ihren möglichen Fehlverhaltensweisen oder gar Peinlichkeiten ist sogar noch problematischer als eine augenscheinliche psychische Erkrankung. Das liegt zum einen an der Möglichkeit, dass es nun wirklich jeden treffen kann, der das zwar erwünschte, aber dann auch demenz-gefährdete Alter erreicht, zum anderen an der oft schleichenden Art, wie sich das Beschwerdebild entwickelt, und schließlich an der Unmöglichkeit, jedenfalls bis heute, dagegen etwas langfristig wirkungsvoll zu tun, sei es psycho- oder soziotherapeutisch, sei es medikamentös. Für nicht-demokratische Systeme kommt neben der revolutionären wohl nur die fatalistische Verhaltensweise in Frage ("man muss es halt schicksalhaft laufen lassen"). So jedenfalls die resignierten Schlussfolgerungen, die sich aus den Untersuchungsergebnissen der Historiker und Pathographen ergeben. Andererseits: Wäre das Königreich Bayern bzw. seine damals ja in der Tat verzweifelte Regierung gegen Ludwig II. früher und konsequenter vorgegangen, gäbe es nicht so herrliche Märchenschlösser, von denen inzwischen das demokratische Bundesland Bayern durchaus profitiert. Im Übrigen aber wird das Motto: "Es wird schon seine Ordnung haben" nur dann seine tröstliche Funktion erfüllen, wenn man an einen Regenten von Gottes Gnaden glaubt (was im Übrigen keine überholte Vorstellung ist, die entsprechenden Sehnsüchte einer wachsenden Zahl demokratie- bzw. bürokratie-müder Bürger sprechen für sich). Eine weitere Möglichkeit ist die Taktik des erwähnten dänischen Leibarztes Struensee, die den König oder heute Präsidenten als Attrappe beizubehalten versucht und die Amtsgeschäfte sozusagen aus dem Hinterhalt führen lässt (was beispielsweise auch im modernen Amerika durch die Gattin des schwer erkrankten Präsidenten Wilson geschehen ist, im Übrigen auch im eigenen Lande einmal durchaus heilsam geschehen sein soll: Bundespräsident H. Lübke). Und schließlich könnte man die Illusion des starken Führers für das Volk aufrechterhalten, mit bürokratischer und militärischer Macht und vor allem mit staatlich gelenkten Medien. Das ist zwar Illusion im wahrsten Sinne des Wortes (vom lateinischen: illudere = verhöhnen, verspotten), hat aber Methode (Beispiele: die Politbüros Rot-Chinas und der alten UdSSR und heute noch in Nord-Korea). Möglichkeiten und Grenzen in demokratischen Staaten Schwieriger wird es bei Staatsführern in demokratischen Gesellschaften, wo zumindest theoretisch die Macht in den Händen des Volkes und die Entscheidungen bei Parlamentariern und Richtern liegen. Wie ist da die aktuelle Rechtslage, z. B. in Deutschland? Nachfolgend einige Überlegungen, wie sie C. Hausteiner und B. Pfau in dem erwähnten Fachartikel diskutieren: Im Falle der Erkrankung des Bundeskanzlers gibt es die Möglichkeit eines konstruktiven Misstrauensvotums, das auch bei Verdacht auf Amtsunfähigkeit gestellt werden kann. Auch kann der Bundestag beschließen, den Kanzler einfach für den Rest der Wahlperiode durch den Vizekanzler vertreten zu lassen. Als Vertreter für den Bundespräsidenten fungiert zunächst der Präsident des Bundesrates. Die "Präsidentenanklage", die der Bundestag vor dem Bundesverfassungsgericht stellen kann, wenn er einen vorsätzlich Verstoß gegen das Grundgesetz durch den Bundespräsidenten vermutet, verspräche aber in diesem Falle keinen Erfolg. Denn in Deutschland ist die Wählbarkeit an die Geschäftsfähigkeit gebunden. Deshalb würde das Amt des Kanzlers und des Präsidenten automatisch erlöschen, wenn dieser z. B. im Sinne des Betreuungsgesetzes in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden müsste. Und das entscheidet letztlich das Amtsgericht in Berlin. Insgesamt ist die Rechtslage im Grundgesetz diesbezüglich nicht optimal geklärt, bemängeln die Experten. Dafür ist aber auch der "Ernstfall" in der Geschichte der BRD bisher noch nie eingetreten. Ein einheitliches Rentenalter ist sicherlich der fantasieloseste Vorschlag zur Regelung krankheitsbedingter politischer Handlungsunfähigkeit. Auch ist die Zahl geistig rüstiger Politiker im höheren und hohen Lebensalter mitunter erstaunlich (wobei man nicht nur auf den ersten Nachkriegs-Kanzler Konrad Adenauer zurückgreifen muss). Außerdem kennt jeder eigene Beispiele genialer Leistungen im so genannten Rückbildungs- oder gar hohen Lebensalter. Eine weitere Möglichkeit wäre eine regelmäßige neurologisch-psychiatrische Untersuchung für alle Personen in verantwortungsvoller Position. In den USA gibt es viele Stimmen, die dafür ein spezialisiertes Komitee fordern, dass beispielsweise im Notfall dem Kongress rät, die Amtsgeschäfte dem Vizepräsidenten zu übertragen. Zwar müssen dort seit 1972 die Präsidentschaftskandidaten einen Bericht über ihre Gesundheit veröffentlichen (das war die "Affäre Eagleton - siehe später), doch hielten sich bisher nicht alle Präsidentschaftskandidaten daran. Der Vorschlag, die medizinischen Untersucher (Fachärzte oder Kliniken) der Kandidaten zu zwingen, im Interesse des Staates dann die Krankenakten zu veröffentlichen, wenn sich der Kandidat selber weigern sollte, birgt natürlich erhebliche juristische und auch ethische Probleme, an erster Stelle die Schweigepflicht des Arztes. Sie darf aber laut Berufsordnung (§ 9 Abs.2) dann gebrochen werden, wenn der Schutz eines höherwertigen Rechtsgutes geboten ist (also - extremes Beispiel - wenn der Arzt erfährt, dass sein Patient einen Mord plant). Deshalb argumentieren jene, die zur Zurückhaltung mahnen wie folgt:
Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob den Ärzten wirklich die Macht gegeben werden soll, über die Amtsfähigkeit von Politikern zu entscheiden. Das wird sogar von den Ärzten selber kontrovers diskutiert. Das hängt nämlich nicht zuletzt von der Art des Leidens bzw. von der jeweiligen medizinischen Disziplin und ihren Spezialisten ab. Bei neurologischen Fragen ist der Interpretationsspielraum einer Diagnose verhältnismäßig klein (Hirntumor, Enzephalitis usw.). Bei psychiatrischen sieht das schon anders aus. Gerade im Bereich der Persönlichkeitsstruktur und damit Persönlichkeitsstörung ist die Grenze zwischen "normal" und "gestört" bis "krankhaft" recht breit und oftmals fließend. Das wissen auch die Politiker selber, die sich in manchen Ländern (z. B. der ehemaligen UdSSR) willfähriger Mediziner bedienten, um Regimekritiker für psychisch krank zu erklären, um ihnen die Glaubwürdigkeit zu nehmen. Andererseits gibt es gerade aus diesen Reihen ein erschütterndes Beispiel, nämlich den kambodschanische Diktator Pol Pot. Einstmals war er ein begabter Student in Frankreich, der alle großen Philosophen und Marxisten gelesen habe, um aber - schließlich an der Macht in seinem kleinen Land im Fernen Osten - ein Drittel seiner eigenen Bevölkerung ermorden zu lassen - aus für ihn plausiblen politischen Gründen, sagt man. Oder welche Diagnose bescheinigen wir religiösen Fundamentalisten, welche Politiker sind "konsequent" und welche radikal, welche sind Narzissten (von eitler Selbstbespiegelung und rasch verblendet) bzw. sind nicht gerade Narzissten im Alltag die besseren Politiker? Wie nahe liegen Genie und Wahn oft beieinander (siehe das entsprechende Kapitel), was nicht nur für die Kunst, sondern auch für Politik und Militärwesen gilt. So wird unter den meisten Experten, allen voran den Medizinern, die es besonders betrifft, folgende Überlegung favorisiert: Das Missbrauchs-Potential einer Regelung, die die Regierungsfähigkeit vom neurologisch-psychiatrischen Status abhängig macht, ist nicht zu unterschätzen. Die Macht muss beim Staate bzw. seinen nicht-medizinischen Vertretern bleiben. Die Psychiater, Nervenärzte und Psychologen können sich nur zu Wort melden, wenn sie es für angemessen oder zwingend halten und mit Aufklärung sowie präventiven Maßnahmen den Boden für das notwendige Gespür bereiten, dann einzugreifen, wenn es die seelische, organische und psychosoziale Situation auch wirklich verlangt. Die Beurteilung des Grades der Beeinträchtigung (englischer Fachbegriff: impairmen) ist Pflicht der Mediziner. Die Beurteilung der Amtsunfähigkeit (Fachbegriff: disability) bleibt Aufgabe politischer und juristischer Gremien. Die Psychiater werden gleichsam täglich mit den Möglichkeiten, vor allem aber Grenzen dieser ihrer Aufgabe konfrontiert. Das mag mehrere Stufen unter den hier diskutierten liegen, umfasst aber die gleichen Problemkreise. Das beginnt mit der scheinbar banalen Frage: Wer bekommt während stationärer Behandlung Ausgang, und wie lange? Ist das eine Entscheidung von Bedeutung? In den meisten Fällen nicht, kann aber auch bei Verkennung der Realität zu Ratlosigkeit, Verwirrung, ggf. zu Selbst-Gefährlichkeit und damit Selbsttötungs-Gefahr führen. Und bei forensischen, also rechtskräftig verurteilten psychisch Kranken, wird es schon spannungsreicher, pflegen doch deren Flucht oder einfach nur das nicht rechtzeitige Zurückkommen nach erlaubten Ausgang schon für mehr Aufregung in der Allgemeinheit zu sorgen. Und schließlich - als Beispiel für eine differenziertere Fragestellung - die Überlegung: Darf ein depressiver Pilot fliegen? Oder ist er mit seinen vorübergehend krankheitsbedingten kognitiven (geistigen) Einbußen dazu nicht fähig, von einer möglichen Suizidhandlung (erweiterter Selbstmord mit Fluggästen, es gibt zumindest Verdachts-Beispiele) ganz zu schweigen. Die Psychiater erfahren damit gleichsam jeden Tag, wie schwierig es sein kann, zwischen Individualwohl (der Patient) und Gemeinwohl (die Allgemeinheit) zu differenzieren. Und doch muss jeden Tag aufs Neue eine Antwort gefunden werden. Eine Synthese, die schlicht aus dem Bemühen um Wahrheit und Gerechtigkeit resultiert - gleichgültig auf welcher Ebene, vom "kleinen Mann auf der Straße" bis zum Staatsoberhaupt (nach C. Hausteiner und B. Pfau). LITERATUR Grundlage vorliegender Ausführungen ist der eingangs erwähnte Fachartikel Hausteiner, C., B. Pfau: Macht und Geist. Psychische Erkrankung bei Staatsoberhäuptern. Krankenhauspsychiatrie 3 (2002) 120 (mit meist englischer Fachliteratur). Darüber hinaus gibt es zahlreiche Bücher in deutscher Sprache, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Einige Beispiele: Accoce, P., P. Rentschnick: Kranke machen Weltgeschichte. Econ-Verlag, Düsseldorf-Wien 1978 Biechteler, W.: Krankheiten und Todesursachen berühmter Männer. Med. Diss., München 1938 Brause, G.: Genies ganz privat. Rowohlt-Verlag, Reinbeck bei Hamburg 1977 Brickenstein, H.: Probleme der Wehrpsychiatrie. Hippokrates-Verlag, Stuttgart 1980 Calvocoressi, P.: Who's who in der Bibel. Deutscher Taschenbuchverlag-dtv, München 1990 Faust, V.: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Klinik, Praxis und Beratung. Gustav Fischer-Verlag, Stuttgart, Jena-New York 1996 Fieve, R. R.: Depressionen? Knaur-Verlag, München-Zürich 1977 Lange-Eichbaum, W., W. Kurth: Genie, Irrsinn und Ruhm. Band 1-11. Ernst Reinhardt-Verlag, München-Basel 1985-1996 Luther, M.: Die Bibel. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1999 Venzmer, G.: Krankheit macht Weltgeschichte. Curt E. Schwab-Verlag, Stuttgart 1956
· ABRAHAM LINCOLN Abraham Lincoln (1809 - 1865) war für vier Jahre der 16. Präsident der USA, bis er schließlich am 15.05.1865 bei einem Theaterbesuch von einem südstaatlichen Fanatiker erschossen wurde. Seine Wahl, Folge der Spaltung der Demokratischen Partei, löste den blutigen Sezessionskrieg zwischen den Nord- und Südstaaten der USA aus, den er hauptsächlich für die Einheit der Nation führte. Die Sklavenbefreiung war für ihn eher eine politische Nebenfrage, auch wenn ihr positives Ergebnis letztlich weit reichende Folgen hatte. Nach dem Sieg der Nordstaaten verfocht er eine konsequente Versöhnungspolitik, was auf die Kritik vieler radikaler Landsleute stieß und auch seine Ermordung durch einen Südstaatler nicht verhindern konnte (was aber andererseits jene Legende förderte, die ihn zur Verkörperung aller politischen Tugenden des amerikanischen Volkes machte). Lincoln hatte sowohl als Rechtsanwalt in Illinois als auch später als Präsident der Vereinigten Staaten wiederholt depressive Phasen (belegt durch Briefe, zeitgenössische Zeitungen, Tagebücher und die Korrespondenz vertrauter Freunde). Melancholie sei ein hervorstechender Wesenszug gewesen - ohne nachvollziehbare Ursache. Rückwirkend werden seine immer wieder auftretenden "Verzweiflungs- und Erschöpfungszustände", die mit Perioden harter Arbeit und hoher Leistungsfähigkeit abwechselten, als milde Form der manisch-depressiven Erkrankung (bipolare affektive Psychose) interpretiert. Zu seiner Zeit war dies jedoch kein Thema. Wissenschaftlich wurde es später als Folge eines Sturzes mit Schädelbruch und Hirnverletzung ausgelegt. Damals waren die Kenntnisse über die biochemischen Grundlagen solcher Erkrankungen noch gering. Wichtig aber in erblicher Hinsicht war der Hinweis, dass auch Lincolns Vater in seiner Jugendzeit als oftmals unzufrieden und launisch, dann aber wieder rastlos und impulsiv geschildert wurde, wie sein Sohn im gleichen Alter (leicht depressive und anschließend submanische Zustände?). Das äußerte sich nebenbei schon früh in seinem Schriftverkehr. Mit 29, nach dem Tod seiner ersten Liebe, verfiel er in eine schwere Depression, streifte geistesabwesend in den Wäldern und am Fluss umher und musste von seinen Freunden überwacht werden, die ihm alles abnahmen, was zu einem Selbstmord missbraucht werden konnte. So etwas nennt man zwar eine reaktive Depression (nachvollziehbarer Auslöser, z. B. Schicksalsschlag), es kann aber auch bei erblicher Belastung und biologischer Disposition eine endogene (biologisch begründbare) Depression "im Wartestand" ausgeklinkt haben, wie das häufig der Fall ist. Jedenfalls war auch Lincoln noch lange über eine normale Trauerzeit hinaus düster gestimmt und leistungsgemindert. Schließlich heiratete er seine spätere Frau (von der Wesensart ganz entgegengesetzt), geriet aber am Hochzeitstag wieder in eine schwere Depression bis hin zur Suizidgefahr. Dies wiederholte sich mehrfach, auch wenn man ständig neue Gründe suchte (Überarbeitung, Grippe u.a.). Auch später, als Präsident, konnte er wegen mangelnder Aktivität seine Berater zur Verzweiflung treiben, hatte aber auch Phasen, in denen er kontaktfreudig, gesellig und gesprächig war, Anekdoten erzählte, scherzte, lachte und andere damit mitriss. Zuweilen schlug aber dieser Zustand auch plötzlich in Düsternis, Schweigsamkeit und Verschlossenheit um. Letztlich - so sagte man, obgleich man es geheim zu halten versuchte - umgab ihn ständig eine Aura der Melancholie. Amerikanische Psychiater diagnostizieren - bei aller Zurückhaltung, wenn es um Rückschlüsse auf frühere Zeiten mit unzureichender Dokumentation und dazu noch staatspolitischen Verheimlichungen geht - schwerere phasische Depressionen mit Suizidgefahr sowie zumindest milde (Fachausdrücke: hypomanische, submanische oder maniforme) Hochstimmungen. Letztere können nebenbei auch durch Negativ-Ereignisse ausgelöst werden, etwas, was sich auch bei Lincoln fand (verlor den Kampf um einen entscheidenden Senatssitz, war danach aber nicht resigniert, sondern plötzlich (!) aktiver und kämpferischer als zuvor). Amerikanische Psychiater gehen auch angesichts der heutigen Bedingungen, insbesondere was die politische und psychopathologische Geschichte von Senator Thomas Eagleton anbelangt (siehe diese), davon aus, dass A. Lincoln heute nicht mehr ohne Weiteres zum Präsidentschafts-Kandidaten aufsteigen könnte. Da er aber zu den großen Präsidenten der USA gehört, zählt er auch zu jenen Beispielen, die darüber nachdenken lassen müssten, ob jeder mit "krankhafter Vorgeschichte" auch gleich von einem verantwortungsvollen Posten (wie auch immer) "abgedrängt" werden sollte (nach R. R. Fieve, 1981). · THEODOR ROOSEVELT Die USA haben zwei medizinisch interessante Präsidenten gleichen Namens, die im Gegensatz zu manchen ihrer Kollegen im Präsidentenamt in die Geschichte eingegangen sind. Der eine ist Franklin Delano Roosevelt (1882 bis 1945 - siehe Text), der andere Theodor Roosevelt (1857 bis 1919). Letzterer ist von besonderem psychiatrischen Interesse. In den politischen Biographien nennt man ihn einen der populärsten Präsidenten der USA. Seine große Beliebtheit rührte aus seiner Zeit als Führer eines Freiwilligen-Regiments im spanisch-amerikanischen Krieg (1898) her. Nach der Ermordung seines Vorgängers übernahm der konservative Republikaner das Präsidentenamt. Innenpolitisch kämpfte er vor allem gegen Korruption und Trust-Bildung in der Wirtschaft. 1903 erreichte er eine Abtrennung Panamas von Kolumbien sowie Konzessionsrechte zum Bau des Panamakanals. In Asien vertrat er eine imperialistische Politik der "offenen Tür" und sandte mehrfach die US-Flotte um die ganze Erde, um die amerikanische Macht zu demonstrieren. Während des I. Weltkriegs begann er (inzwischen als Privatmann!) für einen Kampf gegen die Deutschen erneut Freiwilligen-Verbände aufzustellen, bis ihm US-Präsident W. Wilson die Genehmigung versagte. Umgekehrt wurde Roosevelt für seine Vermittlung bei dem russisch-japanischen Friedenvertrag (1905) mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Soweit seine respektable Kurz-Biographie. Was aber haben die Psychiater anzumerken? Tatsächlich galt er als ganz außergewöhnlich begabter Präsident. Im Gegensatz zu Lincoln war Roosevelt überwiegend gehobener Stimmung. Das Leben bedeutete ihm einen ständigen Kampf. Er war unentwegt tätig. Seine überwältigende Persönlichkeit (im wahrsten Sinne des Wortes) unterschied sich grundsätzlich von der seiner Vorgänger im Weißen Haus. Niemand erregte so viel Faszination wie er (was später erst wieder J. F. Kennedy gelang). "Teddy" Roosevelt galt in den Augen seiner Zeitgenossen als interessantester Mann der Gegenwart. Seine ununterdrückte Lebensfreude spiegelte sich in einer optimistischen Hochstimmung wieder, die schließlich die ganze Nation erfasste. Seine enorme Leistungsfähigkeit und seine ständige Bereitschaft, sich mit neuen Projekten zu beschäftigen, riss Millionen mit. Durch seine bloße Anwesenheit verbreitete er nach Aussage seiner Umgebung ein geradezu ansteckendes Gefühl der Lebenskraft und Energie und vermittelte eine Atmosphäre höchster Lebensfreude (ein nebenbei charakteristisches Merkmal der manischen Hochstimmung - siehe das entsprechende Kapitel). Schon als Knabe war er trotz seiner schwachen Gesundheit überaktiv und frühreif. Im Kindesalter fiel er in Hochstimmungsphasen durch übersteigerte Gesprächigkeit auf, was dann fast sein ganzes Leben durchzog und sich mit der Zeit sogar phasenweise verstärkte. Trotz seiner schwachen Gesundheit (oder gerade deshalb) trainierte er so lange, bis er als Jugendlicher Sieger im Weit- und Stabhochsprung und ein guter Boxer wurde. Seine Studienzeit verlief unauffällig. Allerdings konnte er sich dem "gehobenen Harvard-Stil" seiner Universität nicht so recht anpassen, redete auch dort zu viel, galt als nervös, unstet und wurde deshalb immer unbeliebter und fast zu einer Art Witzfigur. So hatte er nur wenig Freunde und soll zeitweise (darüber) deprimiert gewesen sein. Aufgrund seiner Prüfungsleistung galt er zwar als tüchtig, aber kaum als Führungspersönlichkeit. Roosevelt heiratete ein stilles Mädchen, als er von Harvard abging. Sie hatte einen mäßigenden Einfluss auf ihn, verstarb aber vier Jahre später nach der Geburt einer Tochter. Zwei Jahre später heiratete er seine 2. Frau, mit der er 5 Kinder hatte. Schon früh geriet er in den Ruf eines reizbaren und ungeduldigen jungen Politikers. Das gefährdete seine Karriere, doch stieg er trotzdem nach und nach auf und wurde schließlich Gouverneur. Er arbeitete viel bzw. zu viel und redete auch so. Während dieser Jahre machte er sowohl leichte depressive als auch mild gehobene Stimmungsperioden durch, was ihn aber nicht von seiner Karriere abhielt. Nebenbei hatte er vielerlei verschiedene Interessen, denen er jeweils mit einem unersättlichen Hunger nach Wissen und Erfahrung nachging. Nur selten war er körperlich oder geistig untätig. In entsprechenden Gremien widmete er seine enorme Leistungsfähigkeit der Bekämpfung der Korruption, was er ohne Rücksicht auf seine Person durchzog - mit Erfolg. Schließlich wurde er zum Polizeipräsidenten von New York-City gewählt, was zu erheblichen Turbulenzen führte, ihn aber auch berühmt machte (besonders durch seine nächtlichen Reviergänge um für Recht und Ordnung zu sorgen). Schlaf brauchte er nämlich wenig, nach kurzer Zeit auf der Couch war er erfrischt und wieder voller Tatendrang (ein übrigens ebenfalls charakteristisches Manie-Phänomen). Nach wie vor hatte er aber kaum Freunde, was ihn unverändert bekümmerte. Man riet ihm weniger zu reden, vor allem öffentlich, was ihm aber nicht gelang. Im spanisch-amerikanischen Krieg nahm er als Oberst eines Kavallerie-Regimentes teil (die berühmten Rauhreiter), konnte kaum abwarten in den Kampf zu kommen und wurde schließlich durch seine überwältigenden Siege bekannt und gefürchtet, aber auch respektiert und verehrt. Vor allem gelang es ihm, seine "Leute" zu den unglaublichsten Taten anzustacheln (was allerdings auch dazu führte, dass die Verluste seines Regimentes ungewöhnlich hoch waren, was ihn aber nicht störte). 1899 wurde er Gouverneur von New York - und sein Tatendrang noch größer als zuvor. Um ihn loszuwerden, stellte man ihn als Vizepräsidenten auf (in der Hoffnung, er möge es nicht schaffen und damit "politisch tot" sein), was er so enthusiastisch durchzog, dass ihm auch dieser Posten nicht mehr zu nehmen war. Als der amerikanische Präsident ermordet wurde, rückte er nach und war mit 43 Jahren der jüngste in diesem Amte. Und nun ging es erst richtig los: Seine Gegner nannten ihn einen "Irren" und einer seiner berühmtesten Kritiker schrieb: "Es gibt nichts Gefährlicheres als die Macht, die von einer abnormen Energie ausgeübt wird". Tatsächlich befürchteten auch seine Anhänger und politischen Freunde, dass sich seine kämpferische Energie ins Abnorme versteige. Sein Aufstieg ins Präsidentenamt versetzte nicht wenige in Unruhe, zumal man fürchtete, seine Entscheidungen seien nicht zuletzt von seinen Stimmungen abhängig. Doch für die Mehrheit war sein Charakter so faszinierend, dass sie sich mehr für seine Person als für seine Reden und Taten interessierten. Vor allem war er so pausenlos im Einsatz, dass alle auf seinen Zusammenbruch warteten - der aber offiziell nie kam. Dabei war er impulsiv und undiplomatisch und oft genug artete seine Hochstimmung in Zornesausbrüche aus, wo er dann auch nicht mehr klar denken konnte, sich in Widersprüche verwickelte und bei solchen Wutanfällen keine gute Figur abgab (z. B. bei Verleumdungsprozessen, mit denen er versuchte Zeitungsredaktionen oder Gerichte einzuschüchtern, was aber dank stabiler amerikanischer Demokratie keinen Erfolg hatte). So wurde das Weiße Haus gelegentlich zu einem "wahren Hexenkessel", wobei er sich lieber an den "einfachen Mann von der Straße" als an Minister, Senatoren, Kongressmitglieder und Experten hielt. Dabei hatte er noch Zeit zu Freizeit, Sport (insbesondere Reiten und Boxen!), Literatur und lange Arbeitsessen, an denen er ohne Punkt und Komma und nicht eben leise dominierte. Und man musste zugeben, dass selbst die Spezialisten ihres Faches immer wieder über den Umfang seines Wissens staunten. Das ging soweit, dass man ihn neben dem Niagara-Wasserfall als zweites großen Naturwunder der USA bezeichnete. Typisch für seine immense Aktivität war auch die Zahl seiner Briefe, die er geschrieben haben soll: rund 150.000 (von denen noch zwei Drittel erhalten sind). Eine Ausgabe seiner aus Büchern und Artikeln, Reden und Abhandlungen bestehenden Schriften zählt 20 Bände. Nachdem er im regulären Turnus sein Präsidentenamt abgeben musste, und dies mit großem Bedauern ("ich liebe mein Amt"), versuchte er seine überbordende Energie in andere Kanäle zu leiten, z. B. enorme körperliche Leistungen und gefährliche Reisen (damals bereits übergewichtig und auf einem Auge blind!). Zwar machte er sich dabei gelegentlich wieder unmöglich ("ich habe dem Papst und dem deutschen Kaiser Nachhilfestunden in Ethik bzw. Etikette gegeben"), doch in den USA galt er immer noch als der erste Bürger (und zwar der ganzen Welt, nicht nur der Vereinigten Staaten). So versuchte er erneut ins Weiße Haus zu kommen - doch vergebens. Er starb mit 62 Jahren. Die psychoanalytisch orientierten Ärzte und Psychologen versuchten sich in ihren Pathographien in vielerlei psychodynamischen Deutungen, doch die Psychiater winken ab: Theodore Roosevelt gilt für sie als einer der klassischen manisch-depressiven Patienten, wobei er offensichtlich die Gnade hatte, nur kurze oder milde depressive Phasen zu haben, ansonsten aber lang anhaltende manische oder zumindest leicht manische (maniforme) Episoden. Und bei allem wahrscheinlich eine hyperthyme Persönlichkeitsstruktur, die in "verdünnter Form" eine Art leichte manische Dauer-Hochstimmung garantiert. Die USA haben durch seine Amtsführung keinen ernsteren Schaden genommen, die breite Masse war sogar begeistert. Bedenken hatten lediglich jene, die sowohl politisch als auch medizinisch-psychologisch durchschauten, was sich hier abzuspielen schien. Exzesse oder grenzwertige Übergriffe (politisch, Pressefreiheit, militärisch) gingen dank der stabilen Demokratie dieses Landes meist glimpflich ab. Der Versuch von Th. Roosevelt, nach seinem Präsidentenamt noch irgendwo Fuß zu fassen, scheiterte jedenfalls (z. B. als Präsident der Universität Harvard); man wollte kein Risiko (mehr) eingehen und fürchtete unkorrigierbare Eskapaden. Pathographisch aber ist und bleibt Roosevelt der interessanteste, ja spektakulärste Vertreter einer offensichtlich manisch-depressiven Erkrankung im höchsten Staatsamt eines Landes in jüngerer Zeit. Heute, so die Psychiater, würde "Teddy" Roosevelt eine solche politische Karriere nicht mehr möglich sein, wie die Geschichte des amerikanischen Senators Thomas Eagleton als Kandidat für die Vize-Präsidentschaft ein halbes Jahrhundert später beweist (nach R. R. Fieve, 1981). · WINSTON S. CHURCHILL Über Sir Winston S. Churchill (1874 - 1965) muss eigentlich auch noch vier Jahrzehnte nach seinem Tod wenig erläutert werden, denn nach wie vor ist diese faszinierende Persönlichkeit für Großbritannien und die Welt ein Symbol, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Die außergewöhnliche politische Karriere des aus der Familie der Herzöge von Marlborough stammenden Churchill begann schon in jungen Jahren als Marineminister (Modernisierung der Flotte) - und war damit auch schon beendet, scheinbar, was sich später noch mindestens zweimal wiederholten sollte. Doch schließlich wurde er wieder Kriegsminister nachdem er zuvor die Partei gewechselt hatte und nach einem erneuten politischen Aus darüber hinaus zu einem der bedeutendsten Schriftsteller seines Landes wurde (insbesondere historische und politische Veröffentlichungen). Und nach dem Ausbruch des 2. Weltkriegs wieder Marine- und schließlich Verteidigungs- und zuletzt Premierminister. Während dieser harten Zeit war er der wichtigste Widersacher von Adolf Hitler ("Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß") und vor allem das Symbol des Durchhaltewillens (victory-Zeichen). Nach Kriegsende erkannte er zwar rasch die Expansionspläne der UdSSR, konnte sich aber auf den entsprechenden Konferenzen in Jalta und Potsdam gegenüber J. Stalin und F.D. Roosevelt (siehe deren Biographien) nicht durchsetzen, zumal er noch während dieser Zeit die Wahl im Heimatland verlor und als Premier abgelöst wurde. Doch er kam wieder, ein drittes Mal, und wurde 1951 noch einmal Premierminister - eine beispiellose Karriere. Umso erstaunlicher ist es zu hören, dass dieser dynamische und erfolgreiche Mann seelisch nicht gesund gewesen sei (wie man vor allem von seinem einzigen Sohn Randolph Churchill weiß, der als glückloser Versager und Alkoholiker galt, möglicherweise aufgrund der gleichen psychischen Belastung, nämlich einer manisch-depressiven Erkrankung). Churchills Vorfahren waren mütterlicher- und väterlicherseits kraftvolle Persönlichkeiten mit eindrucksvollen (militärischen, politischen und wirtschaftlichen) Karrieren. Vielversprechende Anlagen ließ er aber anfangs vermissen, war aber immerhin von brennendem Ehrgeiz durchdrungen. Deshalb schob man ihn früh zum Militär ab. Als junger Mann kämpfte er in Indien und Ägypten - und schrieb darüber jeweils ein glänzendes Buch. Dann nahm er als Kriegsberichtserstatter am Burenkrieg (Südafrika) teil, wurde gefangen genommen und konnte fliehen (ein weiteres Buch, in dem er es allerdings mit seinen Taten mit der Wahrheit nicht immer so genau nahm, "sonst hätte es niemand gelesen"). Dann wurde er Politiker mit steiler Karriere: Unterstaatssekretär in Kolonialministerium, Präsident des Handelsamtes und Innenminister, erster Lord der Admiralität, Rüstungsminister, Kriegs- und Luftfahrtminister, Staatssekretär für die Kolonien, Schatzkanzler und schließlich Premierminister - drei Mal. Nie war er aber unumstritten. Vor allem schien er unfähig, zur Lösung von Problemen andere als seine eigenen Methoden anzuerkennen. Sein Selbstvertrauen war unerschütterlich. Stets kam ihm auch seine Begabung in Wort und Schrift zugute (er liebte die Literatur, seine zahllosen Reden und Aufsätzen flossen ihm nur so aus der Feder). Außerdem konnte er nicht nur voll zur Sache kommen, sondern diese auch jeweils abschließen ("heute erledigen"). Das war ganz entscheidend, besonders in Zeiten der Not, nämlich im II. Weltkrieg und in anfangs aussichtslos erscheinender Position. Doch seine Reizbarkeit, ja Rücksichtslosigkeit verletzte und seine dazu noch genussfreudige Lebhaftigkeit irritierte viele seiner Zeitgenossen. Doch sie trösteten sich damit, dass ein Mensch mit diesem Lebens-Tempo nicht lange durchhalten könne - doch das täuschte. Er blieb aktiv bis ins hohe Alter (von entsprechenden "Ruhepausen" einmal abgesehen - siehe später). Dabei nahm er weder Rücksicht auf die anderen, noch auf sich selber. Problematisch wurde es aber dann, wenn es wegen seiner hektischen Energiephasen an Urteilskraft und Einsicht fehlte. Und wenn seine ungestüme Wesensart die anderen an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit, wenn nicht gar Verzweiflung brachte. Man schätzte seine Energie, wünschte sich aber mehr Besonnenheit ("reich an neuen und fruchtbaren Einfällen, jedoch ohne die notwendige Vorsicht"). Tatsächlich galt Churchill nicht nur als hochbegabt, sondern auch hitzköpfig, impulsiv, ja anmaßend und herrschsüchtig. Es gab Phasen, da sprach er unablässig, und zwar alles, was ihm gerade in den Sinn kam. Auch versuchte er immer wieder, mehreres auf einmal zu veranlassen, zu überwachen, abzuschließen. Ein einziger Posten genügte ihm nicht (siehe Lebensgeschichte). In Gesellschaft war er stets der Mittelpunkt. Er hatte mehr Einfälle und legte mehr Denkschriften vor als jedes andere Mitglied von Generalstab oder Regierung. Man nannte ihn deshalb das "Wundertier, das 1.000 Dinge zur gleichen Zeit tue". Zeitweise hielt man ihn daher für geradezu "verrückt" (der "britische Hitler"). Doch seine enorme Leistungsfähigkeit überrollte alle, und zwar Tag und Nacht. Dabei kam ihm die gnadenreiche Fähigkeit zu Hilfe, sich in unglaublich kurzer Zeit total zu entspannen (einen großen Teil seines Lese- und Schreibpensums erledigte er ihm Bett). Doch es drohten auch eigenartigen Phasen des Rückzugs, des "Katzenjammers", heute als tiefe Depression erkannt. Tatsächlich musste er sein ganzes Leben lang gegen schwere "Melancholie-Anfälle" ankämpfen, die er wie folgt umschrieb: "Als ich noch jünger war, wurde es zwei oder drei Jahre lang ganz düster um mich; ich konnte kaum noch arbeiten, nahm zwar an den Unterhaus-Sitzungen teil, fühlte mich aber von schwarzen Depressionen heimgesucht. Gespräche mit C. halfen mir. Ich stehe nicht gern an der Bahnsteigkante, wenn ein Schnellzug vorbeifährt. Ich habe lieber mehr Abstand zwischen mir und dem Zug. Ich stehe auch nicht gerne an der Reling eines Schiffes und schaue ins Wasser. In solchen Augenblicken begebe ich mich gar nicht gerne in die Öffentlichkeit." Tatsächlich erkannten das auch einige aus seinem Umfeld, jetzt mit anderem Vorzeichen ("Schwarzseher"). Im letzten Lebensdrittel scheint er sich auch nur noch wenig Mühe gegeben zu haben, seine depressiven Zustände zu verheimlichen, habe auch nicht mehr viel Interesse am Leben gezeigt. Er las nicht mehr, sprach nur noch wenig und saß stundenlang in einen Zustand da, den man heute als schweren depressiven Stupor (seelisch-körperliche Blockierung) bezeichnen würde. Trotz aller Lobreden, Auszeichnungen und Ehrungen gab es in seinem Herzen, in seinem tiefsten Inneren eine Leere, die kein Erfolg und kein Ruhm ausfüllen konnte (schrieb seine Tochter Sarah). Vor seinem Tode fasste Churchill den melancholischen Preis seines Lebens wie folgt zusammen: "Ich habe viel erreicht, aber letztlich habe ich gar nichts erreicht". Was die Menschen damals verwirrte, lässt sich heute durch die rückblickende "Pathographie", d. h. den Lebensbericht einer Krankheit gut erklären: Einerseits grob, anmaßend und von enormer, scheinbar unerschöpflicher Energie (manische Phasen), dann wieder würdevoll und untadelig, wie es schien, in Wirklichkeit aber leer, müde, ausgebrannt, resigniert und niedergeschlagen (depressive Phasen). Manchmal schien er seine manischen Impulse gut unter Kontrolle zu haben, vor allem mit vorgerücktem Alter, manchmal aber brach sein Ungestüm eruptiv durch. Doch seine Hochstimmungsphasen, seine ungebrochene Vitalität wurden zur Legende. Die Psychoanalytiker der alten Schule deuteten dies schon früher rein neurosen-psychologisch. Heute aber sieht man dies eher biologisch und nennt es eine manisch-depressive Erkrankung oder biopolare affektive Psychose. Natürlich braucht ein Mensch mit einem solchen Raubbau seiner Reserven eine Gesundheit, die nur wenigen vergönnt ist. Das wurde in den letzten Lebensjahren deutlich: Mit 80 hatte er einen Herzinfarkt, drei Lungenentzündungen, zwei Schlaganfälle, zumal er schon aus früherer Zeit mit erheblichen körperlichen Beeinträchtigungen belastet war. Doch er erreichte ein hohes Alter, nämlich 90 Jahren - und gilt noch heute als politisches, literarisches, insbesondere aber menschliches Phänomen, wie man es selten auf dieser Welt findet. Vor allem aber als Beispiel dafür, dass man trotz manischer Hochphasen und depressiver Düsternis nicht nur alt werden, sondern auch Großes zu leisten vermag (nach R. R. Fieve, 1981). · NAPOLEON Napoleon I. (1769 - 1821), geboren in Korsika als Napoleone Buonaparte, wurde auf der Militärschule zum Artillerie-Offizier erzogen, schloss sich nach dem Bruch mit der korsischen separatistischen Bewegung (Flucht auf das französische Festland) der herrschenden Partei an, wurde nach dem Sturz des revolutionären Diktators Robespierre aus der Armee entlassen, dann mit der Niederschlagung des royalistischen Aufstandes beauftragt, zum Befehlshaber der französischen Italienarmee und damit zu einem der jüngsten Generäle ernannt. Er begann seine selbstherrliche Politik (Friedensschlüsse) und war im Aufstieg zur Macht nicht mehr aufzuhalten. Zuerst Oberbefehl über die französische England- und schließlich Ägypten-Armee (jeweils erfolglos), dann Sturz des Direktoriums (der damals höchsten politischen Macht Frankreichs), Einsetzung einer Konsulatsverfassung (wovon er einer der drei führenden Politiker war), geniale Organisation eines zentralistischen Herrschafts- und Verwaltungssystems, Konkordat mit dem Papst, zuerst Friedenspolitik, dann Konsul auf Lebenszeit und schließlich selbstgekrönter erblicher "Kaiser der Franzosen", vom (politisch und finanziell abhängigen) Papst geweiht. Heirat von Josephine de Beauharnais (und damit schon als junger Offizier gesellschaftlicher Aufstieg), Einsetzung seiner Verwandten (Brüder und Schwager) zu Fürsten und Königen abhängiger Territorien, Schaffung einer Elite von Großwürdenträgern und Marschällen (napoleonischer Neu-Adel), Förderung prunkvoller klassizistischer Kunst (Empire-Stil), aber in geistiger Hinsicht drückende Zensur (Polizeiministerium). Schließlich Krieg mit Großbritannien, mehrere Kontinentalkriege (gegen Österreich, Preußen, Russland), dabei aus politischen Gründen Scheidung und Heirat der österreichischen Kaisertochter Marie-Louise (ein Sohn, Herzog von Reichstadt), Kontinentalsperre gegen England (wirtschaftlicher Niedergang aller Betroffenen), politische Fehlentscheidungen, schließlich Angriff auf Russland und damit militärisch-politische Wende durch die Freiheitskriege. 1814 Abdankung, Wohnsitz auf der Insel Elba (als Souverän mit Kaisertitel!), eigenmächtige Rückkehr nach Frankreich (überraschende Landung, Herrschaft der 100 Tage), schließlich entscheidende Niederlage bei Waterloo und lebenslängliche Verbannung auf die britische Insel St. Helena. Drei Jahrzehnte nach seinem Tod triumphale Überführung seiner sterblichen Überreste in den Invalidendom nach Paris. Fazit: genialer Heerführer, uferloser Machtdrang, absolutistischer Herrscherwille, langfristig bedeutungsvolle juristische, politische und sogar militärische Entscheidungen, aber auch viel Leid, Blut, politische und kulturelle Umwälzungen. Nach seinem Tode vor allem Aufbau der "napoleonischen Legende" ("Freiheit der Völker"), was ihn aber wohl kaum als wichtigstes Macht-Motiv bewegt haben dürfte. Es gibt keine historische Persönlichkeit, die so viele kontroverse Diskussionen ausgelöst hat wie Napoleon Bonaparte. Dies gilt auch für die Psychiater und Psychologen mit pathographischem Interesse. Schon die genetischen (Erb-)Voraussetzungen ließen ein bewegtes Leben ahnen. Der "sozial grenzwertig" geltende Vater war von maßlosem Ehrgeiz, hochgradiger neurotischer Spannung, unermüdlicher Aktivität, dabei geistig beweglich, den Kopf stets voller Projekte (oder konkreter: Illusionen). großsprecherisch, skrupellos, egoistisch. Die Mutter dagegen ernst, beständig, praktisch-nüchtern, streng, moralisch integer, wenn auch ängstlich-unsicher. Praktisch alle Geschwister und die Mehrzahl der engeren Angehörigen in irgendeiner Weise seelisch auffällig. Auch Napoleons Körpergröße (knapp über 1,50 m) und sonstige körperliche Auffälligkeiten (z. B. Gesichts-Asymmetrie) ließen schon früh (über-)kompensatorische Kräfte ahnen. Dazu vegetativ überempfindlich: wetterabhängig, Muskelticks, häufig Kopfschmerzen, psychogene (?) Krämpfe. Schon als Schüler auffällig, später letztlich undurchschaubares Charakter-Phänomen. Beide Söhne psychisch auffällig (und völlig erfolglos). Napoleons positive Persönlichkeitseigenschaften sollen hier nicht weiter diskutiert werden. Sie sind unbestritten, wie anders hätte ein Mensch eine solche militärische und politische Leistung erbringen können (und dies noch für ein Land, das gar nicht das seine war: Napoleon empfand sich zwar auch nicht als Korse, auf jeden Fall aber nicht als Franzose). Trotzdem eine kurze Übersicht zu seinen wichtigsten - positiven Charaktereigenschaften: Konnte zu bestimmten Personen "echte" Liebe und Zuneigung zeigen, vor allem zu seiner Mutter und Amme, war aber auch zu allen Familienmitgliedern fürsorglich (selbst wenn es politisch unklug und von offensichtlichem Nachteil wegen deren ebenfalls problematischer Wesensart war). Nüchtern, praktisch, strategisch denkend, konsequent und beharrlich, dabei empfindsam, fantasiereich, leidenschaftlich, unerschöpfliche Arbeitskraft, scharfes Urteilsvermögen, hohe Intelligenz sowie faszinierendes militärisches Organisationstalent. Außerdem energisch, entschlussfreudig, durchsetzungsfähig, Meister der Taktik, ob auf diplomatischem Parkett oder in der Schlacht, schöpferische Fantasie, Weitblick, "Tatmensch", humorvoll, Visionär u.a. Doch überwältigend sind auch die negativen seelischen, psychosozialen und sogar körperlichen Eigenschaften, die man Napoleon zuspricht. Einzelheiten siehe die Fachliteratur (gute Zusammenfassung: W. Lange-Eichbaum/W. Kurth: Genie, Irrsinn und Ruhm. Band 8: Die Politiker und Feldherrn, Ernst Reinhardt-Verlag, München-Basel 1992). Nachfolgend nur einige wenige Stichworte zur - negativen Charakter-Beurteilung: Galt schon als Kind und Jugendlicher als "bösartiger Wildling, falsch, "Meister der Lüge", skrupellos, verschlossen, exzentrisch, abergläubisch, linkisch, unsicher, nervös, kalt, schroff, hart bis zur Grausamkeit, rücksichtslos, besonders gegen Schwächere, nervös, aber auch melancholisch, scheu, verschlossen, finster sowie mit Anfällen von Wut und Raserei bis zu Erbrechen und Zuckungen (den Kameraden ein "heimliches Grauen"). Später, als General, Staatslenker und Kaiser änderten sich die Begriffe, aber kaum der irritierende Hintergrund: maßloser Machthunger, rücksichtsloser Egoismus, wilder, brutaler Triebmensch (dabei kursieren bedenkliche Gerüchte über sein erotisches bis sexuelles Verhältnis zu den Geschwistern beiderlei Geschlechts, zu Frauen im Allgemeinen und seinen Ehefrauen im Speziellen). Dazu ständig nervös und reizbar, gesteigerte Empfindsamkeit bis hin zu Weinkrämpfen (z. B. wenn er Goethes "Werther" las; das berühmte Treffen zwischen Napoleon und Goethe in Erfurt begann übrigens mit diesem Thema. Einzelheiten zu diesem Buch siehe das spezielle Kapitel über Werther). Aberglauben mit geradezu abergläubischen Zwangsvorstellungen. Unfassbare Wutanfälle, selbst in peinlichsten Szenen (schlug, peitschte, trat) bis hin zu grenzenloser Zerstörungswut (Möbel, Kunstwerke, Kinder, Tiere), wälzte sich auf der Erde vor Zorn. Terrorisierte alle ("der Kaiser ist vollständig verrückt"). In kritischen Situationen nicht der Übermensch der Geschichtsdarstellung, sondern ängstlich, feige, ließ dann alle im Stich (Russland, Waterloo). Im Rahmen seiner staunenswerten Urteils- und Arbeitskraft sowie Rücksichtslosigkeit auch großer Schauspieler und vor allem Meister in der Menschenausnützung ("ich bin nicht wie ein anderer Mensch, und die Gesetze der Moral und der Schicklichkeit können für mich nicht in Betracht kommen"). Doch das alles sind Wesenszüge, Charaktereigenschaften, selbst wenn die Grenze zum Vertretbaren überschritten ist. So lauten dann auch die Diagnosen in dieser Hinsicht: Neurose, Persönlichkeitsstörung (Psychopathie) u.a. Das hat sicherlich Folgen im Umgang mit Partner, Familie, Freundeskreis, insbesondere aber im beruflichen Alltag als Politiker, Diplomat, Militär und - wie im Falle von Napoleon - als Gesetzgeber, kultur- und wirtschafts-bestimmende Autorität u.a. Es muss aber noch nicht von psychiatrischer Relevanz im eigentlichen Sinne sein. Doch auch hier gibt Napoleon zu wissenschaftlichen (kontroversen) Diskussionen Anlass. Um was handelt es sich? - Psychiatrische und neuropsychologische Aspekte: Hier sind es vor allem zwei neurologische Krankheiten mit seelischen und psychosozialen Folgen, nämlich Epilepsie und Narkolepsie, die bei Napoleon diskutiert werden. Die eigenartige "Schlummersucht" Narkolepsie scheint es weniger gewesen zu sein. Sie ist aus mehreren krankhaften Komponenten zusammengesetzt, die bei Napoleon wohl nicht zutreffen (siehe das entsprechende Kapitel über die Narkolepsie). Etwas anderes ist die Frage der Epilepsie. Für die "Fallsucht" sprechen einige gewichtige Argumente. So litt er immer wieder an augenblicklichen Bewusstseinsverlusten, grundloser Heftigkeit sowie Krämpfen und nachfolgender Benommenheit, wie schon früh geschildert wurde. Auch wurden zumindest zwei regelrechte epileptische (große, also als Fachausdruck Grand-mal) Anfälle geschildert, und zwar in jeweils ungünstigsten Situationen, z. B. die Schlacht bei Aspern sowie in Sachsen. Da man bei Napoleon nicht nur eine Asymmetrie des Gesichtes, sondern auch einen angedeuteten "Wasserkopf" (Fachbegriff: Hydrozephalus) vermutet, schien auch eine organische Ursache nicht völlig abwegig. Die Wehr-Psychiater (Militär-Psychiater) interessieren sich für dieses Phänomen besonders. Sie schreiben (zitiert nach Brickenstein, 1980): Es besteht kein Zweifel, dass Napoleon mehrfach durch massive anfallsartige Gesundheitsstörungen in seinen Entschlüssen beeinflusst wurde... Manchmal verfiel er aus einer intensiven geistigen Tätigkeit heraus in tiefen Schlaf oder auch einen Zustand totaler Geistesabwesenheit, in dem um ihn herum alles aus seinem Bewusstsein entglitt... Nach den anfallsartigen Ausbrüchen folgten stets starke Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit und Mattigkeit. Menschen, die an solchen und ähnlichen Zuständen leiden, sind oft von einer auffallenden Überempfindlichkeit gegen bestimmte Sinneseindrücke gezeichnet. Das traf auch auf Napoleon zu... Im Jahre 1809 lässt seine Frische, sein Wille und seine Entschlusskraft sowie das blitzschnelle Handeln einen deutlichen Knick erkennen. In der Schlacht von Aspern (Mai 1809) zeigt sich zum ersten Mal, dass seine Aktivität nicht mehr die alte war. Seine Gegner wunderten sich darüber, dass der Kaiser nach seinem glänzendem Sieg die Österreicher nicht verfolgt und vernichtet habe. Damals traten auch merkwürdige Schlafzustände auf. Er schlief 36 Stunden. Diese Schlafzustände wiederholten sich in der Schlacht von Wagram (Juli 1809). Mitten im Getümmel des Kampfes legte sich Napoleon nieder und schlief 20 Minuten wie ein Toter. War es wirklich nur eine Erschöpfung, wie einige vermuten? Wieder verzichtete er darauf... den geschlagenen Gegner zu verfolgen, so dass die Krönung des taktischen Erfolges, die Vernichtung des Gegners, unterblieb... Auch unmittelbar vor Beginn der Schlacht bei Austerlitz schlief er so fest ein, dass er nur mit großer Mühe geweckt werden konnte... kurz vor dem russischen Feldzug dauern seine Entrücktheitszustände bisweilen stundenlang. Dann springt er plötzlich mit einem Schrei auf: "Wer ruft mich?", wandert unstet durchs Zimmer und murmelt: "Nein, es ist noch zu früh". Später kamen zu diesen sonderbaren Zuständen noch ein Magengeschwür mit Schmerzen und Krämpfen, was seine bekannte Befehls-Flexibilität weiter untergrub und offensichtlich zusätzlich für verhängnisvolle Verzögerungen sorgte... Immer wieder zeigten sich jene unerklärlichen Bewusstseinsstörungen, die seine Gegner als "unfassbare Lethargie" in entscheidenden Situationen interpretierten. Seine letzte Schlacht bei Waterloo war ebenfalls von unerklärlichen (Fehl)-Entscheidungen geprägt, so dass die schon fast geschlagenen Engländer und ihre Verbündeten schließlich doch noch von den Preußen unterstützt werden konnten und die Franzosen definitiv besiegten... Auf dem Höhepunkt der Schlacht überfiel Napoleon wieder ein "lethargischer Schlaf" - und als er erwachte, war alles verloren. Die Wissenschaft ist sich - wie erwähnt - uneins. Wenn es epileptische Anfälle gewesen sein sollen (und da wäre Napoleon in guter Gesellschaft, denn eines seiner Vorbilder, nämlich Julius Cäsar war offenbar auch epileptisch krank), dann stellt sich die Frage, welche Art von Epilepsie? Und das ist rückwirkend und angesichts der damals natürlich nicht sehr fachbezogenen Schilderungen schwierig. Oder war es nur ein "epileptischer Charakter", wie man früher vermutete? Oder nur ein jähzorniger Hitzkopf mit viel Glück? Oder so genannte epileptische Äquivalente, was seine zeitweise tiefe Schlafzustände und so manche Charaktereigenschaft erklären könnten? Früher sprach man auch von affekt-epileptischen Psychopathen, epilepsieähnlicher Äußerung hysterischer Veranlagung, von Dämmerzuständen, Krämpfen und Absencen (kurzfristige Bewusstseinstrübung oder -einengung) durch Affekterregungen usw. Außerdem brachte man noch ein Schilddrüsen-Leiden ins Gespräch bzw. eine Funktionsstörung der Hypophyse (Stichwort: Körpergröße, Fehlen des äußeren Drittels der Augenbrauen, später Verfettung und Apathie u.a.). Letzten Endes aber muss die Wissenschaft zugeben, dass Napoleon auch in organ-medizinischer sowie psychiatrischer Hinsicht ein unerklärliches Phänomen bleibt. Wahrscheinlich sind es mehrere Einflüsse, die sich hier zu einer Persönlichkeitsstruktur verdichteten, die - und das ist für alle unbestritten - Europa und die Welt veränderten. Eines aber wird auch hier deutlich: Wenn es sich unter diesen Gesichtspunkten um einen "einfachen Mann von der Straße" handelt, dann kann es schon Turbulenzen genug geben. Handelt es sich um einen Politiker in führender Position, ggf. einen (wenn auch selbsternannten) Kaiser in letztlich absoluter Monarchie und entscheidenden Heerführer zugleich, dann sind körperliche und/oder seelische Schwäche von entscheidender Brisanz. In Napoleons Aufstieg und Niedergang kommt dies besonders deutlich zum Ausdruck, gleichgültig, welche Diagnose man ihm zuordnet. · NAPOLEON III. Unter den Großen dieser Welt gilt Napoleon III. als "mediokre (mittelmäßige) Persönlichkeit". Die Geschichtsschreibung beurteilt ihn eher ungünstig, vor allem weil ihm letztlich die Erfolge in der Innen- wie Außenpolitik versagt blieben (was trotz moralischer Bedenken oft genug der entscheidende Punkt im Urteil der Menschheit ist und bleibt...). Charles Louis Napoleon Bonaparte (1808 - 1873) war der Neffe von Kaiser Napoleon I. Aufgewachsen im schweizerischen und deutschen Exil galt er nach dem Tod von Napoleons Sohn, dem Herzog von Reichstadt (siehe Napoleon I.) als das Haupt der Familie Bonaparte und fühlte sich zur Glorifizierung seines großen Vorfahren und zur Wiedererrichtung des napoleonischen Kaisertums in Frankreich berufen. Das eine würde man in seiner Position akzeptieren, das andere bei Kenntnis der Geschichte als unmöglich halten, doch es gelang: Nach vergeblichen Putschversuchen gegen den französischen König Louis Philippe wurde er zur lebenslänglicher Haft verurteilt, entfloh nach England und entwickelte dort sein politisches Programm (plebiszitärer Cäsarismus), das bei den Franzosen nicht ohne Faszination blieb. Denn er kehrte nach Frankreich zurück, beteiligte sich an der dortigen Präsidentschaftswahl und gewann mit 74% der Stimmen ("prince président"). Einige Jahre später folgte der Staatsstreich mit umfassenden Regierungsvollmachten, von einem Volksentscheid legitimiert, womit nach Napoleon I zum zweiten Mal ein erblicher (!) Kaiser der Franzosen ausgerufen wurde. Zwar vermochten ihm die demokratischen Kräfte nach und nach die wichtigsten oppositionellen Forderungen nach größerer politischer Freiheit wieder schrittweise abzuringen, doch blieb er die zentrale Staatsfigur. Sein außenpolitisches Ziel war die europäische Ordnung des Wiener Kongresses zum Vorteil Frankreichs umzugestalten. Deshalb beteiligte er sich an nationalen Erhebungen (Krim-Krieg, Italien, Balkan, Polen), was ihm aber letztlich doch keine Vorteile brachte, weil ihn sein wichtigster Gegner, der deutsche Reichskanzler Bismarck sowohl politisch als auch im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871 überwand. Er geriet nach der Kapitulation von Sedan in preußische Gefangenschaft und verstarb nach seiner Entlassung in England, wo er auch bestattet ist. Über Napoleon III gibt es - vor allem im Gegensatz zu seinem berühmten Vorfahren - kaum pathographische Aufzeichnungen. Und doch ist er ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie die körperliche Gesundheitsstörung eines Staatsoberhauptes und zugleich Feldherrn den Gang der Geschichte beeinflussen kann - diesmal zum Vorteil der Deutschen und ihrer politischen Einigung. Napoleon III. litt an Blasensteinen. Dieses Leiden ist überaus schmerzhaft und zermürbend und heute kein urologisches Thema von Belang mehr. Damals aber konnte es offenbar die Geschichte verändern. Denn die Blasen-Koliken wurden schließlich so stark, dass sie seine - ursprünglich eindrucksvolle - Willens-, Entschluss- und Widerstandkraft entscheidend herabsetzten. Er entwickelte ein krankhaftes Bedürfnis kann Ruhe, zeigte kaum mehr Aktivität und Initiative und ließ die Dinge treiben. Er wurde auch zunehmend resigniert und niedergeschlagen. Dazu kamen sowohl politische als auch wirtschaftlich teure politisch-militärische Rückschläge wie das mexikanische Abenteuer und der Krim-Krieg. Dies alles, seine gesundheitliche Lage und die politischen Fehlentscheidungen trieben ihn immer mehr in eine Art fatalistische Passivität, was vor allem seine ehrgeizige Gemahlin, die Kaiserin Eugenie ausnützte. Nur so lässt sich eigentlich sein unzweckmäßiges Verhalten während des österreichisch-preußischen Krieges von 1866 erklären. Zwar ließ er französische Truppen am Rhein aufmarschieren, um die Preußen zu beunruhigen und zumindest einen Teil ihrer Streitkräfte zu binden, hob diesen Befehl jedoch später wieder auf. Jeder der die Geschichte kennt, weiß, dass ein bewaffnetes Eingreifen Frankreichs Preußen in Schwierigkeiten gebracht hätte. Aber die Geschichte war offenbar mit Bismarck, denn gerade zu dieser Zeit plagte Napoleon III. wieder sein Steinleiden mit immer wiederkehrenden (und deshalb besonders zermürbenden) Koliken. Es wird berichtet, dass er damals sehr elend, verfallen und regelrecht zerquält ausgesehen habe und sich kaum richtig bewegen konnte - ein schwer kranker Patient, dem alle wichtigen geistigen und körperlichen Gaben genommen waren, und das in dieser Position und Zeit (zur Diskussion stehender Fachbegriff: algogenes Psycho-Syndrom, also schmerzbedingte geistig-seelische Beeinträchtigung). Bismarck hat dies später bestätigt: Nicht einmal die französische Armee, eine einzige Division hätte nach seiner Ansicht gereicht, um die Preußen, die damals in den böhmischen Engpässen steckten, zum Rückzug zu zwingen. Denn vor allem das Großherzogtum Baden und die Pfalz hätten sich gerne hinter den Franzosen verschanzt und damit wohl ganz Süddeutschland gegen die Preußen auf die Beine gebracht. "Ich bin mir nicht einmal sicher, ob wir hätten Berlin decken können", gab Bismarck später zu. Und ein zweites Mal griff das Schicksal in Form Napoleons körperlichen Leidens und damit seelischen Folgen einschließlich psychosozialer Konsequenzen ein, im Krieg 1870/71. Zwar wollte er nicht den Krieg, konnte sich aber gegen die Kriegspartei seiner Regierung, unterstützt durch seine Gemahlin, nicht durchsetzen. Deshalb die unglücklichen diplomatischen Schritte, die wiederum Bismarck geschickt ausnützte und zuletzt die militärische Führungslosigkeit der französischen Armee, die mit ihrer vernichtenden Niederlage durch die Preußen und der Gefangenschaft ihres Kaisers endete. Dabei war allen Beteiligten im engeren Kreis um Napoleon III. klar, wie es um sein seelisch-körperliches Befinden stand. Zuletzt hielt man ihn für so geschwächt, dass man nicht einmal mehr einen chirurgischen Eingriff empfehlen wollte. Und vor allem gab man diese ärztliche Erkenntnis nicht weiter, nicht einmal an die Ehefrau, geschweige denn an die Regierung. Entsprechend aufgeklärt hätte man den derart körperlich und in der Folge geistig-seelisch zermürbten Kaiser als Oberbefehlshaber der Franzosen nicht in den Krieg ziehen lassen, was sich militärisch als entscheidendes Debakel herausstellte.
Seelische Störungen sind so alt wie die Menschheit, verschonen niemand, und das seit jeher - und finden sich deshalb schon im Alten Testament beschrieben. Zu den bekanntesten Betroffenen gehören der schwermütige König Saul und die wahrscheinlich schizophrenen Könige Nebukadnezar und Belsazar. Im Einzelnen: · KÖNIG SAUL Der junge Saul, der im 11. Jhr. v. Chr. lebte, war eine imposante Erscheinung ("überragte alle um Haupteslänge"). Er wurde der erste König aller Stämme Israels, und das Volk jubelte. Denn von allen Seiten wurde es militärisch bedrängt und Saul konnte beweisen, was er als König und Heerführer zu leisten imstande war. Das ist ihm zum Teil gelungen, zum Teil aber auch nicht. Ob es die politischen oder militärischen Misserfolge oder eine endogene ("biologische") Disposition (Neigung) war, Saul wurde auf jeden Fall schwermütig. Eine antidepressive Behandlung gab es damals nicht, wohl aber den Versuch, durch die Musik die niedergedrückte Stimmung zu verbessern. Dieser, wohl erstmals beschriebene "Musik-Therapeut" der Geschichte war David, ein junger Mann, der "die Zither zu spielen verstand" und den depressiven König Saul tatsächlich so erfolgreich behandelte, dass er ihn zu seinem Waffenträger und Heerführer ernannte.
Als aber der junge David so erfolgreich und damit im Volke populär wurde, dass er eine Gefahr zu werden drohte, wurde Saul immer eifersüchtiger und misstrauischer (man denke nur an seinen spektakulären Sieg über den nach damaligen Angaben über 3 Meter großen Riesen Goliat, der im Kampf gegen die Philister die völlig verzagten Israelis zu einem die Schlacht entscheidenden Zweikampf aufforderte, den ja David mit einer Schleuder für sich entschied und den bewusstlosen Gegner dann den Kopf abschlug). Zuerst versuchte er den jungen David durch die Vermählung mit seiner Tochter Michal an sich zu binden (was er nebenbei an militärische Voraussetzungen knüpfte, die unmöglich schienen, von David aber gemeistert wurden), geriet dann aber immer mehr in den "Seelenabgrund" der Melancholie, machte politische und militärische Fehler und stürzte sich schließlich nach einer Niederlage in sein eigenes Schwert, nachdem sein Waffenträger sich geweigert hatte, ihn zu durchbohren. Die Gegner schändeten seine Leiche. Doch sein Nachfolger, der von ihm beargwöhnte David, holte seine Gebeine zurück und richtete ihm eine würdige Begräbnisstätte ein. König Saul gilt als tragische Gestalt mit menschlichen Zügen, die man eher bemitleidet als verurteilt. Bekannt ist er vor allem durch die Bildende Kunst, in der der vor sich hin brütende König in drückender Atmosphäre und düsterer Katastrophenstimmung verharrt, und natürlich sein Tod durch eigene Hand. Auch in der Literatur, vor allem in der Poesie hat er seinen festen Platz, speziell bei den Romantikern. In der Geschichte aber gilt er nach glanzvollem Anfang als erfolgloser König und Heerführer, was die Psychiater vor allem seinen immer wiederkehrenden Zuständen von seelischer Düsternis, sprich wahrscheinlich einer endogenen (also phasischen) Depression anlasten. Für sein Volk war er damit letztlich nicht von Vorteil. Eine gewisse militärische und politische Ruhe kehrte erst durch seinen Nachfolger König David und dessen Sohn König Salomo ein, die zwar auch ein bewegtes Leben hatten, aber offensichtlich nicht von seelischen Störungen gepeinigt waren. · NEBUKADNEZAR Nebukadnezar (604 - 562 v. Chr.) war ein tatkräftiger König. Unter seiner Herrschaft blühten im neubabylonischen Weltreich (Assyrien und Babylonien) Handel, Architektur, Kunst und Astronomie. Außerdem war er ein erfolgreicher Feldherr, der beispielsweise das damalige Weltreich Ägypten um seine Vormachtsstellung brachte. Auch die Phönizier und Philister zwang er nieder und als sich Juda seiner Oberherrschaft entziehen wollte, besetzte er zweimal Jerusalem, ließ den Tempel zerstören und plündern und führte das Volk in die babylonische Gefangenschaft. Seinem Sohn hinterließ er ein Reich, das sich von Kleinasien bis nach Nordafrika erstreckte, größer als alle seine assyrischen und babylonischen Vorgänger. Auch als Bauherr überragte er alle, ließ Paläste und Tempel errichten, Straßen und Kanäle anlegen, hatte einen guten Blick für die Landschaftsgestaltung (Terrassen, Wasserläufe, hängende Gärten, die bei den verwöhnten Griechen als eines der Sieben-Weltwunder galten), baute gigantische Türme u.a. Nebukadnezar galt als einer der erfolgreichsten Könige seines Zeitalters - endete aber seelisch gestört und unglücklich. Im Alter litt er nämlich an einer "geheimnisvollen Krankheit", die ihn zwang, zurückgezogen und schließlich völlig isoliert und vergessen zu leben, sich vegetarisch zu ernähren und eine Wesensart mit kuriosen Handlungen an den Tag zu legen, die alle vor ein Rätsel stellten. Schließlich bildete er sich ein, ein Tier zu sein und ließ beispielsweise seine Nägel zu Klauen auswachsen.
Er starb im Wahnsinn, wie es hieß, d.h. wahrscheinlich an einer schizophrenen Psychose erkrankt. Sein blühendes Reich sollte zwei Jahrzehnte später ebenfalls untergehen. · BELSAZAR Das neubabylonische Weltreich unter König Nebukadnezar fing bereits während dessen seelischer Krankheit an, Zerfallserscheinungen zu zeigen. Dessen Nachfolger bzw. Söhne konnte diesen Niedergang nicht aufhalten (z. B. Amel-Marduk und später Nabonid). Ein neues Weltreich verschlang das alte, nämlich der persischer König Kyrus II. der Große, einer der bedeutendsten Reichsgründer der Geschichte. Der hier erwähnte König Belsazar schaffte es aber nicht einmal mehr, den einst so berühmten Thron zu besteigen. Noch als Kronprinz - und das allein machte ihn in der Geschichte berühmt - erschien während eines Festmahls plötzlich eine mysteriöse Hand an der Wand und schrieb in Flammenschrift die Worte: "Mene mene tekel u-parsin". Keiner der Weisen des Landes konnte diese Schrift entziffern, bis der im Exil lebende Jude Daniel es als Vorzeichen des Verhängnisses deutete, dass über den jungen König und Babylon zu kommen drohte (s.o.). Politisch deutete dies der Hof und die herrschende Schicht als "gewogen und zu leicht befunden", was damit endete, dass der junge König noch in der gleichen Nacht ermordet wurde. Das konnte allerdings den Niedergang nicht aufhalten.
Psychiatrisch gesehen war die Flammenschrift an der Wand eine optische Halluzination, also eine Gesichts-Sinnestäuschung von König Belsazar. Und da er ein Enkel (oder zumindest naher Verwandter) des psychose-kranken König Nebukadnezar gewesen sein muss, wiederholte sich hier offensichtlich die Tragik einer wahrscheinlich vererbten Schizophrenie. ANHANG: Die Senator Thomas Eagleton-Affäre in den USA Im Wahlkampf um die 37. amerikanische Präsidentschaft 1969 zwischen dem späteren Sieger Richard M. Nixon (mit seinem spektakulären Ende durch ein Impeachment, also einem Amtsenthebungsverfahren, dem er aber mit seinem Rücktritt zuvor kam) und seinem Herausforderer George McGovern erlebte Amerika und die ganze Welt eine politische Diskussion, die aber keine war. In Wirklichkeit handelte es sich nicht um eine Abstimmung, sondern um eine (medien-geleitete?) Abfuhr, was medizinisches, insbesondere psychiatrisches Wissen, vor allem aber was Aufklärung und Toleranz anbelangte (was man eigentlich besonders in den USA beheimatet meinte). Um was ging es? Der Politiker Thomas Eagleton war in den späten 50-er und 60-er Jahren das politische Wunderkind des US-Bundesstaates Missouri gewesen: Bezirksanwalt (1956), Staatsanwalt (1960 und dies mit 31 Jahren), Vizegouverneur (1964), Senator (1967) und galt als glänzender Politiker, den sogar seine politischen Gegner wählten. Sein begeisterter Einsatz und seine frohe Laune war sprichwörtlich. Er brachte eine ganze Reihe von Gesetzesvorlagen ein und galt als Mann der Zukunft. Als der Präsidentschafts-Kandidat McGovern ihn zum Kampfgefährten und potentiellen Vizepräsidenten wählte, schien dies die ideale Kombination zu sein. Kurz nach seiner Nominierung gab Eagleton auf ein Pressekonferenz jedoch bekannt, dass er drei Mal wegen "nervöser Erschöpfung und Überarbeitung" im Krankenhaus gewesen sei. Später wurde er konkreter: Es handelte sich um Depressionen, die zwei Mal durch eine Elektroschocktherapie und einmal durch eine einfache "Ruhekur" behandelt wurden (sein Arbeitstempo galt als unerreicht und für seine Mitarbeiter gehörig stress-beladen). Eagletons Eröffnungen schlugen in der amerikanischen Öffentlichkeit wie eine Bombe ein. In dieser Phase der Unsicherheit befragte man zuerst Prominente, die ihn kannten. Ihr einhelliges Urteil: Ihnen sei nie etwas Negatives aufgefallen, er sei ein zwar stark angespannter, aber höchst energischer (Wahl-) Kämpfer, ein guter Demokrat, gesund und vernünftig. (Eine typische Politiker-Aussage war übrigens: "Ich habe den Eindruck, dass wohl 60 % aller Senatsmitglieder nicht ganz ausgeglichen sind. Aber von allen Menschen, die mir je als geistig gesund und vernünftig erschienen, würde ich Thomas Eagleton an erster Stelle nennen".) Doch das half nichts: Die jetzt hochkochende nationale Debatte warf nach Ansicht der psychiatrischen Experten vor allem auf zwei wichtige Aspekte bedenkliche Schlaglichter: 1. Die Einstellung der US-Amerikaner zu psychischen Störungen generell 2. die althergebrachte und tief verwurzelte Vorstellung, dass jede Konsultation eines Experten wegen eines emotionalen Problems auf etwas "Schmutziges, Widerliches, Korruptes, Gesetzwidriges oder Unheimliches" schließen lasse (zitiert nach R. R. Fieve). Es ging also zum einen um ein ausgeprägtes Misstrauen, dass man jeden Führer mit einer psychiatrischen Vorgeschichte entgegen brachte, gleichgültig, wie diese beschaffen war und zweitens um die Unheimlichkeit eines schwer fassbaren psychischen Problems, jedenfalls für den Durchschnittsbürger, das man lieber zur Seite schiebt und schon gar nicht unter seinen politischen Führern verbreitet sehen möchte. Der Psychiater R. R. Fieve zitierte dazu folgende bezeichnende Bemerkungen: "Elektroschockbehandlung ist etwas, worüber man nicht bei jeder beliebigen Cocktailparty reden kann". Oder: "Wir sind zwar aufgeklärt genug, über unsere psychoanalytischen Sitzungen zu sprechen, auch in Gesellschaft, aber eine schwere, klinisch behandlungsbedürftige Depression würde man schon lieber verheimlichen". Oder: "Der Gedanke an eine psychiatrische Klinik lässt uns an sabbernde, irre und gewalttätige, halluzinierende Patienten denken, an Psychotiker, die nicht in der Lage sind, ihre sexuellen und aggressiven Affekte unter Kontrolle zu halten". Und: "Bei psychischen Störungen denken wir halt sofort an unverständlich schnatternde Typen aus Film, Fernsehen, Theater und Literatur, bis hin zu Frankensteins Elektroschockmaschine". Und zuletzt: "Präsident Johnson kann die Narbe seiner Gallenblasenoperation in einer Fernsehsendung vorführen, Präsident Eisenhower über seinen Stuhlgang berichten, aber eine psychiatrische Behandlung ist halt eine widerwärtige Sache". Dazu R. R. Fieve: Unsere körperliche Gesundheit macht uns Sorgen und keiner findet etwas dabei. Unsere geistige Gesundheit lässt zu wünschen übrig, und keiner wagt darüber zu sprechen. Gesellschaftlich sind die Betroffenen damit gebrandmarkt, und zwar nicht nur wenn sie Politiker sind. Jeder, der einmal in einer Nervenklinik war, muss sich wahrscheinlich für den Rest seines Lebens gefallen lassen, dass man ihn nicht ganz für voll nimmt, gleichgültig, wie gut er über sein Leiden hinweg gekommen ist. Eagleton hielt durch, aber vergeblich: Die "doppelte Moral des amerikanischen Volkes" (Fieve) machte es unvermeidlich, dass sich McGovern zwar anfangs unbeeindruckt zeigte, ihn am Schluss aber trotzdem auffordern musste, seine Kandidatur zur Vize-Präsidentschaft niederzulegen, obgleich die Meinung des Volkes plötzlich unsicher zu werden schien. Doch George McGovern konnte es sich nicht leisten, die frühere Krankheit seines Vize-Kandidaten zum Wahlkampfthema Nummer 1 machen zu lassen (worauf seine politischen Gegner mit Hilfe der ihr wohl gesonnenen Medien hinarbeiteten). Diese Strategien waren - wie so oft in der Politik - nicht sauber, aber darum ging es letztlich nicht. Es ging um die Einstellung des Volkes, die besagt: Eagleton mag ein seelischer Grenzfall gewesen sein, den man in dem politisch hochkochenden Wahlkampf-Klima in eine geistige Erkrankung gedrängt hat. Doch als Führer können wir ihn einfach nicht tolerieren. Denn der Gedanke, ein Führer könne sich als fehlbar erweisen, war und ist uns unerträglich (nach R. R. Fieve 1981). Der spätere Wahlsieger - wir deuteten es schon an - soll dann am Ende seines zermürbend langen Rücktritt-Manövers tatsächlich depressiv geworden sein. |
||||||||
Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |