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MARQUIS DE SADE (SADISMUS)

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PATHOGRAPIEN: Lebensschicksale berühmter Persönlichkeiten unter psychiatrischen Gesichtspunkten

Jeder kennt den Begriff Sadismus mit den zwei Bedeutungen: entweder Sexualpraktik oder böswillig-demütigendes Schikanieren. Aber kennt man auch den (unfreiwilligen) Namensgeber, den Marquis de Sade? Er ist nämlich nicht um­sonst zu dieser zweifelhaften Ehre gekommen. Das ist richtig. Er ist aber auch nach wissenschaftlichen Erkenntnissen der Pathographen nicht nur ein Wüstling gewesen, er war auch einer der schärfsten Kritiker seiner Zeit und Gesellschaft, und dies in drei ganz unterschiedlichen Epochen, denen er gnadenlos den Spiegel vorgehalten hat. Dafür musste er büßen – ebenfalls gnadenlos.

Was hat es nun auf sich mit dem Marquis de Sade, dem Sadismus und seiner Gesellschaftskritik, die von den Experten als aktueller denn je bezeichnet wird?

Nachfolgend eine Übersicht zum Thema Marquis de Sade und Sadismus.


Erwähnte Fachbegriffe:

Sadismus – Quälsucht – nicht-sexueller Sadismus – psychischer Sadismus – sexueller Sadismus – perverser Sadismus – Alltags-Sadismus – Erniedrigung – böswillig-demütigendes Schikanieren – Konjunktions-Sadismus – Kompensations-Sadismus – Objekt-Sadismus – nicht-sexuelle Dominanz – Paraphilie – abweichendes Sexualverhalten – Perversion – Schmerz-Zufügung – Autoerotik – Selbstbefriedigung – Auto-Masochismus – sexueller Masochismus – Homosexualität – Frustrationen – sadistische Impulse – Todestrieb – libidinös besetzter Bestrafungswunsch – Auspeitschen – Fesselung – Flagellation – Schläge – Spanking – Pornolalie – Bandage Elektroschocks – Schnittwunden – Stichwunden – Kneifen – Verbrennen – Würgen – Foltern – Verstümmeln – narzisstische Wut – sadomasochistische Täter-Opfer-Konstellation – sado-masochistische Ritual – S/M (sado-masochistische)-Clubs – Ödipus-Komplex – Elektra-Komplex – Schizothymie – Psychopathie – Zwangsneurose – Introversion – Liebestollheit – Impulsivität – Soziopathie – Erotomanie – Orgasmus – Fetischismus – Exhibitionismus – Pädophilie – Leichen-Zerstückelung – Kastrationsängste –Exkrementophilie – Domina – Herrin – Meister – Stopp-Code – sado-masochistische Einvernehmlichkeit – Dissexualität – sexuelle Gewaltentgleisung – Antiandrogene – Psychopharmaka – Serotonin-Wiederaufnahmehimmer (SSRI) – Psychotherapie – Psychoanalyse

Sadismus – kurzgefasste Übersicht

Sadismus ist die von R. v. Krafft-Ebing 1886 eingeführte Bezeichnung für die Neigung, anderen Menschen Schmerzen und Erniedrigung zuzufügen und dabei Lust zu empfinden. Im weiteren Sinne muss diese Lust nicht unbedingt sexuell erlebt werden, sondern kann sich aus anderen Lebenssituationen herleiten, indem Berufe oder Partner gewählt werden, die das Ausleben nicht­sexueller Dominanz erlauben (so genannter Alltags-Sadismus).

Im engeren Sinne bezeichnet Sadismus eine als Paraphilie eingeordnete Form des abweichenden Sexualverhaltens, bei der sexuelle Erregung und Befriedigung überwiegend oder ausschließlich durch Dominanz und Zufügen von Schmerzen oder Erniedrigungen erreicht wird (Anmerkung: Paraphilie = histo­rische Sammelbezeichnung für abweichendes Sexualverhalten, die im amerikanischen Sprachraum weiterverwendet wurde und heute – beschränkt auf bestimmte Formen – als Fachzeichnung erneut gebraucht wird).

Meist finden die Handlungen mit Partnern statt, die die submissive (sich unterordnende, hier konkreter: sich unterwerfende) Rolle übernehmen. Sie können aber auch eine Form der Autoerotik (Fachbezeichnung für auf den eigenen Körper gerichtete sexuelle Aktivität, z. B. Selbstbefriedigung) darstellen und werden dann zum Auto-Masochismus (masochistische Züge, bei denen das Empfinden von Schmerz oder gar die Beschädigung des eigenen Körpers den zentralen sexuellen Reiz darstellt). Oder sie richten sich gegen Objekte, deren Beschädigung als lustvoll erlebt wird (so genannter Objekt-Sadismus).

Über die Häufigkeit sexuell gefärbter sadistischer Bedürfnisse kann – insbe­sondere wegen des breiten Spektrums der Ausprägungen – nur spekuliert werden. Es gilt aber als gesichert, dass sie insgesamt seltener sind als masochistische Bedürfnisse. Bei Männern (insbesondere bei homosexuellen Män­nern) aber häufiger.

Als Bedingungen für die Entstehung werden z. B. Frustrationen (Versagungen, Enttäuschungen) im Kindesalter, später auch lustvoll besetzte Bestrafungswünsche diskutiert, ohne dass eine einheitliche Vorstellung erkennbar würde. Entsprechende Phantasien treten nicht selten bereits vor der Pubertät auf.

Nach psychoanalytischer Deutung wird der sadistische Impuls u.a. als Aus­druck der nach außen gerichteten Energie des Todestriebs oder als unbewusster (z. B. aus Frustrationen der Kindheit erwachsender) libidinös besetzter Bestrafungswunsch erklärt (weitere Aspekte siehe später).

Die Formen sadistischer Bedürfnisse und Handlungen sind außerordentlich vielfältig. Man unterscheidet beispielsweise:

- Konjunktions-Sadismus: Sadistische Phantasien und Handlungen erschei­nen in sexuelle Aktivitäten eingebettet, insbesondere wenn es um Schmerz geht. Beispiele: Auspeitschen (Fachbegriff: Flagellation), Schläge (Span­king) u.a. Daneben erniedrigende Behandlung (Pornolalie) oder Beschränkungen der Bewegungsfreiheit (Bandage). Und dies alles um im weiteren Verlauf einen Orgasmus zu erreichen. Wahl und Stellenwert der verwendeten Gegenstände zeigen u. U. eine psychodynamische Nähe zum Fetischismus (sexuelle Befriedigung durch Kontakt mit bestimmten Gegenständen wie Kleidungsstücke, Wäsche, Schuhe u.a.). Dabei kommen auch masochistische Bedürfnisse zum Tragen, die sich oft erst im Lebensverlauf entwickeln, so dass abwechselnd beide Rollen eingenommen werden können.

- Kompensations-Sadismus: Hier ersetzen sadistische Phantasien und Handlungen weitgehend die sexuelle Aktivität. Der zentrale Reiz liegt in der Einnahme einer dominanten Rolle (Meister, Herrin), der Zumutung von Ekel (Fachbegriff: Exkrementophilie) oder der Inszenierung scheinbar bedrohlicher Situationen.

Die Bewertung sadistischen Verhaltens unterlag im Verlauf der Geschichte einem erheblichen Wandel, je nach gesellschaftlicher Auffassung und erlaubten Grenzen. Das wechselte stark und kann sich vor allem kulturell deutlich unterscheiden. Beispiel: Während von der römischen Antike bis zur Neuzeit sadistische Handlungen nicht als sexuell erlebt, sondern z. B. als Bestrafung sozial gerechtfertig wurden, unterliegen sie heute in den meisten modernen Gesellschaften einer strengen Reglementierung. Dennoch sind zahlreiche Ausnahmen üblich (z. B. Züchtigung von Kindern, Kriegssituationen, Folter). Heute scheint es so, dass – Einvernehmlichkeit und strenge Handlungskontrolle (so genannter Stopp-Code) vorausgesetzt – sadistische und sadomasochistische Phänomene auf gesellschaftliches Unverständnis, aber keine ausgesprochene Diskriminierung mehr stoßen.

Die Folgen hängen von der erwähnten Einvernehmlichkeit (d. h. die Übereinstimmung der Absichten der beiden oder mehrerer Partner) ab und inwieweit es gelingt, sie dann auch einvernehmlich und gesundheitlich unbeschadet auszuleben. Das Risiko körperlicher Schäden scheint begrenzt, das von dissexuellen Verhaltensweisen (s. u.) vergleichsweise hoch (Gefahr sexueller Gewalt-Entgleisungen).

Eine Therapie wird im Allgemeinen kaum gewünscht, bei Dissexualität hingegen gefordert (Dissexualität bezeichnet sexuelle Handlungen, die einen Übergriff auf die Integrität und Individualität anderer darstellen, unabhängig davon, ob sie strafbar sind oder nicht). Dann kann eine Therapie auch ggf. partnerschaftlich, gesellschaftlich, beruflich, juristisch induziert bis erwünscht sein. Meist handelt es sich um psychotherapeutische Verfahren (z. B. Verhaltenstherapie, Psychodrama u.a.). In schweren Fällen kann eine Minderung der sexuellen Motivation durch Antiandrogene oder Psychopharmaka (z. B. antidepressive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer - SSRI) erwogen werden (aus Psychrembel – Wörterbuch Sexualität, 2003).

Dies als kurze Einleitung. Zum besseren Verständnis, was die Komplexität des Themas anbelangt, nachfolgend einige Definitionen im Kasten.

Sadismus – Sadomasochismus – Beschreibungen einst und heute

  • Sadismus: Er beruht darauf, dass die physiologisch im Bewusstsein kaum angedeutete Assoziation von Wollust mit Grausamkeitsvorstellungen auf psychisch-degenerativer Grundlage mächtig sich geltend macht und die Lustbetonung solcher Grausamkeitsvorstellungen sich bis zur Höhe mächtiger Affekte erhebt. Damit entsteht dann ein Drang zur Verwirklichung solcher Vorstellungen, dem Folge gegeben wird, wenn Überästhesie als Komplikation besteht oder hemmende moralische Gegenvorstellungen versagen.

    Quelle: Richard Freiherr von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis, 1912.
  • Sadismus: Quälsucht. Sexuelle Paraphilie. Sammelbezeichnung für Formen sexueller Befriedigung, die an normabweichende Bedingungen geknüpft sind (wie Exhibitionismus, Fetischismus, Pädophilie u.a.). Dabei ist die sexuelle Befriedigung an die Demütigung oder gar Misshandlung eines Partners gebunden, der dies entweder befürchtet oder gar einwilligt (Masochismus). Dies geht von Beißen und Kratzen über Schlagen und Auspeitschen bis zu schweren Verletzungen, ggf. sogar Tötung oder anschließender Leichen-Zerstückelung.

    Psychoanalytisch bedeutet Sadismus eine Abwehr von Kastrationsängsten. Was der Sadist befürchtet, vollzieht er aktiv (symbolisch) an anderen.

    In einem erweiterten, von S. Freud begonnenen und weitverbreiteten Sprachgebrauch bedeutet Sadismus die alleinige Ausübung von Gewalt ohne sexuelle Befriedigung, wenn auch evtl. mit Lustgewinn.

    Quelle: nach U. H. Peters: Wörterbuch der Psychiatrie, Psychotherapie und medizinischen Psychologie, 2003.
  • Sadismus unterteilt in

- Nicht sexueller oder psychischer Sadismus: Dieses Verhalten wird als eine Mentalität beschrieben, „die sich im Schikanieren von Familienmitgliedern und Untergebenen, in der Quälerei und Demütigung der Mitmenschen ... äußert. Das Geschlechtsleben des psychischen Sadisten mag roh und brutal sein, aber es ist stets frei von eigentlichen sadistischen Sexualpraktiken und wird dadurch charakterisiert, dass der Befallene sich des sexuellen Ursprungs seiner Neigung unbewusst ist„.

- Sexueller oder Konjunktions-Sadismus: Bedürfnis nach Geschlechtsverkehr in Verbindung mit Schmerz-Zufügung oder Demütigung eines anderen Menschen.

- Perverser oder Kompensations-Sadismus: Bezeichnung für jene Form des Sadismus, bei der das Bedürfnis nach physischer Schmerzbereitung und psychischer Demütigung an die Stelle des Wunsches nach Koitalverkehr tritt. Hier dienen die sexuellen Wünschen (z. B. eine nackte Frau auszupeitschen) nicht mehr zur Einleitung des Geschlechtsverkehrs und auch nicht zur Vergrößerung des sexuellen Reizes des Koitus, sondern ersetzt diesen.

Quelle: nach E. Bornemann: Lexikon der Liebe, 1978, zitiert nach S. R. Dunde: Handbuch Sexualität, 1992.

  • Sadomasochismus: Sexuelle Aktivitäten mit Zufügung von Schmerzen, Erniedrigung oder Fesseln. Wenn die betreffende Person diese Art der Stimulation gerne erleidet, handelt es sich um Masochismus. Wenn sie sie jemand anderem zufügt, um Sadismus. Oft empfindet die betreffende Person sowohl bei masochistischen als auch sadistischen Aktivitäten sexuelle Erregung.

    Gering ausgeprägte sadomasochistische Stimulation kommt zur Steigerung einer im Übrigen normalen Sexualität häufig vor. In der Diagnose einer krankhaften Entwicklung soll der Sadomasochismus nur dann verwendet werden, wenn die sadomasochistischen Betätigungen die hauptsächliche Quelle der Erregung oder für die sexuelle Befriedigung unerlässlich sind.

    Sexueller Sadismus lässt sich manchmal nur schwer unterscheiden von Grausamkeit in sexuellen Situationen oder Wut, die nichts mit Erotik zu tun haben. Wenn Qualen zur Stimulation erotischer Gefühle notwendig sind, ist die Diagnose Sadomasochismus zu stellen.

    Quelle: Internationale Klassifikation psychischer Störungen – ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO), 2003, modifiziert.
  • Sexueller Sadismus: Reale, also nicht simulierte (vorgetäusche) Handlungen, die für die Person durch psychisches oder physisches Leiden des Opfers (einschließlich Demütigung) sexuell erregend sind. Einige Personen fühlen sich durch ihre sadistischen Phantasien beunruhigt, die sie nur während der sexuellen Aktivität entfalten, aber nach denen sie ansonsten nicht handeln. In solchen Fällen beinhalten die sadistischen Phantasien gewöhnlich die völlige Kontrolle über ein Opfer, dass den bevorstehenden sadistischen Akt fürchtet. Andere führen die sadistischen sexuell dranghaften Bedürfnisse mit einem Partner aus, der bereitwillig Schmerz und Demütigung erleidet und deshalb einen Sexuellen Masochismus aufweisen kann. Wieder andere mit Sexuellem Sadismus setzen ihre sadistischen sexuell dranghaften Bedürfnisse mit nicht einwilligenden oder nicht einwilligungsfähigen Opfern um. In allen diesen Fällen ist es das Leiden des Opfers, das als sexuell erregend erlebt wird.

    Sadistische Phantasien oder Handlungen können Aktivitäten beinhalten, die eine Dominanz des Betroffenen über sein Opfer zum Ausdruck bringen (das Opfer zum Kriechen zu zwingen oder es in einem Käfig zu halten). Ähnliches gilt für Züchtigungen, Verbinden der Augen, Verprügeln (vor allem mit Schwerpunkt Gesäß), Ohrfeigen, Auspeitschen, Zufügen von Elektroschocks, Schnitt- und Stichwunden, Kneifen, Verbrennen, Vergewaltigen, Würgen, Foltern, ja Verstümmeln oder Töten.

    Sadistische sexuelle Phantasien treten wahrscheinlich schon während der Kindheit auf. Reale erste Aktionen meist im frühen Erwachsenenalter. Der Verlauf ist meist chronisch.

    Wenn Sexueller Sadismus mit nicht einwilligenden oder nicht einwilligungsfähigen Partnern praktiziert wird, kommt es meist zur Wiederholung bis der Täter festgenommen wird. Manche aber können viele Jahre lang sadistische Handlungen ausführen ohne das Bedürfnis zu entwickeln, die Intensität der körperlichen Schädigung zu steigern. Gewöhnlich nimmt jedoch die Schwere der sadistischen Handlung mit der Zeit zu. Wenn es sich um einen ausgeprägten Sexuellen Sadismus handelt und insbesondere wenn dies mit einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung verbunden ist, können die Opfer ernstlich verletzt oder gar getötet werden.

    Quelle: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – DSM-IV-TR der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA), 2003, modifiziert.
  • Sadismus: Bezeichnet das Erleben von (sexueller) Lust, wenn einem anderen Schmerz zugefügt wird. Der Begriff ist problematisch. Denn eine Handlungsweise „sadistisch„ zu nennen, kann immer nur bedeuten, dass derjenige, der sie beschreibt, sich selbst als „Opfer„ empfindet oder sich mit ihm identifiziert und dem Täter ein lustvolles Erleben im Zusammenhang mit dessen Tun unterstellt. Demgemäß umfasst die Verwendung dieses Begriffs mindestens drei Positionen: Den „Täter„, das „Opfer„ und den Beschreibenden.

    Sadismus ist untrennbar mit dem Masochismus (Sadomasochismus) verbunden, weil der andere dabei – bewusst oder nicht bewusst – als Teil des eigenen Selbst erlebt wird (siehe narzisstische Erlebnisweise und Selbstobjekt).

    Sigmund Freud beschrieb 1905 den Sadismus im Rahmen seiner Triebtheorie als Vorstufe und Teil der reifen, genitalen Sexualität. Für ihn gehörte der Sadismus zur ursprünglichen Triebausstattung des Menschen. Im Rahmen der Triebtheorie ist der Bemächtigungstrieb und die destruktive (zerstörerische) Aggression konsequenter Weise mit dem Sexualtrieb verbunden. In der psychoanalytischen Selbstpsychologie dagegen wird Sadismus im eigentlichen Sinne als Perversion verstanden: 1. Schädigende Erlebnisse der Kindheit (chronisch nicht entsprechende zwischenmenschliche Kontakte, Gewalt der Eltern) führen dazu, dass die Grenze zwischen dem eigenen Erleben und dem des anderen nicht wirklich gezogen werden kann. 2. Sexuelle Strebungen verbinden sich mit der narzisstischen Wut, die die Folge der Schädigung ist. 3. Diese werden im sadistischen (sadomasochistischen) Erleben und Verhalten wiederholt (Wiederholungszwang), wobei das Bedürfnis nach Rache in Verbindung mit sexuellem Erleben in gewissem Ausmaß befriedigt wird. Der Sadismus eines Menschen spiegelt die in der Kindheit als Gewalt erlebten Kommunikationsformen der Eltern wider.

    Quelle: G. Stumm und A. Pritz (Hrsg.): Wörterbuch der Psychotherapie, 2000, modifiziert).
  • Sexueller Sadismus: Als sexuell erregend werden hier reale, nicht virtuelle (nur der Möglichkeit nach vorhandene) Handlungen erlebt, welche einem anderen Menschen psychisch oder physisch (körperlich) Leiden zufügen. Bei dem großen Spektrum sadistischer Phantasie-Inhalte und Intensitäten beschränken sich manche auf das Durchleben sadistischer Impulse in der Phantasie, während andere – z. B. in den spezialisierten Bordell-Szenen – Inszenierungen arrangieren, in denen sie weitestgehend die Kontrolle über ein Opfer erhalten, aber auf ein verabredetes Zeichen den sadistischen Akt unterbrechen müssen.

    Bei gewöhnlich chronischem Verlauf beginnen die sadistischen Aktivitäten im frühen Erwachsenenalter, während entsprechende Phantasie-Inhalte bereits während der Kindheit auftreten können.

    In der psychoanalytischen Theoriebildung wird das sadistische Erleben eng mit einer defizitär (mangelhaft) verlaufenden Persönlichkeitsentwicklung verbunden gedacht: Eine mangelnde Zufuhr von Emotionen (Gefühlen, Gemütsbewegungen) in der frühen Kindheit und eine damit verbundene „narzisstische Wunde„ führt zu Aggressionen und Ängsten sowie zu Verzweiflung und Wut aufgrund des ungestillten Liebeshungers. In der weiteren Entwicklung des Jungen verknüpfen sich die dramatischen Gefühle von Angst, Enttäuschung und Wut gegenüber der versagenden Mutter mit dem Wunsch, sie für immer zu beherrschen, um sicherzustellen, dass sie sich in der ersehnten liebevollen Zuwendung nicht entziehen kann. Diese jetzt eingeschlossene sadistische Komponente wird in der weiteren Entwicklung des Jungen dann sexualisiert – es kommt zu einer Verkopplung der sadistisch ausgeformten Phantasien mit sexueller Erregung, gewissermaßen ihrer Legierung (Verschmelzung) ihrer „perversen Plombe„ (Morgenthaler, 1987).

    In der sadomasochistischen Täter-Opfer-Konstellation lässt der sadistische Partner sein eigenes Leid um eine nichterfüllte Liebe nun die masochistische Partnerin erleben. Zugleich hat er die Möglichkeit, seine Aggressionen gegenüber der Frau (als dem versagenden Objekt) selber auszuleben.

    Bei vielen Männern ist die sadomasochistische Inszenierung in einem Ritual in kontrollierter Weise verwirklicht, was zumindest ermöglicht, die verkapselten Gefühle erlebbar zu machen und somit aus anderen sozialen Netzwerken herauszuhalten.

    Interessant sind noch folgende Erkenntnisse: Zum einen soll die Häufigkeit sadistischer Neigungen – auch bei Männern – deutlich seltener sein als die masochistische. Die Mehrzahl der Betroffenen scheint zunächst oder vorübergehend eine Vorliebe für die masochistische Rolle aufzuweisen und erst im weiteren Verlauf „die Seiten zu wechseln„. Auch schicht-spezifische Aspekte könnten – zumindest nach Auskunft entsprechende Zirkel – hier hereinspielen: So sollen die Mitglieder in S/M (sado-masochistischen)-Clubs häufiger der Mittel- und Oberschicht angehören. Diese Kunden aber sollen öfter submissive (unterwürfige) Positionen einnehmen und dominiert werden wollen als die Kundschaft aus unteren sozialen Schichten. So sind in der gehobenen S/M-Szene „echte Sadistinnen„ äußerst gefragt und hochbezahlt.

    Quelle: K. M. Beier u. Mitarb. (Hrsg.): Sexualmedizin, 2001, modifiziert.
  • Sadismus und Masochismus heute: Langzeitstudie des Wiener Instituts für angewandte Tiefenpsychologie, seit 1991 regelmäßig erhoben und laufend aktualisiert (Stichprobe: zwischen 4.000 bis 5.000 Probanden). In der Studie zum sexuellen Verhalten des Menschen im deutschsprachigen Raum ging es um Geschlechtsidentität, Homosexualität, Fetischismus, Frauenbekleidung/ Frauenunterwäsche u.a. Dabei fiel auch die Frage: „Mich erregen sexuelle Vorstellungen, in denen ich andere beherrsche„. Dies beantworteten 9,4 Prozent der Männer mit „Ja„ und weitere 17,7 Prozent mit „Eher ja„. Aber auch Frauen finden diesen Gedanken durchaus erregend: 5,3 Prozent mit „Ja„ und 10,3 Prozent mit „Eher ja„.

    Bei der Frage nach der Vorstellung, „anderen sexuell ausgeliefert zu sein„ reagierten erstmals die Frauen positiver als Männer: 27,5 zu 26,2 Prozent.

    Bei erotischen Fesselungen wird die Zustimmung noch deutlicher: 27,3 Prozent der Männer und 22,7 Prozent der Frauen finden eine solche Vorstellung erotisierend.

    Quelle: Psychologie Heute 3 (2004) 41

WER WAR MARQUIS DE SADE?

Donatien-Alphonse-François de Sade wurde am 2. Juni 1740 als zweites Kind eines Grafen in Paris geboren (das erste Geschwister starb unmittelbar nach der Geburt).

Der Vater war der mächtige (aber verarmte) Graf Jean-Baptiste-Joseph-François de Sade, als griesgrämig und autoritär geschildert, wobei sich beide – der offenbar schon „kompliziert„ angelegte Sohn und sein misanthropischer Vater – mieden wo sie konnten.

Die Mutter, Marie-Eléonore, geborene de Maillé de Carman, war eine einflussreiche Salondame königlicher Abstammung.

Der zur Aggressivität neigende Vater wurde – wie erwähnt – schon früh abgelehnt, die Mutter um so heißer geliebt (was aber später umschlug). Schon die ersten vier Lebensjahre waren extrem „komplikations-behaftet„. Deshalb wurde er ab 1744 von der Großmutter erzogen bzw. verwöhnt. Die möglicherweise dadurch verstärkte problematische Wesensart führte dazu, dass ihn schließlich sogar die Mutter ablehnte (die aber auch als „kühle Aristokratin„ geschildert wurde).

Später kommen dann noch die Erziehungsbemühungen eines nahen Verwandten hinzu, nämlich des Abbé Jaques de Sade, der – obwohl katholischer Weltgeistlicher – selber als schriftstellerisch hochbegabt, aber frivol galt, was ebenfalls nicht ohne Folgen geblieben sein dürfte.

Erbliche Belastung und umweltbedingte Einflüsse

Neben der erblichen Belastung, was den Charakter des später bis ans Ende seiner Tage auffälligen jungen Mannes anbelangt, dürften also auch schon früh umwelt-bedingte bzw. neurosen-psychologische Aspekte eine Rolle gespielt haben („neurotisierende Familienbedingungen„?). Dazu gehören zum einen die kühl-distanzierte Art der Mutter, die vor allem die (erlernten?) Frivolitäten (leichtfertige, schlüpfrige Zweideutigkeiten) ihres Sohnes ablehnte, was für ihn – laut psychoanalytischer Deutung – eine Entwertung der Liebe nach sich gezogen haben mag. Und/oder gar ein „Ödipuskomplex„ (siehe Kasten) mit nachfolgender Kastrationsangst, was u.a. sadistische Impulse nach sich ziehen kann. Denn „Sadismus ist nichts anderes als eine Form der Abwehr von Kastrations-Ängsten„, wie eine neurosen-psychologische Interpretation zur Diskussion stellt.

Ödipus-Komplex

Nach dem „Vater der Psychoanalyse„ Professor Dr. Sigmund Freud handelt es sich um Gefühle von Liebe und Hass, die ein Kind seinen Eltern gegenüber empfindet. In Analogie zur antiken Ödipus-Sage kommt es zu Inzest-Wünschen gegenüber dem gegengeschlechtlichen Elternteil, während sich dem gleichgeschlechtlichen Elternteil gegenüber Hass- und Eifersuchtsgefühle entwickeln. Normalerweise gelingt die Verdrängung dieser Wünsche und der damit zusammenhängenden (Kastrations-)Ängste, die ödipale Entwicklung ist beendet. In der Pubertät kann es noch einmal zu einer Wiederbelebung kommen, doch auch das läuft normalerweise folgenlos aus. Ist die Bewältigung hingegen unzureichend, kann eine Neurose entstehen (siehe das spezielle Kapitel über Neurosen einst und heute).

Der Ödipus-Komplex gehört zu den grundlegenden psychoanalytischen Modellen für die Entwicklung einer Persönlichkeitsstruktur. Viele Persönlichkeitsstörungen werden deshalb auf ihn bezogen (Nichtbewältigung).

Der Ödipus-Komplex charakterisiert das Problem aus der Sicht männlicher Betroffener. Beim weiblichen Geschlecht nennt man dies einen „Elektra-Komplex„: exzessive Bindung der Tochter an den Vater, Feindseligkeit gegenüber der Mutter.

Im Alter von 10 Jahren erhielt er in einer Jesuitenschule eine gute, klassische Erziehung (sowie erste (praktische?) Einsichten in das Phänomen der Homosexualität). Nach der Schulzeit, etwa mit 14 Jahren, wurde er Soldat. Als Offizier nahm er am Siebenjährigen Krieg teil und ist mit 19 Jahren schon Hauptmann der Kavallerie. Nach dem Krieg wird er aus dem aktiven Dienst entlassen. Damit beginnt ein wirtschaftliches Problem. Denn die Familie de Sade gehört zwar zum alten Adel, verfügt aber über keine großen Vermögenswerte. Deshalb setzten sich seine Eltern für eine Verbindung mit der Tochter der reichen Familie de Montreuil ein. Diese heiratete er schließlich auch, zumal er zuvor von seiner „großen Liebe„, der 22-jährigen Laure de Lauris mehr oder weniger schroff abgewiesen wurde.

Das Verhältnis zum Schwiegervater, dem Obersteuergerichtspräsidenten de Montreuil, vor allem aber zu dessen dominanter Ehefrau, die „familien-egoistisch„ ihre hauspolitischen Pläne durchzusetzen versuchte, war für de Sade Zeit seines Lebens bestimmend – und zuletzt eine Katastrophe. Seine Frau Renée Pélagie de Montreuil war offenbar ebenfalls eine schillernde Gestalt. Nicht nur dass sie ihrem Mann seine Extravaganzen, seine Untreue, seine wirtschaftlichen, finanziellen und gesellschaftlichen Belastungen zu verzeihen schien, sie unterwarf sich wahrscheinlich in den meisten Situationen ihrem Gatten und manches scheint sogar darauf hinzudeuten, dass sie Kupplerdienste leistete. Obgleich durch ein Verhältnis ihres Mannes mit ihrer jüngeren Schwester betrogen, versuchte sie sogar gerichtlich gegen ihre eigene Mutter vorzugehen, die wiederum ihren untreuen Schwiegersohn aufs heftigste verfolgte, was seine Karriere, seine Gesundheit und schließlich sein ganzen Leben verheerend prägte.

So viele Autoren sich auch minutiös um den Lebensweg de Sades bemüht haben, es ist reichlich schwer, Licht in das Dunkel dieses Schicksals zu bringen. Deshalb gibt es auch unterschiedliche Interpretationen, schon allein was die grundlegenden biographischen Daten anbelangt.

Wesentliche Aspekte dieses weiteren schicksalhaften Verlaufs sind jedenfalls folgende „Fakten„:

Zwischen Flucht, Kerker und Irrenanstalt

Schon mit 23 Jahren wurde de Sade erstmals eingekerkert, nachdem er ein junges Arbeitermädchen verführt hatte. Allerdings wurde er bereits nach einem Monat aus der Haft entlassen, bekam jedoch eine strenge Aufsicht als Auflage. Auch nach der Heirat muss er ein reichlich großzügiges Liebesleben genossen haben, das dann allerdings von der Geheimpolizei des Königs Ludwig XV. beschattet wurde. Charakteristika, die immer wieder auftauchten lauteten: unbeherrscht, wüst, übermütig, jähzornig, leichtfertig, zügellos und einem grenzenlosen Genussleben frönend.

Das machte auch vor der jüngeren Schwester seiner Frau, nämlich Louise de Montreuil nicht halt. Er ging eine Beziehung mit seiner Schwägerin ein, lebte mit ihr eine zeitlang auf seinem Schloss La Coste und reiste anschließend kreuz und quer über Monate hinweg in Italien umher, obgleich seine eigene Frau schwanger war.

Das brachte nicht nur die Heiratspläne der Schwiegermutter durcheinander, es entwickelte sich auch ein tiefer Hass, der zu allem fähig war, nämlich nicht nur den untreuen Schwiegersohn, sondern auch die älteste Tochter, ja selbst das Enkelkind in ernste Schwierigkeiten zu bringen. Für ihre Lieblingstochter Louise, die sie aus den Fängen des verderbten Schwiegersohns retten und in eine ehrenvolle standesgemäße Ehe einbringen wollte, kam jedoch alles zu spät, sie starb schon 1779 an den Pocken. De Sade hingegen ließ sein Schloss fast festungsartig ausbauen und hauste dort jahrelang, bis er schließlich festgenommen und ins Gefängnis geworfen wurde.

Das Gefängnis (und später die Irrenanstalt) sollten damit, anfangs mit Unterbrechungen, später viele Jahre lang und schließlich bis zum Tod das „Zuhause„ von de Sade werden. Das geht auf verschiedene juristische Anklagen zurück, die letztlich nur schwer zu entwirren sind. Nachfolgend nur einige davon:

Am bekanntesten war der Fall „Rose Keller„. De Sade hatte schon 1766 ein kleines Haus im französischen Arcueil gemietet, wo sich bald die wildesten Gerüchte über „exorbitante Orgien„ verbreiteten. Eines davon war die so genannte „Rose Keller-Affäre„, die nach ihrer Aussage gewaltsam entkleidet, gefesselt und extrem hart ausgepeitscht wurde, bevor ihr die Flucht gelang. Der Gerichtsmediziner konnte jedoch keine Fesselspuren an ihrem Körper entdecken und auch sonst wies ihre Darstellung so viele Ungereimtheiten auf, dass der auf Befehl des Königs inhaftierte Marquis wieder frei kam, nachdem er seinem „Opfer„ 100 Louisdór Entschädigung gezahlt und diese von jeder Klage Abstand genommen hatte.

Nach einer Reihe weiterer, im Wesentlichen folgenloser Affären kam es jedoch 1772 erneut zu einer Anklage, diesmal wegen der so genannten „Kantharidin-Affäre„ in Marseille.

An einem solchen Abend soll de Sade seinen Diener Latour und vier Prostituierte Pralinen mit einem Aphrodisiakum eingeflößt haben. Danach peitschte er sie aus, ließ sich selber mit Reisigbesen schlagen und praktizierte wechselseitige Onanie sowie Analverkehr. Eine der Prostituierten aber aß eine ganze Schachtel dieser Pralinen, erkrankte daran und klagte de Sade wegen versuchter Vergiftung an. Das wurde zum Skandal. Der Marquis musste mit seinem Diener vor einem Lynchmob nach Italien fliehen (in den Straßen hingen brennende Bilder der Flüchtenden) und wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt.

Nach einiger Zeit wurde er aber aufgespürt und verhaftet. Der Bericht seiner Gefangennahme soll von Teilen der Bevölkerung zu einer wahren Greuelgeschichte mit mehreren Leichen und de Sade als wahnsinnigen Mörder aufgebauscht worden sein. De Sade konnte sich schließlich aus dem Gefängnis befreien, indem er sich an einem Bettlaken durch das Fenster eines Klosetts abseilte, nicht ohne zuvor dem bedauernswerten Gouverneur (dem gegenüber er sein Ehrenwort gebrochen hatte) ein ironisches Beileidsschreiben mit guten Ratschlägen zu hinterlassen.

Danach durchreiste er einige Zeit Europa mit einer bunt zusammengewürfelten Truppe, soll sogar den Papst und Rousseau getroffen haben und am Hof von Neapel empfangen worden sein. Mit anderen Worten: sorgte wieder für Aufregung, Klatsch und Gerüchte – und auch politische Verwirrungen.

Und für schließlich harte Konsequenzen für sich selber. Denn mit einer Person schien er nicht adäquat gerechnet bzw. muss sich gründlich verschätzt haben: mit seiner Schwiegermutter. Dass de Sade ein so beschämendes Leben führte und damit die älteste Tochter mit hereinzog (bis zu heftigen, sogar juristischen Auseinandersetzungen) war für sie schon demütigend und empörend genug. Dass er aber auch noch mit deren Schwester, ihrer jüngeren Tochter ein Verhältnis eingegangen war, das brachte den Topf zum überlaufen. Da sie sich der Gunst des Königshofes erfreute, erreichte sie schließlich einen Geheimbrief des Königs (lettre de cachet), der es ihr erlaubte, mit de Sade nach ihrem eigenen Gutdünken umzugehen, zumindest ihn aber verhaften zu lassen, wann und wo immer es ihr beliebte. Dem war de Sade letztlich fast schutzlos ausgeliefert, sein ganzen Leben, auch wenn nach dem Tod des Königs die Macht dieses Geheim-Briefs erlosch (zumal sich auch noch die Französische Revolution andeutete, bei der königliche Dokumente der Macht ohnehin hinfällig wurden).

Allerdings muss man auch einräumen, dass es weniger die Macht-Position der Schwiegermutter war, mehr die Lebensgeschichte und schließlich die Schriften de Sades, die den Zorn der damaligen (und auch späteren) Staatsmacht erregten, zumal sie gegen die herrschende Ideologie dieser Zeit gerichtet waren – und zwar durchschlagend (siehe später).

Neue Zeiten, neue Chancen – alles vertan...

1790 trat de Sade von neuem in die Welt und in die Gesellschaft ein, ein Mann mit 50 Jahren, der 13 Jahre fast unausgesetzt in Einzelhaft verbracht hatte. Er war krank, auf einem Auge fast blind – und doch nicht gebrochen, einen neuen persönlichen, beruflichen, gesellschaftlichen, ja politischen Anlauf nehmend. Sein Vermögen war zwar durch die Inflation entwertet, so dass er in Not geriet. 1791 stand er zudem noch auf der Postskriptionsliste ehemaliger Adliger, d. h. war durchaus in Gefahr, und dies, obwohl er bereits für die Französische Revolution arbeitete – erfolgreich. Dabei brachte er es zum Sekretär, ja zum Sprecher und schließlich Präsidenten der „Section des Piques„ (früher Vendôme).

Er hielt sogar die Leichenreden für die französischen Revolutionäre Marat und Pelletier, die auf öffentliche Kosten gedruckt und in ganz Frankreich verteilt wurden. Schließlich erhielt er auch noch die Inspektion über die Spitäler (wie so vieles in seinem Leben ein „Treppenwitz der Geschichte„, denn in einer solchen Institution sollte er schließlich – erneut zwangsweise verbracht – sein Leben beschließen müssen).

Und ein weiterer Triumph hätte ihm durch seine neue Position vergönnt sein können, nämlich dass seine adeligen Schwiegereltern, insbesondere seine hasserfüllte Schwiegermutter im Rahmen der Französischen Revolution hingerichtet wurden. De Sade war sogar – durch Zufall (!) – Vorsitzender dieses Gerichtes. Damit hätten sich seine angeheirateten Verwandten unter den bekannten Bedingungen keine Chance mehr ausrechnen dürfen. Und doch – auch das wieder ein Teil seines faszinierenden, schillernden Persönlichkeitsspektrums – er stimmte gegen die Hinrichtung seiner Schwiegereltern. Das war riskant und er bekam es zu spüren. Denn jetzt wurde er selber wegen „Moderatismus„ eingekerkert. Diese Milde hätte ihm das Leben kosten können. Denn allein während des einen Monats Haft wurden vor seinem Kerkerfenster mehr als 1.800 Menschen hingerichtet und im Garten verscharrt.

Doch dann kam die Ära „Napoleon„. Wieder hätte er alle Möglichkeiten gehabt, doch er geriet erneut in politische Schwierigkeiten, ja in Lebensgefahr. Was er sah, musste er beschreiben und veröffentlichen, nämlich einen Skandal-Roman („Zoloe et ses Acolythes„), und zwar auf eigene Kosten. Anders wäre es nicht durchgegangen, denn der Inhalt richtete sich jetzt gegen Napoleon, seine Frau Josephine und ihre engsten Freunde, die er lächerlich zu machen versuchte. Wieder war ein Skandal nach Art des Marquis de Sade perfekt. Diesmal aber hatte er es mit einem konsequenten Gegner zu tun, nämlich Napoleon und seinen an die Macht geschwemmten Kreisen. Nicht nur de Sade, sondern auch sein Verleger wurden verhaftet, weil sie beabsichtigten ein „unsittliches und revolutionäres Werk„ zu veröffentlichen (gemeint war die „Juliette„, die aber schon seit fünf Jahren in allen Buchhandlungen auslag). Der Verleger kam frei, de Sade ins Gefängnis. 1803 wurde er – ohne jeweils von einem Richter verhört worden zu sein und nach 15 Monaten Untersuchungshaft – für geistig unzurechnungsfähig erklärt und in das Irrenhaus von Charenton gebracht. Dies war nebenbei eine beliebte Methode Napoleons (früher schon von anderen Machthabern und später natürlich ebenfalls ge- bzw. missbraucht).

De Sade war aber nicht geisteskrank im psychiatrischen Sinne. Auch im Irrenhaus war er rastlos tätig. Der Direktor ließ in sogar Theaterstücke und allegorische Feststücke schreiben (zu der auch hohe Würdenträger erschienen). Auch Gedichte entstanden. Und dies alles, obgleich er auch in der Irrenanstalt unter Verfolgungen und Schikanen zu leiden hatte. 1808 appellierte er an Napoleon, um seine Freiheit wieder zu erlangen – vergeblich. Am 2. Dezember 1814 verstarb er, 74 Jahre alt an Herzversagen.

Entgegen seinen testamentarisch festgehaltenen Wünschen erhielt er ein religiöses Begräbnis. Jahre später wurde sein Grab von Phrenologen (der Versuch, Charakter, Gemüt und sonstige Eigenschaften aus der Schädelform eines Menschen abzuleiten) geschändet. Sie stahlen seinen Schädel um daraus „wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse„ über seine Wesensart abzuleiten. Heute weiß man, dass dies nicht möglich ist. Für de Sade aber bedeutete es, auch im Grab keine Ruhe zu finden.

Marquis de Sade – ein „Charakter-Phänomen„

Die Frage, wie der Marquis de Sade auf den Hinweis reagiert hätte, sein Name würde später als entsprechender Fachbegriff ge- oder missbraucht (je nach Einstellung), ist natürlich nicht mehr klärbar. Wahrscheinlich hätte es ihn eher amüsiert als empört.

Dies übrigens im Gegensatz zu seinem namentlichen Gegenpart, nämlich Leopold Ritter von Sacher-Masoch, der seinen Namen für den Masochismus hergeben musste und Zeit seines Lebens dagegen kämpfte, vergeblich, immerhin war er in seiner wissenschaftlich produktivsten Zeit Professor für Geschichte an der Universität Lemberg.

Leopold Ritterr von Sacher-Masoch war entsetzt, als sein Name noch zu Lebzeiten von dem Psychiatrie-Professor und Sexualwissenschaftler Richard Freiherr von Krafft-Ebing („Psychopathia Sexualis, Stuttgart 1886) zur Beschreibung freiwilliger erotisch besetzter Demütigungen und sexueller Unterwerfung ge-(miss-?)braucht wurde. Dagegen wehrte er sich verzweifelt, was ihm aber nichts nützte, denn sein Ruf war am Ende seiner Karriere nicht mehr der beste und damit auch der notwendige Nachdruck seines Protestes.

Heute kennt man nur noch seinen (in der Tat) sadomasochistischen Roman „Venus im Pelz„ (bei der sich der Haupt-Akteur freiwillig der Sklaverei einer gnadenlosen Frau unterwirft: eine Erfolgsstory, Bestseller, Gesprächsthema in ganz Europa, herausgekommen in mehreren Auflagen und übersetzt in verschiedene Sprachen). Doch in seiner besten Zeit gehörte er zur Creme der deutschsprachigen, ja europäischen Literatur, in einem Zug mit anderen Großen seiner Zeit (z. B. Heinrich Heine) genannt und von offizieller Seite (auch aus dem Ausland) geehrt.

Er stammte aus Galizien (früher ein Teil von Österreich-Ungarn, heute Ukraine), erlebte blutige Revolutionen mit (u.a. Pfählungen gefangengenommener Bauern, Sacher-Masoch war der Sohn eines leitenden Polizeibeamten!) und widmete sich zuerst der akademischen Laufbahn. Diese war so erfolgreich, dass er schon in jungen Jahren Professor für Geschichte an der Universität Lemberg wurde. Dabei hatten aber offenbar seine Leser mehr Freude und Respekt als die (deutschsprachigen) Fachkollegen, für die war er nicht „ernsthaft„ genug, schrieb er doch seine Abhandlungen schon als Wissenschaftler in eher historisch-romanhafter Form. Deshalb wendete er der Universität den Rücken zu und wurde zum Schriftsteller und Redakteur in Budapest, Leipzig, Paris und Mannheim.

Eine Erklärung, warum Krafft-Ebing seinen Namen für ideal empfand, war in der Tat die zu seiner Zeit erstaunliche Fan-Gemeinde, die sich um seine rund 150 spannend geschriebenen exotischen Bücher zu entwickeln begann, nicht zuletzt was die damalige sadomasochistische Subkultur anbelangt (in Kontaktanzeigen wurde sein Name als Erkennungssignal für derartige Praktiken benützt).

Im Gegensatz zum deutschsprachigen Bereich bereiteten ihm die Franzosen beispielsweise 1886 einen triumphalen Empfang in Paris und zeichneten ihn mit dem Orden der Ehrenlegion aus. Die Großen seiner Zeit wie V. Hugo, E. Zola und H. Ibsen bewunderten besonders seinen folkloristischen Stil. Doch nach und nach begann dieser (für viele schon früher zweifelhafte) Ruhm zu verblassen, sein Stern als Schriftsteller sank, die literarischen Kritiken und schließlich sogar Attacken häuften sich. Sacher-Masoch geriet nicht nur belletristisch, sondern auch gesellschaftlich in Bedrängnis, zumal er seine literarischen Vorstellungen auch in seinem Lebensstil unterzubringen suchte (so benötigte er offenbar die Peitsche seiner Frau Wanda nicht nur als Liebes-, sondern auch als Schreibstimulanz). Zuletzt starb er – wie der Marquis de Sade – verbittert, krank und verlassen in einem Irrenhaus.

Im Gegensatz zu de Sade aber hat sich die literarische Wissenschaft unserer Zeit bisher nur zögerlich genähert (z. B. durchaus positive Kurz-Informationen im Literaturlexikon von Harenberg, 2001). Geblieben ist sein Name im Sadomasochismus, so dass er sich – hätte er die Möglichkeit eines Rückblicks – über diesen „Teil-Nachruhm„ vielleicht doch nicht mehr so erregen würde.

Doch de Sade ging bewusst provokativ an die Öffentlichkeit, und zwar mit der vergleichsweise seltenen Chance oder Gefahr, gleich in drei Gesellschaftsstrukturen aufzutreten (und anzuecken): Im Absolutismus von König Ludwig XV., in der Französischen Revolution und im Kaiserreich Napoleon Bonapartes.

In allen Zeiträumen hatte er seine Chancen, zeit- und gesellschaftskritisch Gehör zu finden, denn überall gab es – mit Recht – etwas zu beklagen und zu verbessern. Eines seiner Probleme aber war die einseitige sexuelle Ausrichtung, die er dann noch in seiner Not (den größten Teil des Lebens im Gefängnis oder in einer Irrenanstalt) besonders drastisch zum Ausdruck brachte.

Deshalb stellt sich immer wieder die Frage: Was wissen wir über die Wesensart, den Charakter, die Persönlichkeit dieses Mannes von letztlich unbeugsamer Haltung, von seinen Kritikern Dummheit, Starrheit, Unflexibilität, von den Vorwürfen zur Perversion ganz zu schweigen, von seinen Bewunderern Konsequenz, Unerbittlichkeit, ja sogar moralische Folgerichtigkeit genannt?

Soweit in der Fachliteratur herauslesbar und natürlich von ganz unterschiedlicher psychologischer Ausgangslage geprägt, finden sich bei de Sade folgende

- positiv interpretierbare Wesenszüge: mutig, tapfer, erfinderisch, geistvoll, faszinierend, ausnehmend höflich (und graziös in seinen Bewegungen, bis ins hohe Alter), gebildet, leidenschaftlich, sinnlich, beredt, von guter Selbstbeobachtung und letztlich eher introvertiert(?).

- Als negativ finden sich hingegen folgende Charaktereigenschaften: Schon in jungen Jahren unbeherrscht, wüst, übermütig, jähzornig, leichtfertig, zügellos, genusssüchtig, dünkelhaft, despotisch, streitsüchtig, provokativ, ungesellig, liebestoll, frivol, pervers, überpotent, infantil, hochmütig, unüberlegt, amoralisch, hasserfüllt, stimmungslabil oder wie ein Zeitgenosse schrieb: „Bald ist er reizbar, bald schmeichlerisch, hier erfinderisch bis zur Unredlichkeit, dort unverhältnismäßig geizig. Sobald es sich um Geld handelt, offenbart de Sade alle Laster seiner Familie und viele seiner Landsleute. Seine einzige Entschuldigung ist sein Alter, seine Krankheit und die Tatsache, dass er lange Zeit wirklich Not litt„ (zitiert aus „Genie, Irrsinn und Ruhm„, Bd. 5, 1987).

Nachfolgend im Kasten eine psychopathographische Zusammenfassung.

Marquis de Sade – eine psychopathographische Zusammenfassung

In der psychopathographischen Wertung von Marquis de Sade durch rund zwei Dutzend Experten bis zur Drucklegung von Band 5 „Genie, Irrsinn und Ruhm„ von Wilhelm Lange-Eichbaum und Wolfram Kurth (Ernst Reinhardt-Verlag, München-Basel 1987) werden zu seiner Charakterisierung folgende populärmedizinischen Wesenszüge, äußere Aspekte und psychopathologischen Fachbegriffe zusammengefasst, die in der Schilderung seiner Persönlichkeit immer wieder auftauchen (Einzelheiten siehe Fachliteratur).

Schizothym bei psychopathischen und zwangsneurotischen Persönlichkeitszügen. Von der Konstitution her mittelgroß, kräftig, später dick. – Charakter- bzw. Wesenszüge: Dünkel, Übermut, despotisch, jähzornig, gebildet, leidenschaftlich, wüst, zügellos, Spielmanie, streit- und genusssüchtig, sinnlich, provokativ, ungesellig, introvertiert, kontaktscheu, liebestoll, frivol, pervers, überpotent, infantil, hochmütig, Verachtung, beredt, Grübelsucht, Selbstbeobachtung, unüberlegt, amoralisch, distanziert, tapfer. – In psychodynamischer Hinsicht: Sadismus, Hass und Einsamkeit. – Funktionstypologisch: introvertierter Fühl- bis Empfindungstypus. – Dominante Temperamentsfaktoren: Impulsivität, Stimmungslabilität und Toleranz. – Intelligenz: eher durchschnittlich als überdurchschnittlich. – Begabungstyp: produktive literarische Begabung. – Produktionsprozess: flüssig. – Grundstimmung: dramatisch.

Schlussfolgerung: Der Marquis de Sade war zweifellos eine soziopathische Persönlichkeit, die man kaum als kulturfördernd einzustufen vermag, doch war er literarisch begabt. Seine Größte beruht aber nicht auf Genialität, sondern auf einem Ruhm, der aus einer ... Befindlichkeit hervorging, die etwas Spektakuläres an sich hatte.

Nach W. Lange-Eichbaum und W. Kurth: Genie, Irrsinn und Ruhm, Band 5, 1987

Wie wird der Marquis de Sade heute beurteilt?

Wie der Marquis de Sade auf das erneute Interesse reagieren würde, das seine Person, sein Schicksal, seine Schriften und die damit verbundenen zeit- und gesellschaftskritischen Hinweise, philosophischen Gedanken und auch konkreten „Anregungen„ für bestimmte Kreise auslöst, muss natürlich offen bleiben. Wahrscheinlich würde er es als späte Wiedergutmachung betrachten, zumindest amüsiert reagieren. Dies kann man nach alldem, was man über ihn zusammengetragen hat, wohl behaupten. Wahrscheinlich hat er sich keine Illusionen gemacht, was den zwei Jahrhunderte später geprägten Sinnspruch von Marie von Ebner-Eschenbach anbelangt: „Wer in die Öffentlichkeit tritt, hat keine Nachsicht zu erwarten und keine zu fordern.„

Und de Sade trat in die Öffentlichkeit, zu allen Zeiten seiner bewegten Epoche, aus allen Situationen heraus, und seien sie noch so notvoll und bedrängt (Verfolgung, Flucht, Gefängnis, Irrenhaus).

Über die literarische Qualität de Sade‘s gibt es im Gegensatz zu Sacher-Masoch, der von der Literaturwissenschaft bis heute mit weitgehender Unbeachtetheit bedacht wird (fast fühlt man sich an einen wienerischen Ausdruck erinnert: „nicht mal ignorieren...„) durchaus kontroverse Diskussionen. Immerhin ist die literaturwissenschaftliche, ja philosophische Diskussion um das Werk de Sade‘s bis heute nicht abgerissen: 9 literarische Bücher, 8 politische Schriften, 14 posthum (nach seinem Tod) herausgegebene Werke, 24 unveröffentlichte Manuskripte und Briefe (im Familienarchiv) und 36 unveröffentlichte, nicht auffindbare oder zerstörte Manuskripte lassen die Wissenschaftler verschiedener Disziplinen bis heute nicht unberührt (G. Gohrer, 1959).

Dass er in die einseitige Ecke sadistischer Phantasien und Handlungen gedrängt wurde, wird er seinen Kritikern nicht verargen können. Dass man nur diese eine Seite zu sehen gewillt ist (vor allem weil man die übrigen Werke nicht kennt), ist ein anderes Problem. Der Ge-(Miss-)brauch seines Namens wird im Übrigen nicht immer gutgeheißen (siehe Kasten).

Fast ein Jahrhundert nach de Sade‘s Analyse der geschlechtlichen Instinkte und Perversionen bearbeitete ein deutscher Professor namens Krafft-Ebing de Sade‘s Arbeit von neuem und wählte, aus einer Mischung von Taktlosigkeit und Ignoranz de Sade‘s Namen zur Bezeichnung einer der von ihm beschriebenen Perversionen und definierte den „Sadismus„ als sexuelle Empfindung, das sich mit dem Wunsch, Schmerz zu verursachen oder Gewalt anzuwenden verbindet; mit noch größerer Unverfrorenheit wählte der Gelehrte den Namen eines noch lebenden zweitrangigen Schriftstellers, Sacher-Masoch, und bezeichnet den Wunsch, grausam behandelt, gedemütigt und genötigt zu werden, als „Masochismus„ (G. Gohrer, 1959).

Aber unabhängig davon finden sich doch auch Hinweise, die de Sade gesellschaftskritische und sogar philosophische Verdienste nicht absprechen wollen. So beispielsweise (zitiert nach W. Lange-Eichbaum und W. Kurth, 1987, dort auch die entsprechenden Literaturangaben):

De Sade versuchte, den grausamen Gott durch einen irreligiösen Sozialismus zu ersetzen (nach S. de Beauvoir). Der Marquis war der freieste Geist, der je existierte (nach Apollinaire). Bedeutungsvoll auch die Überlegungen berühmter Autoren über die Nachwirkungen de Sade‘s aufgrund noch vorhandener Zeugnisse bei Shelley, Baudelaire, Flaubert u.a.

Oder: „Wir sehen in de Sade fast den Avantgardisten, den Dämon der Romantik und der Gothic Fiction, einen Surrealisten vor unserer Zeit und einen Herold der Anti-Literatur. Wir können ihn uns als Vorläufer von Darwin, Freud und Nietzsche vorstellen und als einen Wegbereiter der Anarchisten Max Stirner und Bakunin. Wir spüren sein Genie ... in jeder Form von apokalypitischer Politik. Wir akzeptieren ihn gleichzeitig ... als Kind der Aufklärung und als ein Beispiel der metaphysischen Rebellion. Mit all diesem sei gesagt, dass wir noch heute darum ringen, Sade durch seinen empörenden Mythos hindurch überhaupt klar wahrzunehmen. Dennoch gibt es keinen Zweifel daran, dass sich sein Geist in unserer Kultur bewegt und dass er, weit mehr als nur im Sinne eines pathologischen Symptoms, ein zentrales Element unseres Bewusstseins bildet (I. Hassan, zitiert nach A. Hoffmann: Das Lexikon der Tabubrüche, 2003).

De Sade habe die komplette Moderne vorbereitet. Dies sei aber nur ein Teil dessen, was sein Fascinosum (also etwas, was unwiderstehlich anzieht) ausmache. Der andere Teil bestehe in dem Paradox (Widerspruch), das seine Schriften aufwerfen. Dass es sich bei de Sade um einen Meister der Grenzüberschreitung handele, sei klar. Das Problem sei nur, dass diese Überschreitung kein Ende finde. Wie I. Hassan (zitiert nach A. Hoffmann) ausführt, leugne der Sade‘sche Held zuerst jede menschliche Autorität, dann Gott selbst im Namen der Natur, schließlich die Natur, indem er sie mit der absoluten Negation (Verneinung, Ablehnung) identifiziere. Diese Kette führe zuletzt dazu, dass sie sich selbst verleugne, worauf eine absolute Leere entstehe, die sogar die Vorstellung von der Sade‘schen Allmacht verschlinge. Auf seinem höchsten Niveau sei das von de Sade propagierte Bewusstsein ein Anti-Bewusstsein, seine Literatur eine Anti-Literatur. Paradoxien aber, so Hassan und Hoffmann, trotzen lediglich den Grenzen der Logik, nicht denen der Realität. Eine angemessene Antwort auf das Denken de Sade‘s müsse erst noch gefunden werden.

Meinungsbilder zu Marquis de Sade

De Sade: „Bluthusten der europäischen Kultur„, aber über alle Maßen aktuell...

Das Phänomen „de Sade„ wird für alle Zeiten als beispielhafter Typus einer unbegreiflichen Sinnesart, der Erotomanie, in ihrer schrecklichsten Gestalt dastehen. Alles, was die wahnwitzigste Phantasie nur an Ungeheuerlichem, Makaberem und Widerwärtigem erdenken kann, hat Marquis de Sade erdacht und geschrieben. Er ist gleichsam der menschliche Irrwahn in höchster Potenz, und er hat das Laster und das Verbrechen durch tausendfach bewiesene Lehrsätze geradezu philosophisch vertieft und sanktioniert. Es gibt wohl keinen moralischen Gedanken, den er nicht mit seiner unflätigen Phantasie besudelt hätte...

De Sade war der umstrittenste und meist diskutierte französische Autor des 18. Jahrhunderts und dennoch, trotz dieser Berühmtheit, ein Opfer des Ancien Régime und der Revolution. Einen Professor des Verbrechens, einen Höllendoktor des Materialismus hat man ihn genannt, diesen Choreographen des Bösen, dessen Werke an Kälte und Konsequenz bis heute nicht seinesgleichen gefunden haben... In seinem Werk hat de Sade einen Beitrag zur „schwarzen Aufklärung„ geleistet, der nicht nichts von seiner Sprengkraft eingebüßt hat, denn „dass de Sade es nicht den Gegnern überließ, sich über die Aufklärung über sich selbst entsetzen zu lassen, macht sein Werk zu einem Hebel ihrer Rettung„ (Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung)...

Der Publizist Ernst Ulitzsch nannte de Sade den „Bluthusten der europäischen Kultur„. Als die Körper der Rokoko-Aristokraten immer muskelschwächer, die Moschusparfüms immer stärker wurden und es kaum einem möglich war, ohne Kantharidinbonbons in erotischen Krampf zu verfallen, stieß er mit kraftvollem Arm die Fenster der schlecht gelüfteten Salons auf. Die Schuld lag gewiss nicht bei ihm, wenn nun, statt dass ersehnte Morgenluft ein-, der Gestank der Monarchie ausströmte. Man verfolgte ihn weniger deshalb, weil er getan hat, was alle in seiner Zeit taten, sondern weil er es gewagt hat, darüber zu schreiben und die Intimbereiche der höheren Gesellschaft der Belustigung und Kritik des Volkes anheim gegeben hat. Und man regte sich weniger über die Verherrlichung der Gewalt, als vielmehr über die subtile Kritik an den bestehenden Verhältnissen, an der Heuchelei und Selbstgerechtigkeit des Adels und der Korruption und Scheinheiligkeit der jeweils Herrschenden auf. Eigentlich ein Zustand, der heute so aktuell ist wie zu Zeiten von de Sade. Und auch das macht sein Werk so einmalig und unsterblich.

Die Ausschweifungen des französischen Hofes und Adels, welche nur an die Befriedigung ihrer unzüchtigen Gelüste dachten, während das Volk im größten Elend schmachtete, haben ohne Zweifel dazu beigetragen, den so schrecklichen Ausbruch der Französischen Revolution zu beschleunigen. So ist denn das Werk Marquis de Sade‘s eigentlich auch eine Revolution, wenn auch eine literarisch-philosophische, verpackt in einer Art von erfundener Selbstbiographie. Wer seine Lebensgeschichte kennt, findet auf jeder Seite seines umfangreichen Werkes den Verfasser wieder, wie er gelebt hat oder wie er gerne gelebt hätte.

Aber gerade diese Beschreibung der uns unbegreiflichen Grausamkeiten lässt uns den Marquis de Sade gleichzeitig so abstoßend und wieder zu anziehend erscheinen. Einerseits ist alles so langweilig-widerlich und andererseits so faszinierend-großartig und aus einer anderen Welt...

Aus: Abraham Melzer, Herausgeber des Marquis de Sade: Die 120 Tage von Sodom, die Philosophie im Boudoir, Justine – oder die Leiden der Tugend, Juliette – oder die Wonnen des Lasters. Parkland-Verlag, Köln 2003

de Sade: ein Freigeist

Französischer Philosoph und Autor (1740 bis 1814), dessen Werk Grausamkeit in Verbindung mit sexueller Lust zum Thema hat...

Angesichts seiner Lebensgeschichte wird deutlich, das de Sade weniger aufgrund tatsächlicher Gewalttaten den vollen Zorn der Staatsmacht zu spüren bekam, sondern wegen seiner Schriften, die gegen die herrschenden Ideologie seiner Zeit gerichtet waren. Eines der Hauptthemen seines Werkes war, wie Autorität von ihren Trägern pervertiert wird. Ein weiterer zentraler Gedanke, der de Sade zum Stammvater der literarischen Moderne machte, lautete: Die Welt ist böse, und keine von Menschen ersonnene Ablenkung – ob Wissenschaft, Religion oder Kultur – kann wahrhaft darüber hinweg trösten. De Sade revoltierte gegen die jüdisch-christliche Moral seiner Gesellschaft und tat das mit solchem Nachdruck, dass er in seinen Fiktionen letztlich die Existenz sowohl Gottes als auch jeglicher Moralvorstellungen überhaupt von sich wies („Ja, ich bin ein Freigeist...„).

Wie in so vielen anderen Fällen sind es auch bei de Sade dieselben Werke, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung von der Zensur verfolgt waren, welche später einen besonders ausgeprägten Einfluss auf Literatur, Kultur und Philosophie nahmen. Dies ändert allerdings nichts daran, dass er im Bewusstsein der Allgemeinheit heute noch als Wüstling und Sadist im abwertend-klinischen Sinne verankert ist (nach A. Hoffmann: Lexikon des Sadomasochismus, Schwarzkopf & Schwarzkopf-Verlag, Berlin 2001).

Marquis de Sade aus heutiger literaturwissenschaftlicher Sicht

De Sade korrespondierte mit Jean-Jacques Rousseau, kannte die erotische Literatur seiner Zeit von Choderlos de Laclos und S. Richardson, die Schauerromane von Ann Radcliffes sowie die aufklärerischen Werke von Paul-Henri Baron d‘Holbach und Voltaire. Er teilte aber nicht den Optimismus vieler Aufklärer, sondern entwickelte aus der Verkommenheiten der Gesellschaft eine Rousseau entgegengesetzte Anthropologie, nach der die Natur als zerstörerische Gewalt wirkt.

Den Konflikt zwischen alten aristrokratischen Einstellungen und modernen politischen Überzeugungen versuchte de Sade mit radikalen Antworten zu überwinden. Seine sexuellen Zwangsvorstellungen sowie ihre literarische Aufbereitung ließen ein umfangreiches Gesamtwerk entstehen, das vielseitiger ist als allgemein bekannt. Er schrieb zahlreiche Theaterstücke, aber auch mehrere historisch Romane. Am Zeitgeschmack orientiert waren ein philosophischer Briefroman sowie eine Novellen-Sammlung. Der Mythos de Sade basiert auf dem Skandalerfolg seiner sexuell orientierten Publikationen bzw. Romane.

Im Dekor düsterer Schlösser und Klöster entwickelte de Sade ein System des konsequenten Amoralismus. Hier herrscht die Elite des Bösen und verkehrt traditionelle Normen ins Gegenteil: Das Laster wird zur Tugend.

Mit der Beschreibung und Analyse des Sadismus öffnete er der Sexualpsychologie neue Wege. Seine Wirkung reichte von der Schwarzen Romantik (bei Ch. Baudelaire) bis zu Surrealismus und Existentialismus.

Nach Harenberg Literaturlexikon, 2. Auflage 2001, modifziert

In seinem Lexikon der Tabubrüche streift A. Hoffmann noch eine Reihe weiterer Autoren, vor allem der „linken Intelligenz„ und der Frauenbewegung. Und zitiert den französischen Literaturkritiker und Philosophen R. Barthes mit den Worten: „..., dass Sade einen neuen Diskurs der Sexualität erfand, in dem der Sexus erstmals geistesgeschichtlich an Böses, Gewalt und Tod gekoppelt und wahrer Eros allein im Brechen der Gebote gefunden wurde„. Und den interessanten Aspekt verschiedener angelsächsischer Autoren, dass „de Sade‘s literarische Linie des Tabubruches sowie der Bewusstseinserweiterung durch exzessive Ausschreitungen (Transzendenz nicht durch Spiritualität, sondern durch die Grenzüberschreitungen des Körpers) eine durchaus fruchtbare Diskussion angeregt habe, so dass er bis heute eine archetypische Figur in den Werken der Avantgarde-Literatur geworden (und geblieben) ist, wo man ihn eher als Freigeist und Revolutionär, denn als Perversling darstelle. Dies werde auch durch eine Reihe von Filmen und sogar Comic-Serien gestützt.

Von der menschlichen Seite, insbesondere was die Jahrzehnte in Haft und in der Irrenanstalt anbelangt, ähneln sich die Überlegungen von Albert Camus: „Sade ist ein Beispiel dafür, dass auf eine durch die Gesellschaft erlittene grausame Behandlung eine grausame Antwort gegeben wird.„ Und D. Thomas: „Sade war in Wirklichkeit kein Sadist (und schon gar nicht ein Verbrecher), eher ein Libertin (Freigeist, in seiner zweiten Bedeutung aber auch ausschweifend lebender Mensch). Es gibt keine Kongruenz von Leben und Werk.„

Schlussfolgerung

De Sade ist und bleibt ein menschliches, literarisches, sexualwissenschaftliches und psychologisches, ja psychiatrisches Phänomen. So soll dieser Beitrag schließen mit den letzten Zeilen des Vorworts von Abraham Melzer, Herausgeber des Buches: Marquis de Sade, ein Sammelband mit den wichtigsten Beiträgen (Parkland Verlag, Köln 2003):

„War es der Einfluss seiner Wollust, dem er unterlag, oder riss ihn eine dämonische Gewalt wider Willen hin, der er sich vergeblich mit seiner ganzen Kraft entgegenstemmte? Letzteres würde ihn in unseren Augen eher bemitleidenswert als verdammungswürdig erscheinen lassen. Noch ist nicht das letzte Wort über de Sade gesprochen worden und gerade die Brutalitäten, zu denen die Menschheit noch im 20. Jahrhundert fähig war, relativieren in einer unzweideutigen Art und Weise alle Verbrechen, die bei de Sade beschrieben werden, auch diejenigen, die seiner krankhaften Phantasie entstammen.

De Sade wollte sich in der Einförmigkeit des Kerkers zerstreuen, als er anfing, erotische Werke zu schreiben. Mirabeau (ein weiterer Revolutionär seiner Zeit) verfiel unter den gleichen Umständen denselben Ablenkungen des Geistes. Kaum aber war der feurige Volkstribun wieder in Freiheit, als er sich voll und ganz der Politik hingab. De Sade dagegen, der eingesperrt blieb, wurde von der Verzweiflung zum Wahnsinn getrieben; seine Phantasie erhitzte sich wohl in Folge des unendlich langen, gezwungenen Müßiggangs immer mehr und mehr, so dass er schließlich in einen Wahn verfiel, der ihn in den Abgrund stürzte. Indem er sich bemühte, die Verderbtheit zu verbreiten, wollte er sich an der Gesellschaft rächen, die ihn verurteilt hat und deren Lebenswandel er, natürlich ins Unermessliche übertrieben, nun akribisch in seiner fast mikroskopischen Schrift beschrieben hat.

Man muss immer auf de Sade, d. h. auf den natürlichen Menschen zurückgreifen, um das Böse zu erklären (Charles Baudelaire).

In de Sade‘s Konsequenz liegt seine Modernität und Aktualität. Die eherne Monotonie, die sein Werk beherrscht und die die Lektüre auf weite Strecken zur Strafe macht, hat Methode. Angesichts einer grenzenlosen, allerorten praktizierten Vernichtungsideologie ist sein Werk über alle Maßen aktuell (A. Melzer).

Weiterführende Literatur

Zahlreiche und z. T. auch umfangreiche, teils wissenschaftlich fundierte, teils mehr populärmedizinisch gefasste, teils natürlich auch tendenziös oder gar bewusst obszön gehaltene Schriften. Dabei sei aber auch die zutreffende Bemerkung von A. Hoffmann zitiert, der zu bedenken gibt, „dass de Sade keineswegs Kultstatus in der sadomasochistischen Szene besitzt oder dort gar ein Leitbild darstellt. Die allermeisten Sadomasochisten haben vermutlich kein einziges seiner Werke gelesen und könnten auch wenig mit seiner Philosophie des Nihilismus und der Aufklärungskritik anfangen„.

Nachfolgend eine Auswahl der zitierten Stellen:

APA: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – DSM-IV-TR. Hogrefe-Verlag für Psychologie, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle 2003

Beier, A.M. u. Mitarb. (Hrsg.): Sexualmedizin. Grundlagen und Praxis. Verlag Urban & Fischer, München-Jena 2001

Bornemann, E.: Lexikon der Liebe. Ullstein-Verlag, Berlin 1984

Dunde, S.R. (Hrsg.): Handbuch Sexualität. DeutscherStudienVerlag, Weinheim 1992

Giese, H.: Zur Psychopathologie der Sexualität. Enke-Verlag, Stuttgart 1973

Gorer, G.: Marquis de Sade. Schicksale und Gedanken. Limes-Verlag, Wiesbaden 1959

Hoffmann, A.: Lexikon des Sadomasochismus. Lexikon Imprint Verlag, Berlin 2001 (dort auch weitere Literaturhinweise)

Hoffmann, A.: Das Lexikon der Tabubrüche. Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2003 (dort auch weitere Literaturhinweise)

Krafft-Ebing, R. Freiherr von: Psychopathia Sexualis. Reprint der Ausgabe von 1912 mit weiteren Beiträgen. Matthes und Seitz-Verlag, München 1984

Lange-Eichbaum, W., W. Kurth: Genie, Irrsinn und Ruhm. Bd.5/2: Die Dichter und Schriftsteller. Ernst Reinhardt-Verlag, München-Basel 1887 (dort auch weitere Literaturhinweise)

Melzer, A (Hrsg.): Marquis de Sade (Die 120 Tage von Sodom – Die Philosophie im Boudoir – Justine – oder die Leiden der Tugend – Juliette – oder die Wonnen des Lasters). Parkland Verlag, Köln 2003

Peters, U. H.: Wörterbuch der Psychiatrie, Psychotherapie und Medizinischen Psychologie. Verlag Urban & Schwarzenberg, München-Wien 1999

Pschyrembel-Wörterbuch Sexualität (Hrsg. v. St. Dressler u. Ch. Zink). Verlag de Gruyter, Berlin-New York 2003

Sade de, E.A.F. Marquis: Ausgewählte Werke (Hrsg. v. Marion Luchow). Merlin-Verlag, Hamburg 1965

Sigusch, V. (Hrsg.): Sexualmedizin. Grundlagen und Praxis. Verlag Urban & Fischer, München-Jena 2001

Sigusch, V. (Hrsg.): Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 2001

Thomas, D.: Marquis de Sade. Heyne-Verlag, München 1990

WHO: Internationale Klassifikation psychischer Störungen – ICD-10. Verlag Hans Huber, Bern-Göttingen-Toronto 2000

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
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