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SELBSTUNSICHER, ÄNGSTLICH, GEHEMMT, UNBEHOLFEN UND KONTAKTSCHEU

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Die selbstunsichere und ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung

Unsicher und gehemmt, ja ängstlich alle Kontakte meidend, das sind nicht wenige Mitmenschen. Dazu das Gefühl, nicht nur unfähig, sondern unbeholfen, unattraktiv, ja minderwertig zu sein, heimlich von allen abgelehnt oder gar lächerlich gemacht zu werden. Und deshalb Rückzug, Trainingsverlust im zwischenmenschlichen Alltag und damit Isolationsgefahr und zuletzt ein Teufelskreis, aus dem man nicht mehr herauszukommen meint. Das kann eine bedauernswerte Wesensart sein, nicht gerade üblich, aber auch nicht krankhaft, es kann aber auch eine Persönlichkeitsstörung sein, ein tief eingewurzeltes Fehlverhalten mit entsprechenden zwischenmenschlichen, d.h. partnerschaftlichen, nachbarschaftlichen und beruflichen Konsequenzen und zahlreichen gesellschaftlichen Konflikten. Oder konkret: eine selbstunsichere und ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung.

Was versteht man darunter und vor allem: was kann man tun?


Erwähnte Fachbegriffe:

Persönlichkeitsstörung - Psychopathie - abnorme Persönlichkeit - Charakterneurose - dissoziale Persönlichkeit - Soziopathie - psychopathische Persönlichkeit - selbstunsichere und ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung - sensitiver Charakter - selbstunsichere Persönlichkeit - schizoide Persönlichkeitsstörung - ängstlich-vermeidende Menschen - Angst vor den anderen - Bindungs-Angst - Bindungs-Sehnsucht - kühl-distanzierte Persönlichkeit - nachgiebig-ausnutzbare Persönlichkeit - Schüchternheit - Verlegenheit - Minderwertigkeitsgefühle - Vermeidungsverhalten - soziale Kompetenz - überzogene Selbstkritik - Selbstunsicherheit - Unfähigkeitsgefühle - soziale Gehemmtheit - soziale Phobie - Sozialphobie - schizoide Persönlichkeitsstörung - Angst vor negativer Bewertung - Beschämungs-Angst - Entscheidungsunfähigkeit - Alltags-Trainingsverlust - abnehmende Kompetenz im Alltag - Demütigungs-Angst - Kränkungs-Angst - Verletzungs-Angst - vorbeugende Feindseligkeit - sich selbst erfüllende Prophezeiung - negative Erziehungspraktiken - persönlichkeitstypische Vulnerabilität (Verwundbarkeit) - erhöhte Verletzbarkeit - beschämende Kontakte - überzogene Selbstkritik - überhöhte Erwartungshaltung - Entspannungsübungen - Psychoanalyse - Fokal-Therapie - psychoanalytische Kurzzeit-Therapie - Couchsetting - Interpersonelle Psychotherapie - psychoedukative Psychotherapie - Verhaltenstherapie - Rollenspiele - Video-Feedback-Sozialtraining - u.a.m.

Selbstunsicher, gehemmt, ängstlich alle Kontakte vermeidend, von Unfähigkeitsgefühlen geplagt, der irrigen Überzeugung dem Schicksal hilflos ausgeliefert, unbeholfen, unattraktiv, ja minderwertig zu sein und deshalb - offen oder versteckt - kritisiert, abgelehnt oder gar lächerlich gemacht zu werden und sich daher vor Scham, Furcht oder regelrechter Panik bei "drohenden" sozialen Kontakten immer mehr zurückzuziehen und in die Isolation zu geraten - das ist nicht so selten, wie man gemeinhin annimmt. Und für das nähere und weitere Umfeld, zumindest die meisten, sind solche Menschen durchaus bequem, ja angenehm, "pflegeleicht", problemlos zu gängeln, trauen sie sich doch ohnehin nichts zu, insbesondere nicht "Nein" zu sagen.

Und wenn dies so pathologische (krankhafte) Formen annimmt, dass die Betreffenden damit ihr Leben ruinieren (und vielleicht das von manchen Angehörigen dazu), dann nennt man das heute eine selbstunsichere und ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung.

Was versteht man darunter? Was belastet diese Menschen? Und vor allem: Was kann man tun?

Nachfolgend ein Überblick im Rahmen des größeren Themenkreises Persönlichkeitsstörungen. Im Einzelnen:

Persönlichkeitsstörungen einst und heute - ein Überblick

Die selbstunsicheren und ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörungen gehören - wie der Name sagt - zu den Persönlichkeitsstörungen, früher auch als Psychopathien, Soziopathien, psychopathische Persönlichkeit (-störungen) u.a. bezeichnet. Einzelheiten dazu siehe der nachfolgende Kasten.

Persönlichkeitsstörungen einst und heute

- Begriff: Neben dem inzwischen allseits anerkannten und am häufigsten gebrauchten Begriff Persönlichkeitsstörung wurden früher bedeutungsgleich oder zumindest bedeutungsähnlich gebraucht: abnorme Persönlichkeit, Charakterneurose, dissoziale Persönlichkeit, Soziopathie, psychopathische Persönlichkeit u.a. Persönlichkeitsstörung ist zu bevorzugen, weil international gebräuchlich, besser definiert und (noch) wertfrei verstanden.

- Definition: Von Persönlichkeitsstörung spricht man, wenn eine Persönlichkeitsstruktur durch starke Ausprägung bestimmter Merkmale so akzentuiert ist, dass sich hieraus ernsthafte Leidenszustände und/oder Konflikte ergeben. Im Allgemeinen handelt es sich um ein tief eingewurzeltes Fehlverhalten mit entsprechenden zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Problemen. Tritt in der Regel erstmals in der Jugend auf und verblasst im mittleren und höheren Lebensalter oft wieder.

- Beispiele: zahlreiche Typologisierungen, wobei die Grenzen zwischen Persönlichkeitsstörung und noch als gesund zu bewertender ("grenzwertiger") Persönlichkeitsstruktur oft fließend sind. Häufig gebrauchte Diagnosen sind:

hyperthyme, paranoide, schizoide, hysterische, depressive, sensitive, asthenische, anankastische (zwanghafte), erregbare, passiv-aggressive, antisoziale u.a. Persönlichkeitsstörungen. Weitere Einzelheiten siehe das allgemeine Kapitel über Persönlichkeitsstörungen.

- Ursachen: wahrscheinlich mehrschichtig, d.h. erblich, psychologisch verstehbar, manchmal auch hirnorganisch mitbedingte Entstehungsweise.

- Therapeutische Möglichkeiten: je nach Art der Persönlichkeitsstörung Schwerpunkt auf Psychotherapie (insbesondere stützende Verfahren, Verhaltenstherapie, Entspannungsmethoden, und zwar in Einzel- und Gruppentherapie ferner soziotherapeutische Hilfen und Korrekturen sowie ggf. Pharmakotherapie, z. B. Neuroleptika (Antipsychotika) und/oder Antidepressiva.

Begriff

Der Begriff "selbstunsichere und ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung" ist relativ neu. Das Krankheitsbild bzw. die davon Betroffenen gibt es zwar seit Menschengedenken, aber nicht immer wurde es auch als krankhaft erkannt und vor allem anerkannt und erst seit etwa 8 Jahrzehnten auch wissenschaftlich erforscht und beschrieben. Dies zumeist unter den Bezeichnungen "sensitiver Charakter" (Kretschmer, 1921) bzw. "selbstunsichere Persönlichkeit" (Schneider, 1923). Manchmal wurde auch die so genannte "schizoide Persönlichkeitsstörung" (siehe diese) zur Charakterisierung solch ängstlich-vermeidender Menschen herangezogen. Inzwischen gilt dies aber als ein eigenes Krankheitsbild, d. h. man hat gelernt, sorgfältiger zwischen den einzelnen Persönlichkeitsstörungen zu unterscheiden (um damit auch gezielter behandeln zu können - siehe später).

Was belastet einen krankhaft selbstunsicheren und ängstlich-vermeidenden Menschen?

Die weltweit wichtigsten und derzeit tonangebenden Institutionen, was die diagnostischen Kriterien (Kennzeichen) in der Medizin allgemein und in der Psychiatrie im Speziellen anbelangt, sind die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit ihrer Internationalen Klassifikation seelischer Störungen - ICD-10 und die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) mit ihrem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen - DSM-IV. Sie definieren dieses Leiden nicht unbedingt deckungsgleich, aber doch weitgehend übereinstimmend, und zwar mit folgenden Haupt-Charakteristika (Zusammenfassung beider Diagnose-Kriterien):

Ein krankhaft selbstunsicherer und ängstlich-vermeidender Mensch leidet demnach unter einer tiefgreifenden und schon früh im Leben erkennbaren und belastenden sozialen Gehemmtheit, unter Unfähigkeitsgefühlen und Überempfindlichkeit gegenüber jeglicher negativer Beurteilung.

Im Einzelnen (in Stichworten):

- Hält sich für gesellschaftlich unbeholfen, persönlich unattraktiv, ja unterlegen, wenn nicht gar minderwertig gegenüber anderen.

- Ständige und vor allem ausgeprägte Sorge, in sozialen Situationen kritisiert oder abgelehnt zu werden.

- Überhaupt andauernde und umfassende Gefühle von Anspannung, Nervosität und genereller Besorgtheit allem und jedem gegenüber.

- Lässt sich nur ungern oder gar widerwillig mit Menschen ein, außer er ist sich sicher, von den anderen auch wirklich geduldet, akzeptiert oder gemocht zu werden.

- Zurückhaltung vor allem in intimen Beziehungen, aus Furcht, beschämt oder lächerlich gemacht zu werden.

- Auch Vermeidung von beruflichen Aktivitäten, die engere zwischenmenschliche Kontakte mit sich bringen, insbesondere aus Angst vor Kritik, Missbilligung, Zurückweisung oder brüsker Ablehnung.

- Deshalb Hemmungen vor allem in neuen zwischenmenschlichen Situationen aufgrund der angenommenen eigenen Unzulänglichkeit.

Die wichtigsten Merkmale sind also

- übergroße Empfindsamkeit gegenüber der Ablehnung anderer (wobei sich die Betroffenen jedoch nach zwischenmenschlicher Nähe und vor allem Sicherheit sehnen),

- Vermeidung enger Beziehungen, sei es beruflich, nachbarschaftlich, Freundeskreis, vor allem aber partnerschaftlich und intim,

- und zwar aus Angst abgelehnt, zurückgewiesen, ausgegrenzt und damit gedemütigt und gekränkt zu werden.

Dem entspricht ein mangelndes Selbstvertrauen, basierend auf der Furcht, sich lächerlich zu machen.

Die Fachleute erklären diesen wichtigsten und wohl auch quälendsten Aspekt dieses Leidens mit dem ungelösten Konflikt zwischen "Bindungs-Angst" und "Bindungs-Sehnsucht".

Gibt es noch unterschiedliche Typisierungen?

Dabei scheinen sich nach entsprechenden Untersuchungen noch zwei unterschiedliche Typisierungen finden zu lassen, die ungefähr je die Hälfte der Betroffenen umfassen:

- Die kühl-distanzierte Persönlichkeit: Das sind Menschen, die einerseits kühl-distanziert und andererseits gesellschafts-vermeidend auftreten. Die Probleme erwachsen vor allem im Zusammenhang mit der Unfähigkeit, warmherzige Gefühle auszudrücken (obgleich sie vorhanden sind) und damit enge intime Beziehungen einzugehen. Auch spielt ein gewisses Misstrauen gegenüber anderen Menschen eine hinderliche Rolle.

- Die nachgiebig-ausnutzbare Persönlichkeit: Diese zweite Gruppe umfasst Menschen mit "nachgiebig-ausnutzbarem Vermeidungsverhalten" in zwischenmenschlichen Situationen. Das sind Personen, die sich durch andere ausgenutzt fühlen und denen es offenbar auch Mühe macht, anderen eine (selbstlose) Freude zu bereiten, wobei sie aber trotzdem nicht auf Distanz gehen und vor allem nicht "Nein" sagen können und deshalb als nachgiebig-ausnutzbar, wenn nicht gar missbrauchbar erscheinen.

Ob sich diese zwei Typisierungen wirklich scharf abgrenzen lassen, sei dahin gestellt. Offenbar aber gibt es verschiedene Variationsmöglichkeiten und vor allem Überschneidungen einschließlich entsprechender Übergänge zur Normalität (siehe unten).

Gibt es einen entscheidenden Belastungsfaktor?

Die Frage nach einem entscheidenden Belastungsfaktor ist rasch gestellt und scheint leicht beantwortbar. Ganz so einfach ist es allerdings nicht, auch wenn sich immer wieder das gleiche Belastungs-System wiederholt:

- grundlegende Angst vor negativer Beurteilung,

- Schüchternheit und durchgängiges Unbehagen im alltäglichen gesellschaftlichen Umgang.

Das äußert sich beispielsweise in ständiger Verlegenheit, leichtem Erröten, vor allem aber in der Vermeidung sozialer und insbesondere beruflicher Aufgaben bzw. Herausforderungen. Ausgeprägte Minderwertigkeitsgefühle und insbesondere das Vermeidungsverhalten im zwischenmenschlichen Bereich über längere Zeit führen schließlich zu ernsten Einschränkungen dessen, was man heute eine "soziale Kompetenz" nennt.

Oder kurz: Sich im Alltag zu behaupten, seinen Mann, seine Frau zu stehen, aus Misserfolgen zu lernen und Erfolge auch genießen zu können.

Übergänge zur Normalität

Dabei gibt es natürlich Übergänge zur Normalität: Es ist nicht falsch, seit jeher und vor allem in dieser unserer Zeit und Gesellschaft auch selbstkritisch und zurückhaltend bis vorsichtig zu sein. Es ist aber eine Frage der "Dosierung", inwieweit eine solche Haltung nützt oder behindert bis schadet.

Eine gewisse, möglicherweise über die Norm hinausgehende Sensibilität gegenüber Kritik und potentieller Zurückweisung findet sich auch bei (über-)selbstkritischer Wesensart. Auch dort kann es häufig bzw. für den Aufbau eines stabilen Selbstwertgefühles dazu kommen, dass die Betroffenen eigene Erwartungen und Vorstellungen über sich und ihre Umwelt infrage stellen und revidieren, sobald sie mit entsprechenden Schwierigkeiten konfrontiert werden.

Auch fallen diese Menschen dadurch auf, dass sie sich nicht gerne in den Vordergrund drängen, anderen lieber den Vortritt lassen und bei Konflikten eher um Ausgleich bemüht sind.

Das sind im Übrigen Eigenschaften, die den meisten durchaus zugute kommen (sollten), weiß man doch, dass es sich um "verträgliche", menschlich integre, selbstkritische, bescheidene (und damit gesellschaftlich-beruflich "ungefährliche") Mitmenschen handelt.

Der Übergang zum Krankhaften aber, also einer nicht nur selbstunsicheren, sondern auch ängstlich-vermeidenden Persönlichkeit(sstörung) besteht vor allem in dem seelisch tiefgreifenden Muster von sozialer Gehemmtheit, von Unfähigkeitsgefühlen und Überempfindlichkeit gegenüber negativer Beurteilung. Und dies nicht durch irgend einen Auslöser angestoßen, der vielleicht tatsächlich "traumatischen" (seelisch verwundenden) Charakter hat, sondern seit jeher, zumindest seit dem frühen Erwachsenenalter. Und im Übrigen so ausgeprägt, dass es zu negativen psychosozialen, d. h. partnerschaftlichen, gesellschaftlichen und beruflichen Konsequenzen kommen muss.

Was kann eine solche Störung auslösen?

Der wichtigste Aspekt, vor allem gegenüber der sozialen Phobie oder Sozialphobie (siehe später) ist der schon erwähnte Hinweis, dass dieses Verhaltensmuster bereits seit später Kindheit, zumindest aber seit der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter aufgetreten ist. Dies betrifft vor allem die grundlegende Unsicherheit im zwischenmenschlichen Kontakt sowie die Angst vor negativer Bewertung, Ablehnung oder Zurückweisung durch andere. Mit zunehmender Dauer und Vielfalt der Störungen kommt es dann zu dem zu erwartenden Teufelskreis bis hin zur Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, selbst alltägliche.

Dafür haben die Betroffenen dann eine Reihe durchaus einsichtiger Gründe, zumindest aus ihrer Sicht: So möchten sie keine unabhängigen Entscheidungen fällen, um nicht andere zu verletzen. Und durch den drohenden Kompetenz-Verlust im Alltag haben sie natürlich zunehmend Angst, sich auf enge Beziehungen einzulassen oder neue zwischenmenschliche Erfahrungen zu machen. Grundlage ist die subjektive Befürchtung, dass sie den ihnen verbliebenen "Rest an Selbstsicherheit" auch noch einbüßen würden, wenn sie engere Beziehungen eingehen, bei denen doch jederzeit Verletzungen, Kränkungen, Demütigungen und Beschämungen drohen (müssen).

Das führt natürlich zu einer Einstellung, die nicht nur unzufrieden macht, sondern auch missgestimmt, resigniert, ängstlich und deprimiert macht. Oder noch schlimmer: auf Außenstehende nicht nur wenig lebhaft, erfrischend, geistvoll, sondern auch zäh, stockend, matt, fad, leer, wenn nicht distanziert-unterkühlt bis misstrauisch, gelegentlich sogar feindselig erscheinend.

Und wenn der Betreffende sich zu einer Beziehung aufrafft, dann handelt es sich fast nur um vorsichtige Beziehungs-Versuche mit gleich wieder eingeleiteten Rückzugsmanövern. Das äußert sich dann in ständigen Beziehungsabbrüchen oder treffender: Beziehungs-Zusammenbrüchen und nährt die sich selbst erfüllende Prophezeiung: "Ich hab's ja gewusst".

Oder auf einen Nenner gebracht: ein Teufelskreis mit nachfolgender "Lebensverunstaltung" - und zwar dauerhaft, ohne Lerneffekt und damit letztlich "verheerender Schicksalhaftigkeit" (wenngleich hier nicht das Schicksal, sondern die eigene Wesensart die unselige Regie führt).

Hypothetische Ursachen zur selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung

Zur Frage, wie so etwas zustande kommt, gibt es verschiedene hypothetische Ansätze. Nachfolgend einige dazu in Stichworten (wobei man allerdings wissen muss, dass die Diagnose "selbstunsichere Persönlichkeitsstörung" erst seit wenigen Jahren offiziell eingeführt wurde, weshalb auch kaum größere Forschungsansätze dazu eingeleitet wurden und entsprechend praxis-relevante Untersuchungsergebnisse zur Verfügung stehen). Was diskutiert man im Einzelnen?

- Zwischenmenschliche Ansätze: Manche Wissenschaftlicher sind der Meinung, dass nicht wenige seelische Störungen, vor allem aber die selbstunsichere Persönlichkeitsstörung auf ein tief verwurzeltes Angstgefühl zurückgeht, und zwar als Ausdruck der Hilflosigkeit den elterlichen Erziehungspraktiken gegenüber. Die Folgen sind eine zunehmende Entfremdung, wenn nicht gar Feindseligkeit als natürliche Reaktion auf die in früher Kindheit erlebte Hilflosigkeit, später verstärkt durch den Teufelskreis dieser gehemmt-überempfindlichen Wesensart und die Reaktion der Umgebung. Und vor allem weil sich diese Menschen nicht getrauten ihre Gefühle der Hilflosigkeit, wenn nicht gar Feindseligkeit angstfrei zu artikulieren ("so etwas tut man nicht").

Andere Wissenschaftlicher deuten den sozialen Rückzug und die Vermeidung von zwischenmenschlichen Kontakten als Selbstschutzreaktion gegenüber einer Angst, die aus unbefriedigenden fundamentalen Bedürfnissen nach Liebe (Bindungsangst) und Selbstintegrität (autonom, selbständig sein dürfen) resultiere. Da die Betreffenden keine entsprechenden Kontakte eingehen ("zwischenmenschlicher Trainingsverlust), lassen sich durch Erfolg oder Misserfolg auch keine sinnvollen Lebens-Konzepte ausbilden. Dadurch kommt es über kurz oder lang zu einer Art Selbstentfremdung, die irgendwann durch eine noch verhängnisvollere Entfremdung gegenüber den anderen verstärkt wird.

Oder kurz: Man hat vermieden und schließlich verlernt, sich zwischenmenschlichen Kontakten auszusetzen, sie durchzustehen und aus ihnen zu lernen. Dadurch gerät man in einen immer stärkeren zwischenmenschlichen Entwicklungsrückstand und kann am Schluss tatsächlich nicht mehr "mithalten".

- Biosoziale Lerntheorien: Immer häufiger werden aber auch so genannte biogenetische Ursachen diskutiert, vor allem eine persönlichkeitstypische Vulnerabilität (= Verwundbarkeit) in Form innerer Unruhe, Anspannung, Nervosität und damit mangelhafter Reagibilität und schließlich Verletzbarkeit.

Oder kurz: Eine genetische Prädisposition (erblich bedingte Anlage), die bei ungünstiger Kombination durch die drohenden psychosozialen Konsequenzen im Alltag schließlich lebenslang belastet.

So wird beispielsweise diskutiert, dass solche Menschen bereits als Kind entweder durch ein höchst "überdrehtes" bis reizbares zwischenmenschliches Kontaktmuster auffallen oder durch ein verschlossenes und in sich gekehrtes Verhalten irritieren. Die Folgen sind in beiden Fällen Zurückweisung, Abwertung, ja Ablehnung, ständige Kritik, Missbilligung, Einschränkungen, Benachteiligungen u.a.

Unter solchen und ähnlichen Erziehungsbedingungen würde sich die Persönlichkeitsentwicklung eines solches Kindes fast zwangsläufig in Richtung Ängstlichkeit und soziale Vermeidung sozialer Herausforderungen bewegen. Die natürlichen Energien und Möglichkeiten seien dadurch bald erschöpft. Die Zurückweisungen und Abwertungen mündeten notgedrungen schließlich in eine Selbstabwertung und Selbstentfremdung. Und dies alles führe schließlich dazu, dass Freundschaften und soziale Bindungen kontinuierlich gemieden würden oder zumindest zunehmend angstbesetzt seien, was letzten Endes auch zu der verhängnisvollen Vermeidungs-Strategie beitrage.

Tatsächlich haben bestimmte Studien gezeigt, dass Menschen mit stark ausgeprägten sozialen Ängsten ihre eigenen zwischenmenschlichen Fähigkeiten erheblich unterschätzen, sich überwiegend an unangenehme soziale Interaktionen ("beschämende Kontakte") erinnern und in Stress-Situationen häufig ungünstige und vor allem selbstbezogen-negative Gedanken entwickeln.

Aus diesem Grunde sind sie schon psychophysiologisch (seelisch-körperlich) in ein ständig angehobenes bis krankhaft überhöhtes Erregungsniveau eingebunden, was sich in selbst harmlosen zwischenmenschlichen Situationen extrem steigern kann, eine Art seelisch-körperlicher Teufelskreis.

Unter diesen Voraussetzungen - das sei schon jetzt vorweg genommen - empfehlen sich in therapeutischer Hinsicht vor allem einleitende Entspannungsübungen, um das überzogene körperliche Anspannungsniveau zu reduzieren, bevor man im Gespräch auf die ja zudem meist als unangenehm empfundenen Details des Alltags zu sprechen kommt.

- Kognitions-theoretische Ansätze: Auch hier geht es um zwei Ebenen, nämlich eine möglicherweise biologische (z. B. erbliche, auf jeden Fall organisch fixierte) Empfindsamkeit, später aber erschwert durch eine erzieherisch beeinflusste zwischenmenschliche Verwundbarkeit. So sollen die Betroffenen im Laufe ihrer Entwicklung dazu neigen, zwischenmenschliche Gefahrensituationen und Krisen grundsätzlich oder zumindest überzogen als bedrohlich und gefahrvoll einzustufen. Damit haben sie einen Grund, sich zum Schutz ihrer Empfindsamkeit vor entsprechenden Risiken zu scheuen - gehen aber auch im Erfahrungsbereich ständig leer aus, werden doch dauernd neue Erfahrungen und vor allem die dafür notwendigen Lösungsansätze vermieden.

Schließlich kann sich sogar diese Einstellung verselbstständigen, d.h. der Betroffene konstruiert eine zwar realitätsferne, für sich aber charakteristische Empfindsamkeit, wobei wissenschaftlich ausgedrückt - folgende Aspekte eine Rolle spielen können:

  • eine zentrale Angst vor Ablehnung vermeintlicher Mängel
  • eine übermäßige Neigung zur Selbstkritik
  • eine zu hohe Erwartung oder zu weitreichende Ansprüche an die Möglichkeiten und Perspektiven zwischenmenschlicher Beziehungen
  • eine durchgängige Fehleinschätzung der Bedrohlichkeit durch andere
  • eine gewohnheitsmäßige Abwertung positiver Informationen.

Oder kurz: Zu selbstkritisch, hält sich für unzureichend, mangelhaft, unattraktiv, meint, die anderen sehen das auch so, weshalb er sich lieber (ängstlich) bedeckt halten sollte, fühlt sich gelegentlich sogar bedroht und neigt vor allem dazu, selbst positive Rückmeldungen nicht ernst zu nehmen oder gar abzuwerten.

Selbstunsichere Persönlichkeit - was könnte es sonst noch sein?

Zur Frage der so genannten Differentialdiagnose, d. h.: was könnte es sonst noch sein? ist vor allem an zwei Krankheitsbilder zu denken, nämlich 1. die schizoide Persönlichkeitsstörung und 2. die soziale Phobie. Im Einzelnen:

- Abgrenzung zur schizoiden Persönlichkeitsstörung: Einzelheiten zur schizoiden Persönlichkeit siehe das entsprechende Kapitel. Manche Wissenschaftler sind der Meinung, es handle sich bei dieser Persönlichkeitsstörung lediglich um eine Variante der selbstunsicher-vermeidenden Persönlichkeit. Andere sind der Ansicht, bei beiden Formen handele es sich um das Gleiche, mit unterschiedlichem Schwerpunkt.

Inzwischen neigt die Mehrzahl der Experten dazu, tatsächlich zwei verschiedene Krankheitsbilder anzunehmen. Dabei ist es vor allem die Angst vor zwischenmenschlichen Kontakten und ihre (befürchteten negativen) Folgen, die den leidvollen Lebensinhalt der selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung ausmachen. Und hier vor allem die Angst vor öffentlicher Kritik und drohender Zurückweisung, und zwar in einer Form, wie sie bei Patienten mit schizoider Persönlichkeitsstörung nicht so ausgeprägt sind, falls überhaupt.

- Abgrenzung zur sozialen Phobie: Sehr viel mehr Probleme macht die Unterscheidung gegenüber der sozialen Phobie oder Sozialphobie, also der "Angst vor dem anderen schlechthin". Tatsächlich dürfte es eine nicht unerhebliche Zahl von Betroffenen geben, die beide Leiden bzw. Diagnosen auf sich vereinigen (Fachbegriff: Ko-Morbidität, d. h. Erkrankung an zwei oder gar mehreren Leiden gleichzeitig). Doch es gibt bedeutsame, insbesondere für den Alltag relevante Unterschiede:

- Danach haben Sozialphobiker zumeist eng umschriebene Phobien (Zwangsbefürchtungen), beispielsweise vor Prüfungen, vor öffentlichem Auftreten, in Menschenansammlungen u.a.

- Dagegen ist die Zahl der ängstigenden Sozialsituationen bei selbstunsicheren Persönlichkeitsstörungen erheblich größer. Und sie betrifft zugleich die unterschiedlichsten beruflichen und privaten Bereiche.

- Im Gegensatz zur Sozialphobie reicht die Entwicklung der selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung in der Regel "ohne Grund" bis in die Kindheit zurück. Dagegen geht die Sozialphobie zumeist auf ein traumatisierendes Erlebnis (seelisch und psychosozial verwundend) zurück, und zwar entweder im Erwachsenenalter oder in Jugend bzw. Kindheit.

An ein solcher Ereignis kann sich der selbstunsichere persönlichkeitsgestörte Patient also nur selten erinnern und wenn, dann scheint es eine eher vorgeschobene Erklärung zu sein.

- Auch wird die soziale Phobie eindeutiger ich-dyston erlebt, d. h. mit der eigenen Wesensart nicht im Einklang befindlich, irgendwie fremd, nicht zur eigenen Persönlichkeitsstruktur gehörig. Dagegen geben nicht wenige selbstunsichere Menschen zu, dass sich ihr mit Angst und Vermeidung verknüpftes Verhaltensmuster durchaus ich-synton darstellt, also im Einklang mit ihrer Wesensart ("gehört trotz allem irgendwie zu mir").

- Auch verharren Personen mit ängstlich-vermeidender Persönlichkeit zumeist in einem ungelösten zwischenmenschlichen Konflikt. So lassen sie sich nicht gerne auf vertrauensvolle, möglicherweise sogar intime Beziehungen ein, um sich "nicht selbst zu verlieren". Oder auch um sich nicht allzu "selbstsicher und unabhängig" zu geben, damit sie andere damit nicht verletzen können, was ihnen ausgesprochen peinlich wäre. Das aber sind ohnehin ungewöhnliche Ansichten, die selbst dem Patienten mit einer Sozialphobie eher fremd sind.

Gesamthaft gesehen aber ersieht man aus diesen wissenschaftlich erarbeiten Unterscheidungskriterien sehr wohl, dass es nicht nur Abgrenzungs-Schwierigkeiten und Überschneidungen gibt, sondern dass das letzte Wort in dieser Hinsicht auch wissenschaftlich noch nicht gesprochen ist.

Was kann man tun?

Auch wenn es so manche Differenzierungs-Schwierigkeiten geben mag, eines bleibt doch tröstlich: Die Therapie ist bei den verschiedenen, möglicherweise sich überlappenden Krankheitsbildern weitgehend gleich. Was steht also zur Verfügung? Nachfolgend eine kurzgefasste Übersicht (Einzelheiten siehe Fachliteratur):

Möglich, wenngleich eher selten ist im Rahmen einer Psychoanalyse (siehe diese) eine Fokal-Therapie, eine psychoanalytische Kurzzeit-Therapie oder die Langzeitbehandlung mit dem Couchsetting, also die klassische Situation des liegenden Patienten mit dem Therapeuten am Kopfende. Bei der so genannten Interpersonellen Psychotherapie wird gelegentlich zur Verstärkung der Lernerfahrung auch psychoedukativ vorgegangen, d. h. zwischen den Psychotherapie-Sitzungen im direkten Lebensumfeld übend.

Das leitet zur Verhaltenstherapie über, die immer häufiger genutzt wird. Gerade soziale Unsicherheiten, Sozialphobien und sonstige soziale Ängste gehören zu den bestuntersuchten Störungsbereichen im Rahmen einer Verhaltenstherapie. Deshalb gibt es nach Ansicht vieler Fachleute hier die am weitesten ausgearbeiteten Therapiekonzepte, auch an Patienten mit selbstunsicherer Persönlichkeitsstörung.

Mittelpunkt einer solchen Behandlung ist das Training sozialer Fertigkeiten, das zumeist in Therapiegruppen durchgeführt wird (siehe unten). Dazu gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Techniken, z. B. (in der Fachsprache): Verhaltenseinübung, Modellvorgabe, direkte Instruktionen, gezielte Hilfestellungen, Verhaltensrückmeldungen, Rollenspiele, Video-Feedback, direkte Übungen in Alltagssituationen u.a.

Die Erfolge sind teils ermutigend, teils begrenzt. Besonders die Gefühle von Einsamkeit und Alleingelassensein scheinen sich auch durch ein intensives Sozialtraining nicht in jedem Fall so beeinflussen zu lassen, dass man am Schluss der Therapie von "Normalität" sprechen könnte. Aber auch eine Milderung der psychosozialen Beeinträchtigungen im Alltag kann gerade bei Persönlichkeitsstörungen als ein erfreulicher (Teil-)Erfolg gewertet werden.

Vor allem diese Erkenntnis lässt mitunter eine parallel laufende Behandlung von Gruppen- und Einzeltherapie sinnvoll erscheinen. In Letzterer kann vor allem intensiver an allgemeine Lebensprobleme und Lebensziele des Patienten herangegangen werden. Aufgrund der ja tiefen Unsicherheit muss man dem Patienten mitunter längere Zeit und auch persönliche Möglichkeiten einräumen, sich mit der Realität der eigenen Unsicherheit und Widersprüche auseinander zusetzen. Dies wiederum lässt sich eher in einzeltherapeutischen Gespräche realisieren, wenngleich unterstützt durch die erwähnte Gruppentherapie. Entscheidend ist offenbar die Kombination aus einsichts-orientierter Therapie sowie Einübung "prosozialer Autonomie".

In nicht wenigen Fällen ist es also nicht sinnvoll, allzu lange "einsichts-orientiert" zuzuwarten, bis sich die gesellschaftliche Autonomie langsam zu entfalten beginnt. Erfolgreicher ist eine möglichst frühzeitige wechselseitige Verstärkung dieser beiden Behandlungsstrategien - so die neueren Erkenntnisse.

Ob sich das im Alltag von Klinik und Praxis auch durchsetzen lässt, zumindest in absehbarer Zeit, wird allerdings von manchen Wissenschaftlern bezweifelt. Doch gerade die selbstunsichere Persönlichkeitsstörung wäre ein schönes Beispiel für die (wiederentdeckte) Möglichkeit, unterschiedliche therapeutische Strategien und Methoden zeitgleich durchzuführen.

Dies vor allem im Interesse einer Gruppe von Patienten, die von ihrem Leiden zwar "lautlos", im Grunde aber besonders hart beeinträchtigt, weil vor allem in ihrer zwischenmenschlichen Entfaltung einschließlich beruflicher Konsequenzen benachteiligt sind.

LITERATUR

Sehr spezielles Thema, das erst in den letzten Jahren detailliert untersucht und bearbeitet wurde, inzwischen aber eine wachsende Zahl von wissenschaftlichen Publikationen bietet.

Grundlage vorliegender Ausführungen ist das spezielle Kapitel in

P. Fiedler: Persönlichkeitsstörungen. Beltz-PVU, Weinheim 2001

In diesem Standardwerk findet sich auch eine sonst nirgends zu findende Fülle von (auch deutschsprachiger) Fachliteratur zum Thema Persönlichkeitsstörungen im Allgemeinen und zur selbstunsicheren und ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung im Speziellen.

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).