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Seelische Störungen bei Tieren?

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Trauer - Depression - manische Hochstimmung - Selbsttötungsversuche

Jeder kennt rührende Tiergeschichten. Doch die konkrete Frage, inwieweit Trauerreaktionen, Depressionen, manische Hochstimmung oder gar Selbsttötungshandlungen bei Tieren vorkommen, ist wissenschaftlich nicht leicht zu beantworten.

Nachfolgend eine etwas ausführlichere Darstellung zu einem Thema, das zu gegebenem Anlass in der Allgemeinheit so manche Betroffenheit auslöst. Die Experten aber, insbesondere die tierpsychologisch arbeitenden Fachleute sind hier vorsichtiger, was die Interpretation entsprechender Verhaltensweisen anbelangt.


Erwähnte Fachbegriffe und Hinweise:

Tierverhalten - tierpsychologische Forschung - tierliches Angstverhalten - Aggressivität - soziale Auslöser - Rangordnung - räumliche Bindung - Fremdheit - Vertrautheit - Prägung - Fixierung - motorische Stereotypien - Mutter-Kind-Beziehung - Triebkonflikte - Regression - Raumvertrautheit - Trauerverhalten - Depression - Partnerverlust - apathische Depression - Toten-Betrauerung - früher Mutterverlust - anaklitische Depression - Erregungszustände - Nahrungsverweigerung - Wasserverweigerung - Isolationsneigung - Stress-Situationen - manisches Verhalten - Apathie - reaktive Depression - Schock der Verlassenheit - äußerliche Veränderungen durch Depression oder Manie - Verliebtheit - Selbsttötungsversuche - Suizid - Massensuizid - selbstlose Aufopferung - Altruismus - Aussiedlungs-Instinkt - Suizidmission - stressbedingte Störungen - autodestruktive Verhaltensweisen - selbstzerstörerisches Verhalten u.a.m.

Einerseits erliegt man gerne der Versuchung, Tierverhalten als einfach strukturiert und gleichförmig abzutun. Andererseits interpretiert man - beeindruckt durch erstaunliche Parallelen im Verhalten von Mensch und Tier -, in manche tierliche Reaktionen mehr hinein, als von der Natur angelegt ist. Auch darf man nicht vergessen, dass man es in der Tierwelt mit Tausenden von Arten, dazu noch auf ganz verschiedenen Organisationsstufen zu tun hat.

Noch komplizierter wird die Situation dadurch, dass der Grad der Differenziertheit nicht parallel zur Organisationsstufe laufen muss. So haben beispielsweise die Beobachtungen von Prof. Dr. Konrad Lorenz an einer Vogelart, die ansonsten für nicht viel Aufsehen sorgt, nämlich der Graugans erstaunliche, fast schon menschlich anmutende Verhaltensweisen ergeben, die denen der höchsten Säugetiere kaum nachstehen (siehe später).

Tierpsychologische Forschung

Die tierpsychologische Forschung hat inzwischen große Fortschritte gemacht. Dies gilt vor allem für die thematischen Schwerpunkte: Angstverhalten, Aggressivität, soziale Auslöser und Rangordnung, räumliche Bindung, Fremdheit und Vertrautheit, Prägung und Fixierung, motorische Stereotypien (z. B. einförmige Bewegungsabläufe), Mutter-Kind-Beziehung, ja sogar Triebkonflikte, Triebstauungen, Homosexualität sowie die Fortdauer von kindlichen Triebhandlungen und von Regression (Rückschritt in infantile Verhaltensweisen). Doch die Erkenntnisse über depressive Zustände sind noch begrenzt.

Dies ist nachvollziehbar. Denn dort, wo solche Forschungen erst ihren Sinn bekommen, nämlich nicht bei domestizierten (gezähmten), sondern frei lebenden Wildtieren, sind solche differenzierten tierpsychologischen Untersuchungen ausgesprochen schwer zu realisieren. Außerdem leuchtet jedem ein, dass in der gefahrvollen Freiheit, wo stets Feinde drohen, jedes Tier ständig "voll da sein muss" und sich keine passiven Phasen der Zurückgezogenheit leisten kann, wie es der bekannte Schweizer Tierpsychologe und Zoodirektor Prof. Dr. H. Hediger einmal ausdrückte.

Selbst im Zoo sind ernstere depressive Zustände kaum zu registrieren, am ehesten noch nach Umsetzungen, d. h. nach erzwungenem Raumwechsel. Dabei kann mit vorübergehender Zurückgezogenheit und geringer Aktivität reagiert werden, bis die Raumvertrautheit wieder hergestellt ist. Darin aber ein depressives Verhalten zu sehen, halten die Tierpsychologen für zu gewagt.

Trauerverhalten

Etwas anderes ist es offenbar mit Trauerreaktionen. Auch hier ist unser Wissen über das Trauerverhalten bei Tieren aber noch immer bruchstückhaft, da letztlich systematische Untersuchungen fehlen. Immerhin scheint auch im Tierreich der beim Menschen stärkste Belastungsfaktor, der Partnerverlust, zu vergleichbaren Folgen zu führen. Das ist jedoch von Tierart zu Tierart unterschiedlich. Auch sind nur wenige, und dann zumeist noch domestizierte Arten gründlich genug untersucht.

Verlieren monogam, d. h. nur an einen einzigen gebundenen Tiere ihren Partner, so suchen sie lange Zeit nach ihm und stoßen unentwegt Lockrufe aus. Schließlich folgt eine Phase der "apathischen Depression": Die Tiere bewegen sich nur noch langsam oder überhaupt nicht mehr. Manche liegen da wie tot, erklärte die ehemalige Zoodirektorin und Tierpsychologin Prof. Dr. Monika Meyer-Holzapfel.

Auch über das Trauerverhalten wildlebender Elefanten liegen zahlreiche Berichte vor, wonach sich ganze Herden um ein sterbendes Tier sammeln. Nicht selten wird der Tote mit Erde und Zweigen bedeckt. (Allerdings gilt dies überwiegend für Jungtiere und weibliche Herdenangehörige. Elefantenbullen werden nach der Geschlechtsreife von der Herde abgedrängt und nur während der Paarungszeit und auf der Wanderung in der Gemeinschaft geduldet. Sie sterben dann auch meistens allein.)

Der frühe Mutterverlust

Die ernsteste seelische, psychosoziale und sogar körperliche Beeinträchtigung in einem Tierleben ist der frühe Mutterverlust: Dies betrifft nicht nur die uns näherstehenden Säugetiere (z. B. Affen), sondern sogar Vögel. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das seit Jahrzehnten von Konrad Lorenz sorgfältig beobachtete Verhalten der Graugans, die sich allerdings in dieser Hinsicht auch als besonders ergiebiges Forschungsobjekt erwiesen hat.

Wenn man ein einzelnes Gänseküken isoliert von seinen Artgenossen großzieht, so beobachtet man an einem solchen Unglückswesen eine Reihe von kennzeichnenden Störungen des Verhaltens zur Umwelt, die denjenigen ähneln, die man an hospitalisierten und eines ausreichenden sozialen Kontaktes beraubten Menschenkindern festgestellt hat (Fachausdruck: anaklitische Depression - siehe unten). Ein solches Wesen verliert nicht nur die Fähigkeit, sich aktiv mit den Reiz-Situationen seiner Umwelt auseinander zusetzen, sondern trachtet auch danach, sich allen Außenreizen nach Möglichkeit zu entziehen. Gänse, die man in dieser Weise seelisch verkrüppeln lässt, setzen sich so, dass sie mit dem Schnabel in einen Winkel des Zimmers schauen. Sind sie zu zweit, blickt jeder - vom anderen abgekehrt - stumm in eine Ecke.

Hier ist die Analogie zwischen der früher in den Findelanstalten wütenden anaklitischen Depression von Waisenhauskindern und dem Verhalten dieser Versuchstiere geradezu erschütternd. Immerhin ist eine derart seelisch geschädigte Gans wieder heilbar, wenn auch die seelische Wiederherstellung Jahre in Anspruch nehmen kann.

Ähnliche Studienergebnisse ergaben sich für junge Rhesusaffen, die ein ausgeprägtes Verhältnis zur Mutter hatten und über drei Wochen von ihr getrennt wurden. Auch hier zeigten manche von ihnen bestimmte Verhaltensstörungen, die der Beschreibung der anaklitischen Depression sehr ähneln: zuerst trotzig-verzweifelter Protest und Erregungszustände sofort nach der Trennung, nach einigen Tagen wachsende Zurückgezogenheit, reduzierte Lautbildung, Nahrungs- und Wasserverweigerung, schließlich Isolationsneigung und apathisch-depressives Verhalten, das sogar zum Tode führen kann.

Inzwischen weiß man, dass nicht jede Trennung von der Mutter zu solchen Reaktionen führen muss. Manche Rhesusaffen werden bei jeder Trennung "depressiv", andere trotz ähnlichem Hintergrund nie. Erstaunlicherweise kann man die einen von den anderen nicht unterscheiden, solange sie in stabiler, stressfreier Umwelt leben. In Stress-Situationen werden solche verletzlichen (Fachausdruck: vulnerablen) Opfer offenbar schneller erkannt. Diese Schwäche kann schon in jungen Jahren zum Ausdruck kommen (sogar im ersten Monat), oder auch erst später.

Dies erinnert wieder an die alte Erkenntnis, dass beim "Menschenkind" der frühe Verlust der Mutter (in manchen Untersuchungen auch des Vaters) bis etwa zum Beginn der Pubertät zwar nicht als charakteristische, zumindest aber nicht seltene Vorbedingung für den späteren Ausbruch eines depressiven Zustands genannt wird. Auch hier ist man der Meinung, dass zu dieser frühen seelischen und psycho-sozialen Verwundung in späteren Jahren ein "Zusatzstress" kommen muss, um das depressive Krankheitsbild auszulösen.

Auf jeden Fall können - wie beim Menschen auch - derart geschädigte junge Rhesusaffen durch entsprechende Zuwendung wieder einigermaßen stabilisiert werden. Sogar Antidepressiva, also stimmungsaufhellende Psychopharmaka können dabei hilfreich sein.

Der Partnerverlust im Tierexperiment

Ähnlich bedeutungsvoll ist der Partnerverlust. Wenn nach Konrad Lorenz einer Graugans der Partner genommen ist, wird sie zu einem "pathologischen Zerrbild ihrer selbst". Offenbar gelten auch hier vergleichbare Regeln wie beim Menschen:

Je länger ein Graugans-Paar glücklich verheiratet war, desto schwerer fällt es dem Überlebenden, nach Verlust des Gatten eine neue Bindung einzugehen. Dabei scheinen die Weibchen ausgeprägter betroffen als die Männchen. So wird von verwitweten Gänsen berichtet, die lebenslang völlig einsam und geschlechtlich inaktiv blieben. Von (männlichen) Gantern soll man derlei kaum beobachtet haben.

Als erste Reaktion versucht die Graugans den verschwundenen Partner mit aller Macht wiederzufinden. Sie ruft Tag und Nacht den dreisilbigen Distanzruf, läuft aufgeregt im gewohnten Gebiet umher, besonders an den Lieblingsplätzen des Vermissten, dehnt ihre Suchexkursionen immer mehr aus und fliegt immer größere Gelände ab. Jede Kampfbereitschaft ist mit dem Verlust des Partners erloschen. Die vereinsamte Gans wehrt sich nicht mehr gegen die Angriffe ihrer Artgenossen, flieht vor den Schwächsten und Jüngsten und sinkt, da sich ihr Zustand in der Kolonie rasch "herumspricht", sofort auf die tiefste Stufe der Rangordnung ab. Die Schwelle aller fluchtauslösenden Reize ist erheblich herabgesetzt. Der Vogel zeigt sich jetzt nicht nur den Artgenossen gegenüber völlig "feige", er erschrickt auch über alle von der Außenwelt kommenden Reize mehr als sonst. (Dem Menschen gegenüber bisher zahme Gänse können dabei völlig scheu werden. Doch gibt es auch Berichte, dass sich derart vereinsamte Vögel erneut eng an ihren Pfleger anschlossen, obgleich sie ihm zuvor keinerlei Beachtung mehr zollten.)

Bekannt ist auch das "depressive" oder übellaunige Wesen von Menschenaffen nach der Trennung von ihrem Partner oder von befreundeten Artgenossen, das stark an menschliche Reaktionen erinnert. Dabei sind allerdings auch die ausgeprägten sozialen Bindungen dieser hochstehenden Säugetiere zu berücksichtigen, die in der alten Erkenntnis gipfeln: "Ein Schimpanse allein ist überhaupt kein Schimpanse". Auf jeden Fall wehren sich die so Betroffenen mit Schreien und Wutausbrüchen und versuchen verzweifelt, zu ihrem Partner zurückzukehren. Dabei können alle Körperfunktionen durcheinander geraten. Nach und nach folgt eine Phase der "Depression" und des gestörten, nicht voraussagbaren Verhaltens wie Rückzug, Isolationsneigung, psychomotorische (seelisch-körperliche) Unruhe, Zurückweisung von Artgenossen bis hin zu aggressiven Durchbrüchen usw. In Modellversuchen kommen dazu noch Leistungsdefizite bei Aufgaben, die später erlernt wurden bzw. die stimmungsabhängig sind sowie ein Rückgang der Spontaneität und Aktivität. Möglicherweise scheinen diese Symptome auf stimmungsaufhellende Antidepressiva und sogar Elektroschockbehandlung (EKT) anzusprechen.

Eine ähnliche Reaktionsweise zeigt auch der sibirische Zwerghamster nach Partnertrennung. Dessen "depressives Syndrom" äußert sich neben psychomotorischer Hemmung und Isolationsneigung vor allem in Übergewicht ("Kummerspeck"?). Auch hier sollen im Laborversuch Antidepressiva nützlich sein.

Trauerverhalten von Hunden

Bekannt und von Literatur und Medien reichlich ausgeschlachtet ist das verzweifelte Such- und Trauerverhalten von Hunden, die "Herrchen" oder "Frauchen" verloren haben. Von Art und Ausmaß dieser Reaktion her erinnert diese Reaktion in der Tat mitunter an eine schwere reaktive Depression. Sie kann agitiert (unruhig, nervös, gespannt) sein, wobei die Tiere niemandem mehr gehorchen oder gar wild werden. Es kann aber auch zur psychomotorischen Hemmung kommen bis hin zur Apathie (Gefühllosigkeit, Teilnahmslosigkeit).

Fast schon klassisch ist die (in Einzelfällen als tödlich geschilderte) Verweigerung von Nahrung. Auch lassen sich die Tiere in der Regel nicht durch andere Menschen "trösten".

Handelt es sich nicht um den Tod, sondern lediglich um eine (längere) Abwesenheit von "Herrchen" oder "Frauchen", sind die Hunde manchmal zunächst unfähig, auf die Rückkehr adäquat zu reagieren. Sie scheinen ihn/sie nicht wiederzuerkennen. Der erlebte Schock des Verlassenseins sitzt ihnen noch in den Gliedern. Auch hier liegen eindrucksvolle Parallelen zu Kindern vor, deren Mutter nach längerer Abwesenheit zurückkehrt.

Wenn auch die Reaktion von Hunden emotional bewegt, so darf man doch nicht vergessen, dass es sich hier um domestizierte Tiere und vor allem um einen gefühlsmäßig an den Menschen besonders eng gebundenen tierischen "Partner" handelt.

Krankhafte Hochstimmung bei Tieren?

Gibt es relativ wenige fundierte Erkenntnisse über depressive Zustände beim Tier, so lässt sich in Bezug auf die krankhafte Hochstimmung, die Manie, verständlicherweise noch weniger finden. Im Analogieschluss zum manischen Syndrom des Menschen (Einzelheiten siehe das ausführliche Kapitel über die Manie) wären solche Tiere in freier Wildbahn genauso gefährdet wie durch eine Depression. Ihr umtriebiges, krankhaft neugieriges und damit unvorsichtiges, sexuell unkontrolliertes usw. Verhalten müsste sie rasch in kritische, ja lebensbedrohliche Situationen bringen.

Ein aus (einseitig) menschlicher Sicht maniformes Verhalten (also eine zwar krankhafte, aber wenigstens leichtere Hochstimmung), das aber ganz natürliche Ursachen hat, lässt sich beispielsweise bei bestimmten Wildtieren feststellen. Die zeigen nämlich nach einer belastenden Trockenperiode während der heißersehnten Regengüsse plötzlich überschäumende Lebensfreude - allerdings auch erst, nachdem der Witterungsumschwung anfangs reaktionslos, fast unverändert stumpf-apathisch hingenommen wurde.

Die Reaktion dieser Tiere wirkt zwar manchmal überzogen, ist aber genauso wenig krankhaft wie das bisweilen sonderbar anmutende Liebeswerben, das vor allem wieder Konrad Lorenz für die Graugans treffend schildert: ... jede Bewegung wird mit übertriebenem Kraftaufwand vollführt, das Auffliegen, das sonst einen schwierigen "Entschluss" bedeutet, fällt dem Verliebten so leicht, als wäre er ein Kolibri, er fliegt kleinste Strecken, die jede vernünftige Gans zu Fuß gehen würde und fällt rauschend und mit Triumphgeschrei bei der Angebeteten ein. Im Bremsen und Beschleunigen gefällt sich der Ganter genauso wie ein Halbstarker auf dem Motorrad und auch im Suchen von Händeln verhält er sich ... sehr ähnlich wie ein solcher."

Äußere Aspekte von Depression und Manie

Dass ein (vor allem endogen) Depressiver äußerlich regelrecht "verfallen" kann, ist jedem Angehörigen und Arzt bekannt (Einzelheiten siehe Teil 1 der Depressions-Serie). Dass dies bei Tieren ähnliche Auswirkungen zu haben vermag, ist dagegen überraschend. Und dies nicht nur bei den uns ähnlichen Primaten (Menschenaffen), sondern sogar bei der Graugans, die allerdings in der Verhaltenspsychologie eine besondere Rolle einnimmt. Dazu wieder Konrad Lorenz:

"Genau wie das menschliche Antlitz, vor allem die Umgebung der Augen, bei längerem Bestehen der depressiven Zustände "vom Schicksal" mit dauernden Runen gezeichnet wird, so geschieht das auch beim Gesicht einer Graugans.

Hier wie dort ist es besonders die untere Umrandung der Augen, die durch eine lang anhaltende Senkung des Sympathikotonus (Muskelspannung durch entsprechende Nerven-Aktivität) eine Veränderung erfährt, die wesentlich für den Ausdruck der "Vergrämtheit" ist." Und Lorenz schildert den Besuch eines Kollegen, der nichts von der Vorgeschichte einer derart gezeichneten "depressiven" Graugans wusste und beim Spaziergang durch die Tier-Kolonie plötzlich auf diese zeigte und sagte: "Diese Gans muss besonders schweres durchgemacht haben!" Er hatte Recht, das Tier hatte seinen Partner verloren und alle oben geschilderten persönlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen durchlitten - einschließlich der sichtbaren Folgen.

Und umgekehrt berichtet Lorenz von verliebten Gantern, die natürlich nicht manisch sind, aber doch im äußeren Habitus das Gegenstück zur Trauer aufweisen: "Es ist mir passiert, dass ich einen wohlbekannten Ganter buchstäblich nicht wiedererkannte, als er von gestern auf heute "in Liebe gefallen" war. Der Muskeltonus ist erhöht, wodurch eine kraftvoll gespannte Haltung entsteht, die sämtliche Konturen des Vogels verändert ..."

Dazu jetzt der Sprung vom Tier zum Menschen: Welche betroffenen Angehörigen bzw. welcher Arzt in Klinik oder Praxis kennt nicht den erschütternden bzw. faszinierenden Unterschied in Mimik, Gestik, Sprache usw. beim Umschlagen von einer Depression in eine Manie bzw. umgekehrt.

Selbsttötung bei Tieren?

Wenn es also Trauerreaktionen im Tierreich gibt, die mitunter schon an reaktive Depressionen oder depressive Entwicklungen erinnern, gibt es dann nicht auch selbstzerstörerisches Verhalten? Als häufiges Beispiel dient der Hund auf dem Grab seines Herrn, der dort verhungern müsste, wenn man ihn nicht mit Gewalt entfernen würde. Oder die Reaktion mancher Wildtiere in plötzlicher Gefangenschaft bzw. gar die "Massenselbstmorde" von Wal-Familien oder den berühmten Lemmingen.

Doch als erstes steht diesen Beispielen die Definition des Suizids, der Selbsttötung entgegen (siehe das entsprechende Kapitel). Suizidales Verhalten setzt die bewusste Vorstellung von Leben und Tod voraus. Dies wird allen Tieren abgesprochen, auch den sogenannten höheren Arten.

Zweitens ist der Suizid eine rein menschliche Verhaltensweise, die ein beabsichtigtes, freiwilliges Zerstören des eigenen Lebens bedeutet. Doch bei Tieren kann von höheren Funktionen und vom Durchdenken der Tat kaum die Rede sein. Auch können sich Tiere nur auf gewisse Weise verletzen, während dem Menschen eine breite Palette von Selbstvernichtungsmöglichkeiten zur Verfügung steht.

Trotzdem gibt es sogar in der Natur Tiere, die sich selbst schädigen, ja sogar töten. Zwar sind selbstzerstörerisches und suizidales Verhalten keine bedeutungsgleichen Begriffe, doch die Grenzen sind oft fließend. Auch spielen beim Menschen nicht nur psychosoziale (z. B. schicksalhafte), sondern auch hereditäre (erbliche) und/oder biochemische Faktoren eine Rolle, wie man inzwischen weiß. So ist der nicht seltene Suizidversuch oder Suizid eines Patienten, in dessen Verwandtenkreis schon einmal das Gleiche passiert ist, zwar einerseits psychologisch zu erklären ("Sogeffekt", "eingerissene Mauer"), was sich im Übrigen auch auf Freunde, Bekannte oder sogar Agenturmeldungen über Fremde erstreckt. Zum anderen scheint diese hereditäre Belastung aber auch partiell auf biochemischen Gemeinsamkeiten zu beruhen (z. B. veränderte Serotoninwerte), die gleichsam als Basis dieser erblichen Veranlagung fungieren. Dies wäre beispielsweise auch eine Erklärung für die ganz ungewöhnlich hohe Suizidrate der Ungarn, die auf diesem traurigen Gebiet weltweit und mit Abstand führen und die man zumindest für eine bestimmte Population als genetisch mitbestimmt vermutet.

Was die Selbstzerstörung (oder treffender: Selbstaufgabe) bei Tieren anbelangt, so finden sich in der Naturbeobachtung vor allem drei Verhaltensweisen, die einen Teil solcher Geschehnisse erklären können: 1. Altruismus, 2. Aussiedlungs-Instinkt und 3. Stress-Situationen. Im Einzelnen:

  • Selbstlose Aufopferung

Altruismus oder selbstlose Aufopferung zum Wohl und Schutz der Gemeinschaft ist im Tierreich weit verbreitet. Das Ziel, eigenes Erbgut in die nächste Generation weiterzugeben ist u. U. dadurch besser zu erreichen, wenn die eigene Fortpflanzung zugunsten naher Verwandter mit zahlreichen gemeinsamen Genen zurückgestellt wird. Auf konsequente Weise praktizieren dies die staatenbildenden Insekten, bei denen die Fortpflanzung allein von der Königin und bestimmten fruchtbaren Männchen abhängt. Die große Mehrheit der Gemeinschaft, nämlich die unfruchtbaren Arbeiterinnen und die "Soldaten" übernehmen die Versorgung und territoriale Verteidigung, wobei Letzteres im Ernstfall eine "Suizidmission" werden kann.

Wachsoldaten gibt es auch bei hoch organisierten Gruppen von sozialen Säugetieren. Die Berggorillas wandern in kleinen Einheiten umher, geführt von einem dominierenden Alpha-Tier. Die untergeordneten Männchen ohne eigene Fortpflanzungschancen halten sich am Rande der Einheit auf und werden - wenn ein Raubtier oder eine andere Gruppe Gorillas angreift - während des Verteidigungskampfes oft verletzt oder gar getötet. Ähnliches gilt auch für andere Arten.

Eine Form des Altruismus, die ihrem Urheber das Leben kosten kann, stellt auch der Alarmruf vieler Vögel dar, die ihre Artgenossen so vor Feinden warnen. Da der Rufer damit vom Feind entdeckt wird, setzt er sich für die Gruppe besonderer Gefahr aus. Manche Vögel schlagen nicht nur Alarm, sondern fallen sogar todesmutig über ihre Feinde her (z. B. Amseln, Eichelhäher, Finkvögel wie Zaunkönig und Rotkehlchen und sogar Kolibris). Natürlich sind sie damit dem Gegenangriff besonders ausgesetzt und riskieren dadurch ihr Leben.

Bekannt und noch am ehesten nachvollziehbar ist das altruistische Verhalten vieler Muttertiere, sei es, dass sie ihr Futter mit anderen teilen, während des Stillvorganges hilflos sind und Raubtieren zum Opfer fallen oder gezielt eine eigene Invalidität (z. B. gebrochener Flügel) vortäuschen, um von den hilflosen Jungtieren wegzulocken, was auch mit dem eigenen Tod bezahlt werden kann.

  • Aussiedlungs-Instinkt

Eine große Gefahr in der Tierwelt ist die Übervölkerung. Eine wachsende Bevölkerungsdichte innerhalb eines Gebiets mit beschränkten Möglichkeiten bezüglich Raum und Nahrung zwingt stets einen Teil, und zwar meist die Schwächeren, eine neue Heimat zu suchen. Beim Verlassen des (bisher meist optimalen) Territoriums setzen sie sich in dieser Form von "Suizidmission" vielerlei Gefahren aus, die in der Regel nur wenige überleben.

Dabei ist der "Massenselbstmord der Lemminge" nur ein Beispiel. Wie andere Säugearten auch, haben diese Wühlmäuse den unwiderstehlichen Trieb, den Ort der Überbevölkerung zu verlassen. Um dabei Zirkelbewegungen zu vermeiden, sind diese Emigranten-Züge strikt geradeaus orientiert und wandern blindlings in den sicheren Tod, wenn z.B. Flüsse und Seen vor ihnen liegen. Auch wenn es als (falsches) Beispiel mit am häufigsten zitiert wird, mit einem echten suizidalen Verhalten im herkömmlichen Sinne hat es am wenigsten zu tun.

Und auch beim Stranden von Wal-Familien, die selbst dann wieder aufs Ufer zusteuern, wenn sie zuvor mühsam freigeschleppt wurden, handelt es sich vermutlich - neben anderen Ursachen - um eine parasitäre Gehirnstörung, die ihren Richtungssinn zerstört.

  • Stress

Noch am ehesten mit suizidalen Impulsen zu vergleichen sind stressbedingte Störungen: Dazu gehören Haustiere, vor allem Hunde, die plötzlich ihren Herrn verloren haben und mit selbstzerstörerischen (Fachausdruck: autodestruktiven) Verhaltensweisen reagieren. Ähnliches gilt für Wildtiere, die man ihrer Freiheit beraubt hat und die sich rücksichtslos verletzen, die Nahrungsaufnahme verweigern und schließlich an häufig tödlichen Infektionen durch allgemeine Entkräftung zugrunde gehen.

Schlussfolgerung

Im Allgemeinen aber gilt die Regel: Länger andauernde psychische Störungen kann man beim Tier in freier Wildbahn nicht beobachten. Tiere mit solchen Störungen überleben nicht. Dies gilt nicht nur für die Welt der Feinde, sondern auch für die eigene Art. Wie bereits erwähnt, zeigen Affen, die früh von der Mutter getrennt wurden oder sonst wie isoliert aufwuchsen, Defizite bezüglich ihres sozialen Verhaltens generell bis hin zu konkreten Störungen. So setzen sie sich beispielsweise in Stress-Situationen unnötigen, mitunter tödlichen Gefahren aus, indem sie in geradezu selbstzerstörerischem Verhalten und ohne Grund die Leitmännchen der Gruppe angreifen. Im Experiment können solche autoaggressiven Reaktionen offenbar durch Antidepressiva abgeschwächt oder gar verhindert werden.

Die Tierpsychologie, die auch der Psychiatrie so manche Anregung vermitteln kann, steht in ihrem Forschungsbemühen um seelische Störungen, z. B. um das Trauerverhalten von Tieren noch am Anfang. Eine Verallgemeinerung bestimmter Verhaltensweisen, die uns wegen ihrer Ähnlichkeit besonders anrühren, ist jedoch gewagt, selbst bei Arten höherer Organisationsstufen.

Doch unabhängig von den strengen wissenschaftlichen Kriterien lässt sich mit Konrad Lorenz sagen: "Wir wissen nicht und wir können nicht wissen, was z. B. subjektiv in einer Gans vorgeht, die mit allen objektiven Symptomen menschlicher Trauer herumsteht. Aber wir können uns des Gefühls nicht erwehren, dass ihr Leiden dem unseren geschwisterlich verwandt ist."

LITERATUR

Interessantes Forschungsgebiet, das auch der Psychiatrie und Psychologie so manche Anregungen vermitteln kann. Nachfolgend eine Auswahl (auch unter Berücksichtigung interessanter älterer Veröffentlichungen):

Alverdes, F.: Die Tierpsychologie in ihren Beziehungen zur Psychologie des Menschen. Hirschfeld-Verlag, Leipzig 1932

Betz, W.: Zur Psychologie der Tiere und Menschen. Barth-Verlag, Leipzig 1927

Bohn, G.: Die Neue Tierpsychologie. Veith-Verlag, Leipzig 1912

Dahl, F.: Vergleichende Psychologie. Die Lehre von dem Seelenleben des Menschen und der Tiere. Gustav Fischer-Verlag, Jena 1922

Frank, D.: Verhaltensbiologie. Thieme-Verlag, Stuttgart 1985

Frauchinger, E.: Seelische Erkrankungen bei Mensch und Tier. Verlag Hans Huber, Bern 1945

Hediger, H.: Die Angst des Tieres. In: C.G. Jung-Institut Zürich (Hrsg.): Die Angst. Studien aus dem C.G. Jung-Institut. Rascher-Verlag, Zürich 1959

Hediger, H.: Tierpsychologie im Zoo und im Zirkus. Henschel-Verlag, Berlin 1979

Hediger, H.: Tiere verstehen. Erkenntnisse eines Tierpsychologen. Deutscher Taschenbuch-Verlag - dtv, München 1980

Hediger, H.: Wildtiere in Gefangenschaft. Ein Grundriss der Tiergartenbiologie. Schwabe-Verlag, Basel 1942

Katz, D.: Mensch und Tier. Morgarten-Verlag, Zürich 1948

Kurth, G., I. Eibel-Eibesfeldt (Hrsg.): Hominisation und Verhalten. Gustav Fischer-Verlag, Stuttgart 1975

Lorenz, K.: So kam der Mensch auf den Hund. Verlag Borotha-Schocher, Wien 1950

Lorenz, K.: Verständigung unter Tieren. Fontana-Verlag, Zürich 1953

Lorenz, K.: Das sogenannte Böse. Verlag Borotha-Schocher, Wien 1963

Lorenz, K.: Vergleichende Verhaltensforschung. Springer-Verlag, Wien-New York 1978

Meyer-Holzapfel, M.: Erforschung des Tierverhaltens - Weg zum Menschen? In: V. Faust (Hrsg.): Psychiatrie - ein Lehrbuch für Klinik, Praxis und Beratung. Gustav Fischer-Verlag, Stuttgart-Jena-New York 1996

Meyer-Holzapfel, M.: Tierpsychologie, Verhaltensforschung und Psychiatrie. In: Aktuelle Fragen der Psychiatrie und Neurologie. Karger-Verlag, Basel 1964

Mimmelmann, K.: Einführung in die Verhaltensforschung. Parey-Verlag, Berlin 1983

Portmann, A.: Das Tier als soziales Wesen. Rhein-Verlag, Zürich 1953

Tinbergen, N.: Instinktlehre. Parey-Verlag, Berlin 1972

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