Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
SELBSTMORD ALS NACHAHMUNGSTATDer "Werther-Effekt" als medien-induzierte Selbsttötung Werther-Effekt - Werther-Fieber - medien-induzierte Selbsttötung - Nachahmungs-Suizid - Suizid-Epidemie - suizidaler Imitations-Effekt - Suizid-Induktion - medial vermittelter Suizid - Suizid-Enttabuisierung - u.a.m.
Dass die "Schönen Künste", insbesondere die verschiedenen literarischen Gattungen (Autobiographie, Drama, Erzählungen, Romane u.a.) zu den lebens-prägenden, manchmal sogar lebens-entscheidenden Einflussfaktoren gehören, ist bekannt. Mehr übrigens als die eigentlich dafür zuständigen Fach-Disziplinen Pädagogik, Philosophie, Psychologie und ggf. Psychiatrie. So gelten auch ihre wichtigsten Vertreter geradezu als "Lebens-Lehrer", vor allem was ihre in Sinnsprüche gegossenen Lebensweisheiten anbelangt. Die bekanntesten Beispiele dafür sind auch die größten, nämlich Shakespeare, Schiller und Goethe. Dass sich aber einer von ihnen, nämlich Johann Wolfgang von Goethe (von Beruf ausgerechnet Jurist) bis heute für etwas verantworten muss, das zum Tragischsten im Leben eines Menschen und seiner Angehörigen und Freunde gehört und das sogar als Fachbegriff in die psychiatrische Wissenschaft eingegangen ist, das dürfte nicht allgemein bekannt sein. Die Rede ist vom Werther-Effekt. Die Leiden des jungen Werthers Die Leiden des jungen Werther gehören zu den ersten Werken des damals 24-jährigen Goethes und erschienen - aus gutem Grund, wie sich später herausstellen sollte -, erst einmal anonym 1774. 13 Jahre später kam eine zweite, leicht veränderte Fassung heraus. In diesem Brief-Roman (siehe Kasten) geht es um den Freitod eines jungen Menschen. Die Folgen waren verheerend. Es drohte eine regelrechte Suizid-Epidemie unter der gleichaltrigen Jugend. Goethe selber geriet unter Druck und musste sich zeitlebens dafür rechtfertigen, was ihm nicht immer in "olympischer Größe" gelang. Um was handelt es sich hier?
Der junge, künstlerisch veranlagte und geistvolle Werther lernt auf einem Ball eine junge Frau kennen, die aber bereits einem anderen versprochen war. Um diesem Dilemma zu entfliehen, nimmt er eine Stelle an, die ihn aber völlig frustriert. Im Laufe der Zeit verdüstert sich seine Stimmung, zumal die Angebetete inzwischen geheiratet hat. Werther entgleitet sich und der Realität immer mehr, trifft noch einmal mit dem Grund seines Unglücks zusammen und erschießt sich schließlich. Das ist traurig genug, allerdings auch eine schon damals in der Literatur gerne genutzte tragische Liebesbeziehung. Goethe, zu dieser Zeit offenbar selber in eine entsprechende Beziehung verstrickt und durch den Freitod eines jungen Bekannten aufgewühlt, verfasste in wenigen Wochen diesen kunstvoll komponierten Briefroman in so fesselnder Form, dass viele junge Leser der damaligen Zeit regelrecht in den Bann von Werthers Anschauungen, Gefühlswallungen und Werturteilen geschlagen wurden (Einzelheiten bei Interesse siehe die Ausführungen am Schluss dieses Kapitels). Dabei geht es nicht nur um eine unglückliche Beziehung, sondern auch um die damals herrschenden "fatalen bürgerlichen Verhältnisse" und um eine Entwicklung, die den Freitod als Versuchung des freien Menschen interpretierte, die "Krankheit zum Tode" abzukürzen und den Zwängen der Endlichkeit zu entkommen (Harenberg, 2001). Die Literaturwissenschaft bezieht sich vor allem auf die Erkenntnis, dass mit den Leiden des jungen Werthers der moderne deutsche Roman beginnt. Die Folgen in zwischenmenschlicher Hinsicht werden nur gestreift: "Werther artikulierte das Lebensgefühl der damaligen jungen Generation … Die Wirkung in Europa war unvergleichlich; ein Werther-Fieber grassierte". Das zieht sich im Übrigen bis in die heutige Zeit hinein: Zum einen literarisch (die Neuen Leiden des jungen W.), zum anderen in der tragischen Realität. Deshalb sehen die Psychiater das Phänomen des Werther-Effektes naturgemäß nüchterner. Denn es geht letztlich um den Selbstmord: Suizid als Nachahmungstat im Gefolge von realen oder fiktiven Selbsttötungen. Dabei spielt zum einen Goethes "Werther" nach wie vor eine verhängnisvolle Rolle - bis in unsere Tage (siehe später)! Zum anderen aber hat der "Werther-Effekt" inzwischen eine erweiterte Bedeutung zum Thema erlangt: Medien und Suizid. Es geht also um die entsprechenden Konsequenzen einer verantwortungsvollen journalistischen Berichterstattung durch die Medien (Presse, Rundfunk, Fernsehen, Film). Was heißt das und was sollte geschehen? Werther-Effekt: Fiktion oder Realität? Es besteht kein Zweifel: Als Goethes Briefroman veröffentlicht wurde, löste der darin beschriebene Freitod eine Reihe von Suiziden aus, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in mehreren europäischen Ländern. Genaue Daten sind natürlich rückblickend nicht mehr objektivierbar. Einige Wissenschaftler sprechen aber von einer regelrechten "Suizid-Epidemie". Andere warnen vor Übertreibungen. Dass es "Werther-induzierte Selbsttötungen" gab, ist aber nicht zu leugnen. Und noch schlimmer: Es gibt sie noch immer (junge Frau vergiftet sich; man findet sie tot - mit dem Kopf auf Goethes "Werther" liegend). Nicht wenige der damaligen Suizidenten (von den statistisch erfassten Fällen her allein schon eine zweistellige Zahl) kleideten sich übrigens genauso wie die tragische Romanfigur (blaue Jacke und gelbe Weste) und führten meist das Buch bei ihrem selbst gewählten Lebensende bei sich. Die Reaktionen waren entsprechend. Es kam sogar zu Anschuldigungen auf durchaus literarischem Niveau ("auch mein Sohn hatte mehrere Stellen im Werther angestrichen … Von euch wird Gott Rechenschaft fordern über die Anwendung eurer Talente"). Goethe blieb natürlich seine fatale Medienwirkung nicht verborgen (siehe Kasten), wobei er später - nachvollziehbarer Weise - auch gereizt reagieren konnte. Es ist aber keine Frage, dass ihm diese "Schreib-Therapie" in eigener Sache geholfen hat, wie er gelegentlich bestätigt haben soll.
Auf jeden Fall war der "Werther-Effekt" geboren, aktenkundig schon damals und unter den Zeitgenossen als "Wertherfieber" bezeichnet. In manchen Regionen und Städten wurde das Buch sogar verboten (z. B. Leipzig, Kopenhagen, Mailand). An einigen Orten drohte eine Geldstrafe bei widerrechtlichem Verkauf und Handel mit diesem Buch, da (wörtlich) "Itzo die Exempel des Selbstmordes frequenter werden" (Leipziger Stadtrat, Januar 1975). Bisweilen wurde das Verbot sogar auf die erwähnte Kleidung ("Werther-Tracht") ausgedehnt. Mit anderen Worten: Man hatte gehörigen Respekt, ja Angst vor entsprechenden Nachahmungstaten, zumal speziell in der damaligen "Sturm- und Drangzeit" der Werther eine Art Kultbuch unter den jungen Intellektuellen wurde. Wissenschaftlich aber ging man erst vor etwa 30 Jahren an dieses Phänomen heran. Und man prägte den Begriff "Werther-Effekt" zur Kennzeichnung von "medial vermittelten Nachahmungs-Suiziden". Inzwischen stellt sich heraus, dass es sich hier nicht um ein historisch interessantes Phänomen handelt, sondern dieser Imitations-Effekt gerade in modernen Medien-Gesellschaften eine noch ernstere Bedeutung zu bekommen droht. Suizide prominenter Persönlichkeiten provozieren Suizide in der Allgemeinheit Auch Goethes Briefroman war ein "medialer Induktor". Ob das heute durch ein einzelnes Buch noch möglich ist, sei dahingestellt. Bücher werden nicht mehr so oft und so "mit Herzblut" gelesen wie früher, zumal unter der jungen Generation. Doch damit ist die Lage nicht entschärft. Die Nachfolge haben die modernen Medien angetreten, und die sind in ihrer Sog-Wirkung offenbar noch problematischer (siehe später). Tatsächlich stellten die Soziologen schon vor drei Jahrzehnten in den USA fest, dass nach Zeitungsberichten über Suizide prominenter Persönlichkeiten auch die Selbsttötungen in der Allgemeinheit statistisch messbar ansteigen. Die Methode war einfach: Man verglich Ort und Zeit dieser Todesfälle, über die ausgiebig berichtet wurde, und untersuchte die amtlichen Statistiken auf Schwankungen der Selbstmordhäufigkeit vor und nach solchen Berichten. Der Vergleich ließ keine Zweifel zu:
An entsprechend dokumentierten Beispielen mangelt es nicht und zwar beginnend mit eher "grenzwertigen" Sympathie-Trägern (z. B. ein berüchtigter Klu Klux Klan-Führer) bis zu der berühmten und vielerorts beliebten Filmschauspielerin Marilyn Monroe). Dass es sich in diesen Fällen um suizid-induzierende Zeitungsberichte handelt, bewies auch die Tatsache, dass die Selbsttötungs-Fälle nur im entsprechenden Verbreitungsgebiet dieser Medien anstiegen (z. B. auffällig in New York und so gut wie gar nicht in Chicago). Oder: Während eines Zeitungsstreiks ohne alle und vor allem eben auch ohne Suizid-Berichterstattung sanken sogar die Suizidraten generell ab - um später wieder anzusteigen. Fernseh-Serie "Tod eines Schülers" Wer dies für eine typisch US-amerikanische Reaktion hielt, musste sich vor zwei Jahrzehnten auch in Deutschland eines besseren belehren lassen: Damals stieß eine "eigentlich eher dokumentarisch gehaltene" Serie von sechs Fernseh-Ausstrahlungen über den "Tod eines Schülers" eine Suizid-Epidemie von gleichaltrigen Schülern (15- bis 19-jährigen) an, die um 175 % über dem Durchschnitt lag. Vor allem die tödlich endende Bahndamm-Szene wurde gleichsam zum Nachahmungs-Albtraum. Als dieser Sechs-Teiler trotz der Warnungen von psychiatrischer Seite eineinhalb Jahre später erneut ausgestrahlt wurde, wiederholte sich dieser Nachahmungseffekt. Diesmal stieg die Suizidrate "nur" um 115 % an … Nachahmungseffekt gesichert Der Nachahmungseffekt gilt inzwischen wissenschaftlich als statistisch belegbares Phänomen. Natürlich wurde er auch in Frage gestellt und zwar nicht nur mit fadenscheinigen Abwehr-Kommentaren, sondern auch mit ernsthaften Gegen-Argumenten. So wurde beispielsweise behauptet, dass durch die Medienberichterstattung lediglich diejenigen Suizide vorzeitig ausgelöst worden seien, die sich über einen längeren Zeitraum ohnehin ereignet hätten. Der "Werther-Effekt" stelle damit eigentlich nur eine kurzfristige Gefährdung für seelisch verwundbare Gruppierungen dar. D. h.: Wer schon zuvor auf "dünnem Eis gestanden sei", könne - zugegebenermaßen - jetzt auch einbrechen, was später aber ohnehin gedroht hätte. Langfristig aber könne man deshalb nicht von einem medien-induzierten Ansteigen der Suizidrate sprechen. Diesem Einwand wurde wissenschaftlich nachgegangen. Das war nicht schwer. Denn wenn die Medienberichterstattung tatsächlich nur zu einem vorzeitigen Ausklinken von Suiziden führen würde, müsste sich in den folgenden (drei bis vier) Monaten nach der angestiegenen Suizidrate ein Rückgang verzeichnen lassen. Die suizidal Bedrohten wären ja dann nicht mehr am Leben. Doch weder in den USA noch in Deutschland konnte man nach dem Anstieg ein überproportionales Absinken der Suizidrate feststellen. Man muss also davon ausgehen, dass es die Medienwirkung ist, die diese Menschen zu einer solchen Tat verleitet. Dabei trifft es sowohl solche, bei denen gewisse seelische oder psychosoziale Voraussetzungen gegeben sind, aber wohl auch andere, die ohne eine solche "Suizid-Induktion" kaum Hand an sich gelegt hätten. Deshalb auch die hart erscheinende wissenschaftliche Schlussfolgerung: "Es besteht kein begründeter Zweifel mehr, dass die Medien zu Selbstmorden beitragen" und: "eine unreflektierte Berichterstattung wird zwangsläufig zu weiteren Selbstmorden führen". Das sind deutliche Worte, die entsprechende Überlegungen und letztendlich Konsequenzen fordern. Was ist der "Werther-Effekt" wissenschaftlich? Die Suizidologie, also jene Wissenschaft, die sich mit den Ursachen, Motiven, mit Vorbeugung, Therapie und Rehabilitation von Suiziden und Selbsttötungsversuchen beschäftigt, hat es nicht leicht, zu vielfältig sind die Aspekte, die es zu berücksichtigen gilt. Denn letztlich ist jede Suizidtat ein individuelles Phänomen, das sich nicht immer auf ein einheitliches Erklärungsmuster reduzieren lässt. So auch beim "Werther-Effekt". Einzelheiten würden hier zu weit führen, doch sollen einige wissenschaftliche Stichworte die Komplexität dieses Phänomens skizzieren. Da ist von Imitations- und Ansteckungs-Hypothesen, von Enthemmungs-Effekten, von Suggestions-Theorien u.a. die Rede. Letztlich geht aber alles auf den gleichen Auslöser, nämlich auf ein beeindruckendes und damit förmlich "ansteckendes Selbsttötungs-Vorbild" zurück. Der "Suizid-Nachahmer" identifiziert sich mit seinem Vorbild und imitiert es. Es handelt sich - wenn man so will - um einen verhängnisvollen Lernvorgang, wie er ja im Guten und Schlechten unsere Einstellung, Ideen, Urteile usw., d. h. unser ganzes Leben prägt. Dabei werden neue Verhaltensweisen erlernt oder alte gehemmt, gelöscht, aber auch angestoßen, ausgelöst, ja enthemmt. Dabei gilt es noch eine zweite Erkenntnis zu berücksichtigen: Der Lerneffekt durch Nachahmung ist umso durchschlagender, je ähnlicher Person und Situation zwischen "Vorbild" (wissenschaftlich: Modell) und Nachahmer sind. Was heißt das? In der Fernsehserie "Tod eines Schülers" fanden sich vor allem 14- bis 19-jährige männliche Schüler angesprochen. In der an sich nicht einmal reißerisch aufgemachten, von den Bildmotiven her eher nüchtern gehaltenen Story geht es um die in diesem Alter nicht seltenen Beziehungskrisen zur näheren und weiteren Umwelt: Eltern, Freundin, Lehrer, Mitschüler usw. Das schuf eine soziale Identität, machte alles hautnah nachvollziehbar - und entwickelte damit eine psychologische Sog-Wirkung von unerwartetem Ausmaß. Dabei lassen sich fast exemplarisch einige besonders riskante Nachahmungs-Aspekte erkennen, nämlich nicht nur Alter und Geschlecht, sondern auch Suizidort, Suizidmethode und weitere psychosoziale Begleiterscheinungen. Im einzelnen: Imitation des Suizidortes Es ist eine alte und leidvolle Erfahrung, die vor allem psychiatrische Kliniken machen - seit es solche Institutionen gibt. Jedes dieser Krankenhäuser kennt regelrechte "Suizid-Orte", an denen sich Selbsttötungen häufen und wohin im Verdachtsfalle das Klinikpersonal zuerst ausschwärmt, um "zu retten, was zu retten ist". Das sind Brücken, Hochhäuser, Türme, Flüsse und Bahngleise (bei Letzteren ganz bestimmte Abschnitte) usw. Das ist mit Ausnahme der "Insider" meist wenig bekannt und die lokalen Medien halten sich inzwischen hier auch zurück (Einzelheiten siehe später). Eine gewisse tragische "Berühmtheit" haben dafür prominente Örtlichkeiten erreicht, bei denen allein schon durch die Zahl der Suizidopfer eine Geheimhaltung schlichtweg nicht mehr möglich ist. Dazu gehören beispielsweise der Mihara Yama-Vulkan in Japan, in dessen Krater sich allein zwischen 1948 und 1978 über 1000 Menschen stürzten. Oder in den USA die Hunderte von Lebensmüden, die ihrem Dasein durch einen Sprung von der Golden Gate Bridge ein Ende setzten. Davon reist nahezu die Hälfte von weither an. Es handelt sich also nicht nur um ein Problem der Bewohner rund um San Francisco. Und was noch nachdenklicher stimmt und den Imitations-Sog des Suizidortes unterstreicht: Auf dem Weg zu dieser "Freitod-Brücke" muss eine andere, nämlich die ebenso hohe Oaklandbridge überquert werden. Warum also nicht schon dort, warum nicht bei einer Brücke zu Hause, warum ausgerechnet hier? Auch in deutschen Großstädten gibt es solche Suizidorte: Brücken, Hochhäuser, Bahndämme u.a. Diese Örtlichkeiten sind den meisten Betroffenen vorher aus eigener Anschauung nicht einmal bekannt. Sie werden ihnen erst über die Berichterstattung als scheinbar "sichere, Aufsehen erregende und bewährte Suizidorte" vermittelt. Imitation der Suizidmethode Auch Suizid-Methoden regen zur Nachahmung an - wenn sie in den Medien ausführlich genug dargestellt werden. Tragisches Beispiel war der Tod eines bekannten Politikers in einer Hotel-Badewanne. Dabei wurde spekuliert, dass erst die Kombination aus bestimmten Medikamenten und Alkohol zu Bewusstseinsverlust und anschließend zum Ertrinken geführt habe. Was auch immer daran stimmen mag, selbst diese - nicht gerade häufige - Suizidart zog entsprechende Nachahmungstaten nach sich (einige sogar durch daneben liegende Zeitungsausschnitte bestätigt). Und was bestimmte Giftstoffe (z. B. Pflanzenschutzmittel) anbelangt, so waren sie schon früher das herausragende Beispiel für verhängnisvolle Nachahmungstaten, sobald über entsprechende Suizide berichtet wurde. Persönlichkeitsspezifische Imitation Ort, Zeit und Methode sind allerdings eher sekundäre Aspekte einer Suizidhandlung. Zuvor muss sich erst das abgespielt haben, was man früher "ein Leben zum Tode" nannte und heute mit "suizidaler Entwicklung" umschreibt. Und hier spielen Persönlichkeitsfaktoren bis hin zu vergleichbaren Wesenszügen, Charaktereigenschaften, Lebenssituationen u.a. eine wichtige Rolle oder kurz: ein persönlichkeitsspezifisches Nachahmungsmuster. Je mehr Berührungspunkte sich zwischen Suizidwilligem und Suizid-Vorbild finden, desto größer der Nachahmungs-Sog. Noch kritischer wird es - wie erwähnt - bei Prominenten, vor allem wenn es sich um sympathische Personen handelt. Prominente, die nicht besonders beliebt sind, wenig gemütsmäßige Reaktionen auslösen oder sonst gleichgültig von der Öffentlichkeit registriert werden, scheinen kaum entsprechende Nachfolgesuizide anzustoßen. Handelt es sich aber um Menschen von hohem Bekanntheitsgrad und gefälliger Wesensart, möglicherweise noch als "Opfer" (z. B. die Filmschauspielerin Marilyn Monroe als verträumte Künstlerin, die der rauen Filmwelt Hollywoods "zum Fraß vorgeworfen wurde"), dann kann eine solche Idealisierung oder gar Heroisierung zu statistisch relevanten Nachahmungstaten anregen. Dabei geht es nicht nur um Sympathie, sondern auch um eine Art gesellschaftliche, wenn nicht gar moralische Bahnung durch prägende Vorbilder. Denn der Suizid war, ist und bleibt wohl auch in unseren (westlichen) Gesellschaften ein stark tabuisiertes Phänomen - oder kurz: so etwas tut man nicht. Dabei geht es gar nicht um überholte Gesetze, seien sie juristischer oder kirchlicher Art (bis in die 60-er Jahre waren beispielsweise "Selbstmordversuche" in England strafbar und bis vor 20 Jahren durften "Selbstmörder" gemäß kanonischem Recht keine kirchliche Beerdigung auf geweihtem Boden bekommen). Viel stärker ist die Hemmung durch ein inneres Tabu, Hand an sich zu legen und damit nicht nur sein eigenes Leben zu gefährden oder gar zu beenden, sondern auch seinen Angehörigen, Freunden und sonstigen Hinterbliebenen großes Leid zu verursachen. Diese einerseits kulturell überkommene und andererseits auch persönliche (Charakter-)Hemmschwelle einschließlich Furcht vor Strafe, Missachtung, Nichtanerkennung oder einfach Scham, wird aber abgeschwächt, wenn nicht gar aufgehoben, wenn prominente und idealisierte Personen des öffentlichen Lebens demonstrieren, dass der "Freitod" eine gangbare und mit Verständnis akzeptierte Alternative zu einem unerträglichen Leben werden kann. So etwas nennt man eine "Enttabuisierung der suizidalen Tat". So tragisch allerdings die Sog-Wirkung von Prominenten-Suiziden auch sein mag, sie ist statistisch relativ selten. Viel häufiger sind "stumme", unerkannte Identifikationen oder Imitationen bei durchaus nüchterner Berichterstattung in den Medien. Sie fallen zwar - statistisch gesehen - deutlich geringer aus als nach Prominenten-Suiziden, sind aber als "heimlicher Schwelbrand" letztendlich folgenschwerer als die vereinzelten spektakulären Ereignisse. Was heißt das für die Medien-Berichterstattung? Die Psychiater und Psychologen, die sich mit diesem Problem beschäftigt haben, bitten die Journalisten von Presse, Funk und Fernsehen auf folgende suizid-präventiven Aspekte zu achten (nach W. Ziegler und U. Hegerl, 2002):
- Dabei wird auch der Suizid oft "heroisiert" ("so wie sie lebte, so starb sie" (siehe oben), "Leidenschaft im Leben und Sterben" usw.). - Das gleiche gilt für vereinfachende, verkürzende, letztlich also beschönigende Erklärungsmuster ("sie war dieser Welt nicht gewachsen", "in dieser Lage gab es keine andere Wahl", "zu sensibel für ihre Zeit und Gesellschaft" u.a.). - Ähnliches gilt für Wertungen des Suizides, die um Verständnis ringen ("er hatte doch alles, was das Leben zu bieten hat", "an was hat es ihr gefehlt?"). - Auch mitleiderregende Überlegungen können problematisch werden ("natürlich hat niemand bemerkt, wie es in ihrem Inneren aussah", "ihr Lachen wird uns bleiben, vor allem jetzt, wo wir wissen, was sich dahinter verbarg" usw.). - Und natürlich romantische Überhöhungen, die ansonsten kaum akzeptiert würden, in diesem Falle aber ihre Wirkung nicht verfehlen ("ihre Liebe war stärker als der Tod", "jetzt auf ewig vereint", "nun hat sie erreicht, was sie schon immer wollte" u.a.). Eine Zusammenfassung dieser Empfehlungen siehe Kasten.
Über die Schwierigkeit, Prävention und Information auf einen Nenner zu bringen Diese Empfehlungen sind aus medizinischer, vor allem psychiatrischer Sicht durchaus nachvollziehbar. Sie stellen aber in ihrer "Reinform" für den engagierten Journalisten eine schier unlösbare Aufgabe dar. Oder konkret: Sämtliche Vorsichtsmaßnahmen beachten und dabei noch anschaulich informieren, das ist unter diesen Bedingungen unmöglich. Lässt sich hier ein Kompromiss finden? Die Psychiater und Psychologen, die sich mit dieser schwierigen Materie beschäftigen, können aus suizid-präventiver Sicht auf drei Grund-Forderungen nicht verzichten: - Berichte über den Suizid möglichst abstrakt und vermeide informative Details, Abbildungen und Fotos. Aber selbst diese Kompromiss-Regeln kollidieren nahezu mit allem, was ein Journalist gelernt hat und als gute Arbeit "rüberbringen" möchte (siehe Kasten).
Mit anderen Worten: Eine Berichterstattung, die der Suizidprävention verpflichtet ist, steht notgedrungen im krassen Gegensatz zu journalistischen Grundregeln. Und wer unter diesen Zwängen unattraktiv berichtet, hat natürlich auch keine Chance gedruckt zu werden. Heißt das, dass der Journalist aus medizinischer Sicht auf jegliche Suizid-Berichterstattung verzichten sollte? In manchen Ländern (z. B. Frankreich, 1955) gibt es tatsächlich Pressegesetze, die zumindest für bestimmte Gefährdungsgruppen (z. B. Minderjährige) untersagen, durch Bücher, Presse, Rundfunk, Kino oder in anderer Form über die Selbsttötung zu berichten. Der Hintergrund ist klar: Es muss alles vermieden werden, was zu weiteren Verzweiflungstaten Anlass geben könnte. Aber auch hier wird der Werther-Effekt eigentlich nur für spezielle Altersgruppen erschwert (und sicher kaum verunmöglicht). In anderen Nationen geht man mehr oder weniger direkt auf das Problem ein, allerdings im Sinne der Informationspflicht: "Suizide und Suizidversuche sind eine soziale Realität. Sie können für die Massenmedien grundsätzlich kein Tabu sein (Schweizer Presserat, 1992). Ähnliches gilt für den Deutschen Presserat und die Produzenten-Guidelines der BBC. Ein totales Verbot ist also auf Grund der Pressefreiheit und des Informationsrechtes der Öffentlichkeit weder durchsetzbar noch wünschenswert. Verständlich wird das beispielsweise bei gehäuften Suizidversuchen oder gar Selbsttötungen in Gefängnissen, Schulen, psychiatrischen Kliniken, wenn es sich ggf. um Missstände handelt, die nur durch entsprechende Aufklärung behoben werden können. Der Journalist befindet sich also gerade bei der Suizid-Berichterstattung in einem Spannungsfeld zwischen "Gesinnungs-Ethik" und "Verantwortungs-Ethik". Nach den Gesetzen des freien Marktes ist es auch fast unmöglich, die eine Redaktion zur Einhaltung suizidpräventiver Regeln zu gewinnen, während sich die ablehnende Konkurrenz dadurch einen Marktvorteil beschaffen kann. Der "Systemdruck des Wettbewerbs" setzt also solchen Wünschen enge Grenzen. Mit Blick auf drei grundlegende Prinzipien generell und für die Suizid-Berichterstattung im Speziellen, nämlich "Leidenschaft" (Engagement für eine Sache), "Augenmaß" (Verhältnismäßigkeit der Mittel) und "Verantwortungsbewusstsein" (Folgeabschätzung) sowie mit Unterstützung von Berufsverbänden und Gewerkschaften könnten sich aber trotzdem eines Tages gewisse Richtlinien erarbeiten und durchsetzen lassen. Bisher sind sie in nur wenigen europäischen Ländern gegeben und dort, wo sie bereits etabliert sind, meist verbesserungswürdig, aber auch in ersten kompromiss-bereiten Ansätzen durchaus weiterführend. Siehe Kasten.
Schlussfolgerung "Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer", notierte Johann Wolfgang von Goethe anlässlich der 1789 erschienenen Neufassung seines Erfolgswerks "Die Leiden des jungen Werthers". So urteilte damals auch die Mehrzahl der gebildeten Welt unter dem Eindruck zahlreicher junger Suizidanten, die sich - gewandet in blaue Jacke und gelbe Hose - nach dem Vorbild des Roman-Helden selber getötet hatten. Der Werther-Effekt war geboren - und bleibt bis heute ein ungelöstes Problem, wenngleich von der Allgemeinheit kaum registriert. Auch mussten noch zwei Jahrhunderte vergehen, bis ein amerikanischer Soziologe nachwies, dass nach der Berichterstattung über Suizide prominenter Personen die Suizidrate ansteigt. Dies sowohl abhängig von der Beliebtheit und dem Bekanntheitsgrad des Verstorbenen, wie auch von der Dauer der Berichterstattung. Wie auch immer der Nachahmungseffekt zu erklären ist - als Imitation, Suggestion, Enthemmung oder Ansteckung, wie die wissenschaftlichen Stichworte lauten -, er fällt umso stärker aus, je beliebter der zu Tode Gekommene war und je heroisierender die Tat dargestellt wird. Auch besonders detaillierte Angaben zu Ort, Hergang und Methode bahnen die Nachahmung. Bis jetzt erfahren allerdings die wenigsten Journalisten in ihrer Ausbildung (Volontariat) und leider oft auch in der späteren Praxis von der Existenz des "Werther-Effektes". Es ist deshalb die Aufgabe der Psychiater und Psychologen bzw. interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Psychiatern, Psychologen, Kommunikationswissenschaftlern und Journalisten, entsprechende Richtlinien zu erarbeiten, die den Aufgaben gerecht werden, die beide Seiten vertreten. An positiven Beispielen mangelt es jedenfalls nicht (z. B. "Viennese Experience", eine erfolgreiche Kooperation anlässlich zunehmender U-Bahn-Suizide in Wien, denen durch enge Zusammenarbeit die verheerende Sog-Wirkung genommen werden konnte). So könnte der Werther-Effekt - trotz seiner traurigen Vorgeschichte - in der Medienwirkungsforschung und praktischen Kooperation zwischen Psychiatrie und Berichterstattung ein wegweisender Meilenstein werden, was die Suizid-Prävention anbelangt. Und später auch nützlich, was andere, bisher ungelöste Probleme in Diagnose, Therapie und Vorbeugung seelischer Störungen betrifft. Den Patienten und ihren Angehörigen wäre es eine große Hilfe. Literatur Sehr spezielles, wenngleich wichtiges Thema, dessen Bedeutung offenbar zunimmt. Damit auch sehr spezielle Fachliteratur und bisher nur wenig allgemein verständliche Artikel und Sachbücher. Nachfolgend eine begrenzte Auswahl, die auch ältere und vor allem literatur-bezogene Werke einschließt: Apel, J.W.: Werther und seine Zeit. Schulze'sche Hof-Buchhandlung und Hof-Buchdruckerei, Oldenburg 1896 Brosius, H.B., F. Esser (Hrsg.): Eskalation durch Berichterstattung. Westdeutscher Verlag, Opladen 1995 Deutscher Presserat: Publizistische Grundsätze (Pressekodex). Richtlinien für die publizistische Arbeit nach den Empfehlungen des Deutschen Presserates, Bonn 1997 Faust, V.: Der psychisch Kranke in unserer Gesellschaft. Was befürchtet der psychisch Kranke vom Gesunden - was weiß der Gesunde vom psychisch Kranken? Hippokrates-Verlag, Stuttgart 1981 Faust, V.: Psychiatrie - Ein Lehrbuch für Klinik, Praxis und Beratung. Gustav Fischer-Verlag, Stuttgart-Jena-New York 1996 Goethe, J.W.: Die Leiden des jungen Werther. Insel-Verlag, Frankfurt 1973 Gräf, H. G.: Goethe über seine Dichtungen. Versuch einer Sammlung aller Äußerungen des Dichters über seine poetischen Werke. Band 1, 2. Verlag Rütten & Loening, Frankfurt 1813 Harenberg Literaturlexikon. Harenberg-Lexikon-Verlag, Dortmund 2001 Hoffmann-Richter, U.: Psychiatrie in der Zeitung. Urteile und Vorurteile. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2000 Jäckel, M., F. Wieser: Das Bild des Geisteskranken in der Öffentlichkeit. Thieme-Verlag, Stuttgart 1970 Merian: Weimar. Hoffmann und Campe-Verlag, Hamburg 1999 Stuiber, H. W., H. Pürer: Journalismus-Anforderungen, Berufsauffassung, Verantwortung. Verlag der kommunikationswissenschaftlichen Forschungsvereinigung, Erlangen 1991 Pürer, H.: Praktischer Journalismus in Zeitung, Radio und Fernsehen. UVK Medien-Verlagsgesellschaft, Salzburg 1996 Schweizer Presserat: Stellungnahme des Presserats vom 23. Dezember 1992 zur Berichterstattung über Suizide. Nr. 8, 1992 Wolfersdorf, M.: Der suizidale Patient in Klinik und Praxis. Wiss. Verlagsges., Stuttgart 2000 (aktuelle Übersicht zum Thema Suizidalität und Suizidprävention generell mit ausführlichem Literaturverzeichnis) Ziegler, B., U. Hegerl: Der Werther-Effekt. Nervenarzt 1 (2002) 41 (Grundlage vorliegender Ausführungen) Zschirnt, C.: Bücher - alles, was man lesen muss. Eichborn-Lexikon, Frankfurt 2002
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |