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RELIGIOSITÄT, SPIRITUALITÄT, GEBET UND PSYCHISCHE GESUNDHEIT

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Religiosität, Gläubigkeit, Spiritualität, die Kraft des Gebetes – Begriffe und vor allem innere Einstellungen, die heute nicht nur zur Diskussion, sondern sogar in Frage gestellt werden, scheinbar. Das betrifft vor allem Deutschland, möglicherweise auch den größeren Teil der europäischen Staaten. Obwohl man meint, dies sei vor allem eine Frage der Glaubensrichtung und deshalb für die westliche Welt typisch, lassen die Erkenntnisse aus den USA wieder aufhorchen. Und auch in den übrigen westlichen Staaten scheint sich ein Umdenken anzubahnen.

In diesem Zusammenhang wird auch die Frage erörtert: Haben Gläubigkeit, Religiosität, Spiritualität und das Gebet auch Einfluss auf die Gesundheit, seelisch, körperlich, psychosozial? Und könnte man des Menschen „höchstes Gut“, also eben diese Gesundheit durch eine religiöse Einstellung stärken, besonders im Krankheitsfall? Und wenn ja, wie sollten die Therapeuten damit umgehen?

Dazu eine Übersicht aus jenen Kreisen, die sich sowohl psychologisch, als auch theologisch mit diesem Thema beschäftigen. Sinnstiftend, vielleicht sogar gezielt unterstützend könnte es schon sein, meinen inzwischen auch einige Vertreter der Gesundheits-Berufe. Die Diskussion beginnt.

„Da hilft nur beten“. Wer kennt ihn nicht, diesen Seufzer, der aber weniger einer frommen Seele, mehr ironischer Resignation entspringt, wenn etwas aus dem Ruder zu laufen droht. Beten, Gläubigkeit, Religiosität – ein auslaufendes Modell?

Es herrscht eine eigenartige Diskrepanz in unserer Zeit und Gesellschaft, was diese zwar ausgesprochen individuelle, aber letztlich doch wohl älteste Einstellung im Wesen der Menschheit ausmacht. Denn wenn man Religiosität als überlebte Kategorie im menschlichen Dasein abtut, muss man doch mit Verwunderung feststellen, dass es hier nationale Unterschiede gibt - und zwar auch bzw. gerade heute ganz erhebliche.

Man kann zwar widersprechen, innerlich wie äußerlich dagegen sein, aber eines ist doch nicht zu übersehen: Der Lebensstil der westlichen Welt wird in weiten Bereichen dominiert von einem US-amerikanischen Grundmuster. Das betrifft nicht nur Politik, Finanzen, Wirtschaftsleben, die (Natur-) Wissenschaften, Technik, Sport, ja sogar die Kultur in vielen Bereichen (jedenfalls dort, wo in der Regel das größte Echo aufgewirbelt wird). Wie gesagt: Man kann es in Abrede stellen, aber der Alltag lässt kaum Zweifel zu, höchstens Ausnahmen von der Regel.

Eine davon ist die Religiosität (also beispielsweise Gläubigkeit und damit das Gebet). Hier finden sich in der „Alten Welt“, vor allem bei den Mittel-Europäern zwar zum Teil erhebliche nationale Unterschiede, die allerdings nicht nur von der jeweiligen Religions-Gemeinschaft, sondern auch von ethnischen Einflüssen ausgehen. Für Mitteleuropa und damit das bevölkerungsmäßig größte Land könnte der Unterschied aber nicht deutlicher ausfallen, was die nordamerikanische und deutsche Einstellung zur Religion anbelangt. Was heißt das?

Religiosität nein – spiritualität ja?

Die Begriffe Religion und vor allem Religiosität (also volkstümlich gesprochen: Frömmigkeit, Gottesfurcht), früher Mittelpunkt nicht nur religiöser, sondern auch kultureller und vor allem politischer Strömungen, Auseinandersetzungen und schließlich Entscheidungen von großer Tragweite für die Völker, diese Begriffe sind in unserer Zeit weitgehend aus dem täglichen Wortschatz verschwunden. Und wer sie weiterhin benützt, muss dies entweder beruflich tun (z. B. Pfarrer, Religionslehrer) oder gerät u. U. in Verdacht, eine eher „frömmelnde“ und damit letztlich nicht ganz ernst zu nehmende Wesensart, Einstellung oder persönliche religions-gebundene Zielrichtung zu verfolgen. Also Vorsicht?

Interessanterweise betrifft dies insbesondere die Begriffe Religion und Religiosität. Ihnen haftet offenbar eine ausgeprägte Institutionalisierung an, wie es die Experten nennen. Und weiter: Das hat weniger mit persönlicher Frömmigkeit zu tun, sondern ist mehr Ausdruck hierarchisch gegliederter religiöser Institutionen (von den etablierten Kirchen bis zu mysteriösen Sekten) mit vor allem starren und wenig lebens-nahen Dogmen (also festgelegten und damit verbindlichen Lehrmeinungen bzw. Glaubenssätzen).

Dabei scheint sich die Grundeinstellung weniger geändert zu haben; denn inzwischen schiebt sich ein anderer Begriff in den Vordergrund, nämlich die Spiritualität. Und Spiritualität ist „in“, wie man heute zu sagen pflegt. Wer das bewiesen haben will, kann es in den Medien selber prüfen, von oberflächlichen Talk Shows bis zu tiefsinniger Lektüre in jeder gut sortierten Buchhandlung und zwar „buchrücken-meterweise“.

Spiritualität steht also weniger für „von oben herab“ (ob das stimmt oder nicht, sei erst einmal dahin gestellt) und mehr für Authentizität (in diesem Fall „innere Beteiligung und damit persönliche Echtheit), was vor allem auf die persönlichen Wünsche, individuelle Bedeutung und eigene Erfahrungen hinweist.

Im Grunde hat sich also wenig geändert, nur „der Rahmen wurde ausgewechselt“, sagen nicht wenige Experten.

Religion und Gesundheit

Während also Religion, Glaube und Gebet seit jeher ein Thema waren, wenn auch je nach Interessenlage und Ausgangspunkt unterschiedlich gewichtet, zeichnet sich seit einiger Zeit eine Sichtweise, ein Blickwinkel, ja, ein sogar berufs-spezifischer Aspekt ab, der auch jene interessieren dürfte, die sich bisher weder darum gekümmert haben noch in Zukunft zu kümmern gedenken. Das ist übrigens auf mehreren Ebenen möglich, wie die Geschichte lehrt; man denke nur an Glaubens-Kriege, die Jahre anhielten und ganze Ländereien verwüsteten – da war dann auch der letzte Desinteressierte gezwungen, sich mit solchen Themen zu beschäftigen, schon vom reinen Überleben her. Inzwischen geht es – von solchen Auseinandersetzungen in eher fernen Regionen einmal abgesehen -, aber in der westlichen Welt nicht mehr um offene Religions-Kriege, es dominieren vor allem zwei Aspekte: Wirtschaft und Gesundheit. Sie sind übrigens auf vielerlei Ebenen enger miteinander verknüpft, und zwar wechselseitig, als die meisten ahnen.

Nun ist auch die Gesundheit nicht für jedermann von primärem Interesse, solange es ihm gut geht. Wenn sich das ändert, wird auch die Medizin bedeutsam. Das spielt sich dann meist auf organischer Ebene ab, also Herz-Kreislauf, Stoffwechsel, Wirbelsäule und Gelenke u.a. In zunehmendem Maße aber – so die Erkenntnisse selbst aus wirtschafts-psychologischer Ecke – werden auch seelische und psychosoziale Aspekte eine Rolle spielen. Und hier schieben sich inzwischen immer öfter spirituelle Überlegungen in den Vordergrund.

Also könnte es auch einmal interessant sein, neuere Strömungen in der Medizin, insbesondere Psychiatrie und Medizinischen Psychologie zu beobachten, die sich mit einem bisher ungewöhnlichen bzw. gewöhnungsbedürftigen Thema beschäftigen: Religiosität und Gesundheit. Oder noch spezifischer: Religiosität und psychische Gesundheit. Und damit zur Frage: Geht mich das was an? Oder: Könnte ich es eines Tages brauchen? Oder gar: Was muss ich tun, um hier soviel Nutzen wie möglich für mich zu sichern (die übliche, vielleicht egoistisch klingende, aber eigentlich ur-menschliche Einstellung, zu der wir stehen sollten)?

RELIGIOSITÄT AUS PSYCHOLOGISCHER UND PSYCHIATRISCHER SICHT

Die Religiosität mochte ja in früheren Jahrhunderten die Medizin durchaus beeinflusst, vielleicht sogar dominiert haben. Da ging es ihr nicht besser wie anderen Wissenschaftszweigen (z. B. Philosophie, Kunst, ja Astronomie u. a.). Dann ging der kirchliche Einfluss zurück und verlor schließlich völlig an Macht, individuell, regional, national, ja kontinental unterschiedlich, wenn man sämtliche Religionen einbezieht, aber im Trend wohl generell.

Derzeit spielt die Religion in der Medizin der westlichen Welt so gut wie keine Rolle. Selbst gläubige Mediziner halten sich mit ihrer Meinung offiziell zurück und lassen sich in ihrer konkreten diagnostischen und therapeutischen Arbeit von Einflüssen der jeweiligen Glaubenslehre kaum beeindrucken oder gar gängeln. Dabei gibt es zwar hin und wieder auch öffentlich kontrovers diskutierte Fragestellungen und Vorgehensweisen, aber im Allgemeinen ist die Religion in der Medizin kein Thema (mehr). Das scheint sich aber zu ändern.

Dabei geht es weniger um den Einfluss der jeweiligen Kirchen mit ihren Dogmen oder vielleicht sogar politischen, finanziellen, wirtschaftlichen, kulturellen u. ä. Strategien (man muss bei dieser Feststellung erneut darauf hinweisen, dass es mehrere „Welt-Religionen“ und zahlreiche durchaus einflussreiche sekten-ähnliche Gemeinschaften gibt). Nein, es betrifft vor allem einen eher – und jetzt kommt der „neue“ Begriff für Religiosität, ob völlig bedeutungsgleich oder nicht - einen eher spirituellen Aspekt. Trotzdem wird man feststellen müssen, ob Spiritualität oder Religiosität, beidem gilt in jüngerer Zeit ein wachsendes Interesse der Psychologie, ja der gesamten Neuro-Wissenschaften, sogar der Psychiatrie und somatischen Medizin mit ausschließlich körperlichem Aufgabengebiet. Das erstaunt und soll nachfolgend auf der Basis einiger Publikationen kurz erläutert werden.

Grundlage ist beispielsweise der lesenswerte Artikel in der Fachzeitschrift Psychiatrische Praxis 34 (2007) 58 von Constantin Klein, Dipl.-Psychologe und gleichzeitig Dipl.-Theologe am Institut für Psychologie sowie von Frau Dr. Cornelia Albani von der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatischen Medizin, beides Universität Leipzig. Sie beschäftigen sich vor allem mit der Bedeutung von Religiosität für die psychische Gesundheit.

Letzteres dürfte - wie man inzwischen annimmt – das Kern-Problem der kommenden Jahre und Jahrzehnte werden. Während wir körperliche Leiden immer besser in den Griff bekommen, beginnen uns seelische Störungen mehr und mehr Probleme zu machen, vor allem zahlenmäßig, von „neueren“ Krankheitsbildern ganz zu schweigen (Einzelheiten siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie).

Auch geht es den beiden Experten nicht um die früher gern diskutierten „religions-psychopathologischen“ Phänomene, konkret: krankhafte Erscheinungen im Rahmen eines (streng) religiösen Lebens. Als Stichwort sei hier nur das Konzept der ‚“ekklesiogenen Neurose“ genannt, also einer rein seelisch bedingten Störung auf Grund bestimmter kirchlicher bzw. religiöser Vorgaben, ob Laie oder in kirchlicher Stellung. Auch geht es nicht um religiöse Inhalte bei wahnhaften Störungen bis hin zur Schizophrenie u. ä. Nein, den Autoren ist vor allem erst einmal wichtig, das „breite Spektrum der wachsenden, insbesondere US-amerikanischen Forschung zum Einfluss von Religiosität/Spiritualität auf die psychische Gesundheit aufzuzeigen – und vor dem Hintergrund der deutschen Situation zu diskutieren“ (wobei natürlich vor allem Letzteres interessiert). Was heißt das?

EPIDEMIOLOGIE DER RELIGIOSITÄT

In den USA, so nüchtern-pragmatisch man sich dort auch geben mag, spielen die Religion und damit die jeweiligen Glaubensgemeinschaften eine große Rolle.

95% der US-Amerikaner glauben fest an Gott oder ein höheres Wesen. Zwei Drittel gehören einer religiösen Gemeinschaft an. Mehr als vier von zehn US-Bürgern besuchen regelmäßig einen Gottesdienst, d. h. wenigstens einmal wöchentlich. Mehr als die Hälfte beurteilt Religion als „sehr wichtig in ihrem Leben“.

Natürlich – und da braucht niemand ironisch seine Augen zum Himmel verdrehen –, natürlich steigt die Zahl der „religiösen Bürger“ im Krankheitsfall deutlich an – falls das überhaupt noch möglich ist. Und so sprechen auch neun von zehn der diesbezüglich erfassten amerikanischen Patienten spirituellen Einstellungen bei der Verarbeitung ihres Leidens größte Bedeutung zu. Vier von zehn behaupten sogar, dass die spirituelle Verankerung der wichtigste Baustein in der Verarbeitung ihres Leidens sei.

Und wie steht es damit in der Bundesrepublik Deutschland? Nur jeder fünfte Deutsche betrachtet seinen persönlichen Glauben als sehr wichtig und wertvoll. Der wöchentliche Kirchgang (s. o.) in der katholischen Kirche kommt nicht über 15% hinaus und liegt bei der evangelischen Kirche sogar bei 4%. In den neuen Bundesländern überwiegt die Zahl der Konfessionslosen, d. h. dort lehnen 54% jegliche Gottesvorstellung ab, im Westen sind es nur 12%. Weitere Einzelheiten dazu siehe die erwähnte Publikation von C. Klein und C. Albani (s.o.).

Auf jeden Fall wird eines deutlich: Wir machen den US-Amerikanern zwar „alles nach“ (was wir jedoch entrüstet abstreiten, in Wirklichkeit aber doch erstaunlich viel), nur nicht die religiöse Überzeugung und damit verbundenen Aktivitäten.

Da es im Rahmen dieser Konstellation auch im deutsch-sprachigen Bereich so gut wie keine entsprechenden Studien gibt, müssen sich die nachfolgenden Erkenntnisse also auf US-amerikanische Untersuchungen beziehen, was bei der Interpretation zu berücksichtigen ist. Im Einzelnen:

RELIGIOSITÄT UND PSYCHISCHE GESUNDHEIT

Im Selbstverständnis vieler Religionen werden religiöses Heil und Heilung im Sinne körperlicher und seelischer Gesundheit eng zusammen gedacht und konkret zusammen geführt. Das kann jeder Arzt und Psychologe bestätigen, den manchmal die Frage bewegt, was seinem Patienten jetzt wichtiger sein mag: Heil oder Heilung?

Bei Menschen mit seelischen Problemen kann die Antwort leichter fallen. Bei körperlich Kranken wird das entsprechende Verständnis schon viel schwerer. Doch auch hier gibt es inzwischen Untersuchungen, die die gleiche Konstellation erahnen lassen.

Obgleich sich also dieses Problem im seelischen Bereich weniger kompliziert bzw. verdeckt darstellt, hielten und halten sich noch immer gerade die psychiatrisch-psychotherapeutisch Tätigen, also Psychiater, Psychotherapeuten und Psychologen bedeckt, fast schon „traditionell skeptisch“ (beginnend mit dem „Vater der Psychoanalyse: Prof. Dr. Sigmund Freud).

Das erstaunt umso mehr, als es sich ja gerade hier um jene Fachrichtungen handelt, die gleichsam ausschließlich mit dem Mittel des therapeutischen Gesprächs arbeiten, in dem spirituelle Aspekte in den meisten Fällen eigentlich nicht ausblendbar sind. Und in der Tat: Standardwerke der Psychiatrie, Psychotherapie (und vor allem Psychoanalyse) sowie die entsprechenden Lehrbücher weisen entweder gar keine oder sehr seltene Treffer im Stichwortverzeichnis zu den Begriffen „Glaube“ und „Gebet“ auf. Was allenfalls ein wenig „angeleuchtet“ wird, sind die eher abstrakt abgehandelten Begriffe „Religion“ und „Spiritualität“.

Wenn aber bisher irgendwelche Untersuchungen bzw. treffender: Teil-Aspekte in Untersuchungs-Ergebnissen diskutiert wurden, dann vorwiegend belastende Zusammenhänge zwischen Religiosität und psychischer Gesundheit, also vermehrt Ängstlichkeit, Abhängigkeit, Depressivität und sogar geringe soziale Integration. Auch Autoritarismus (Selbstherrlichkeit) und die Neigung zu Vorurteilen werden im Rahmen engerer religiöser Bindungen beklagt.

Vor etwa einem Vierteljahrhundert hingegen konnte man auch von positiven Effekten religiöser Lebenseinstellung hören, und zwar nicht nur für seelische, sondern auch körperliche Gesundheitsfaktoren. So sollte Religiosität zumindest tendenziell mit einer besseren seelischen Gesundheit einher gehen, vor allem mit weniger Stress, höherer Lebenszufriedenheit, geringerer Depressivität, größerer Zufriedenheit in Ehe und Familie und sogar mit einem längeren Leben generell. Konkrete Gesundheits-Aspekte betrafen vor allem weniger Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Substanzmissbrauch (Alkohol, Rauschdrogen u. a.) und eine geringere Selbsttötungsneigung. Dafür mehr Wohlbefinden und Lebenssinn.

An Kritikern hat es aber nicht gefehlt. Erstens war der statistische Zusammenhang nur sehr schwach positiv. Zweitens nicht in allen Publikationen durchgehend erkennbar. Drittens scheinen rein methodisch die Voraussetzungen nicht immer zur Zufriedenheit skeptischer Experten auszufallen. Und zuletzt stellen sich – wie erwähnt – sowohl Religiosität als auch psychische Gesundheit sehr komplexe, vielschichtige Phänomene dar, die sich ungeheuer schwer auf einen Nenner (Fachbegriff: Operationalisieren) bringen lassen.

Letztlich muss man hier auf sehr einfache Einteilungsversuche zurückgreifen, die aber trotzdem einen gewissen Hinweiswert zu haben scheinen: Der positive Zusammenhang mit einer religiösen Einstellung wird nämlich umso deutlicher, je stärker eine verinnerlichte religiöse Sozialisation und bewusst gelebte Religiosität vorliegt. Will heißen: Eine religiöse Einstellung um ihrer selbst willen ist von erheblicher persönlicher Bedeutung. Kurz: „Gelebte Religiosität von innen heraus“ zahlt sich aus, so manche Experten.

Wer hingegen nur den äußeren Kirchgang pflegt, aus welchen Gründen auch immer, aber keine innerseelische Beziehung zu Religion, Glauben, Gott und Gebet aufbauen konnte, tut sich laut entsprechender Untersuchungen so schwer wie jemand, der mit diesen Aspekten wenig oder gar nichts anfangen kann.

Das betrifft vor allem die Gesunden, konkret die „klinisch Gesunden“ (was soviel heißt wie „derzeit nicht in ambulanter oder gar stationärer psychiatrischer Behandlung“), denn ansonsten gilt ja der ironische Mediziner-Kalauer: „gesund ist schlecht untersucht ...“

Wie sieht es aber mit Patienten aus, die mit konkreten seelischen Krankheiten zu ringen haben? Auch dazu gibt es aus der US-amerikanischen Literatur laut C. Klein und C. Albani interessante Erkenntnisse:

SEELISCHE KRANKHEITEN

Dazu gehören vor allem Suchtkrankheiten, Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen, schizophrene Psychosen, ja, sogar neurologische Erkrankungen u. a. Im Einzelnen:

  • Beim Substanzmissbrauch, wie der moderne Begriff für Suchtkrankheiten heute lautet, finden sich vor allem Alkoholismus, Rauschdrogenkonsum, Medikamentenabhängigkeit, Nikotinsucht und die Mehrfachabhängigkeit.

Zwischen Religiosität und dem Missbrauch psychotroper Substanzen (s. o.) ergeben sich bemerkenswerte Korrelationen, oder auf Deutsch: Alkoholismus beispielsweise ist bei regelmäßigen Kirchgängern sowie Angehörigen bestimmter Religions-Gemein­schaften in den USA signifikant (also statistisch beweisbar) niedriger als bei anderen Personen. Als Ursache vermuten die Autoren sowohl direkte Verhaltensnormen (z. B. relative oder völlige Abstinenz), aber auch indirekt wirkende religiös geprägte Ideale. Dazu gehören Partnerschaft, familiäre Harmonie, sozial engagiert u. a., die mit übermäßigem Konsum unvereinbar sind.

Gerade bei Alkoholabhängigkeit könnte demnach bei gläubiger Einstellung ein religiöser Bezug hilfreich sein, um Unterstützung jenseits der eigenen Hilflosigkeit wahrzunehmen, betonen die Experten.

  • Depressionen bzw. Depressivität scheinen in Bezug auf Religiosität interessante und vor allem gut objektivierbare Korrelationen (Verbindungen) aufzuweisen. Dabei muss man allerdings zwischen Depressionen als konkreten Krankheitsbildern und Depressivität als Stimmungstief unterscheiden. Tendenziell scheint aber Religiosität mit geringerer Depressivität einher zu gehen, erläutern die Autoren. Vor allem nach kritischen Lebensereignissen kann sie sich als hilfreiche Ressource, also tragfähige Hilfsquelle erweisen.

Hier gilt es jedoch deutlich zu unterscheiden: Religiosität um ihrer selbst willen, bewusst gelebt und vor allem verinnerlicht (Fachbegriff: intrinsische Religiosität), vermag durch konstruktive religiöse Bewältigungsformen, d. h. Wahrnehmung menschlicher, wie auch göttlicher Hilfe, bewusste eigene Auseinandersetzung usw. der Depressivität entgegen zu wirken. Umgekehrt sieht dies bei der so genannten extrinsischen Religiosität problematischer aus: Extrinsisch heißt nur äußerlich, z. B. Kirchgang ohne Hinweise auf weniger tief gehende Empfindungen. Und das bedeutet nach Ansicht mancher Experten eher ein Risiko, z. B. Vorwürfe gegen Gott, Vermeidung entsprechender Auseinandersetzungen u. a.

Diese Art von „innerer oder äußerer Religiosität“ ließ sich übrigens auch in deutschen Untersuchungen als ausgeprägteres Stimmungs-Risiko nachweisen. Dabei kamen nicht nur die intrinsisch motivierten Hoch-Religiösen besser weg, sondern sogar die Nicht-Religiösen.

Eine echte, innerseelisch motivierte Religiosität erleichtert also bei depressiven Episoden die Stimmungs-Aufhellung. Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass bei schweren depressiven Störungen auch religiöse Überzeugung, Empfindung und vor allem die Glaubensfähigkeit leiden können; man spricht hier sogar von einer emotionalen Entleerung des Glaubens oder schlicht: Mir ist sogar meine Glaubensfähigkeit abhanden gekommen, jetzt, wo ich sie doch so besonders nötig hätte. Dieses Symptom (tatsächlich handelt es sich um ein regelrechtes und in religiösen Regionen gar nicht so selten beklagtes Krankheitszeichen) geht aber mit schwindender Depression wieder zurück. Es hat also nichts mit der innerseelischen Grund-Einstellung zu tun, sondern ist ein, wenn auch besonders quälender Teil des depressiven Beschwerdebildes.

Schließlich weisen die Experten auf eine niedrigere Selbsttötungs-Gefahr bei konfessionell Gebundenen bzw. religiös Aktiveren hin, was nicht zuletzt mit der geringeren Depressivität zu tun haben soll. Manche Fachleute sind auch der Meinung, dass unter Religiösen die Partner-Bindung, Ehe-Zufriedenheit und damit eine wichtige Stütze in depressiver Not ausgeprägter sind. Auch die Scheidungsrate sei unter Religiösen geringer, was ja bekanntlich in der krisenhaften Zuspitzung verschiedener Belastungen ein nicht unerheblicher Suizidalitäts-Faktor sein kann.

  • Auch Angststörungen können bei intrinsisch motivierter Religiosität besser beherrscht werden, nicht jedoch bei ihrer extrinsischen Form, um jetzt einmal bei diesen wissenschaftlichen Fachbegriffen zu bleiben. Das scheint sogar andere Religionen (z. B. eine buddhistische Stichprobe) zu beweisen.

Interessanterweise soll auch die Art der Angststörung eine Rolle spielen, selbst bei religiöser Einstellung. So sind beispielsweise Generalisierte Angststörungen (schlicht gesprochen: eine ständige Erwartungsangst) oder Phobien (Zwangsbefürchtungen) offenbar besser zu ertragen, insbesondere bei religiös bedingter sozialer Eingebundenheit, bei weniger Rache-Gefühlen und vermehrter Dankbarkeit.

Leicht erhöht sei dafür das Risiko für Panikattacken, also überfallartige Angststörungen, die damit offenbar weniger auf eine innerseelisch-religiöse Stabilität reagieren.

  • Zwangsstörungen, früher Zwangsneurosen genannt, berichten ebenfalls etwas häufiger als andere Patienten über Konflikte aus dem religiösen Bereich. Dies betrifft auch hoch-religiöse Zwangspatienten, bei denen sich die Zwänge dann vermehrt auf religiöse Vorstellungen oder gar Handlungen ausweiten können.
  • Schizophrene Psychosen lassen wissenschaftlich keinen systematischen Zusammenhang zwischen der Intensität ihrer Religiosität und religiösen Elementen ihres psychotischen Beschwerdebildes erkennen. Ähnliches gilt auch für schizotype Störungen (siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie), wobei allerdings gerade hier noch entsprechender Forschungsbedarf besteht.

Interessant auch der Umstand, dass selbst organische Leiden mit seelischen und psychosozialen Folgen durch „religiöse und spirituelle Symptome“ auffallen, und zwar schon in früheren Zeiten. Gemeint sind hier vor allem die Epilepsien. Bestimmte Eigenheiten in der Persönlichkeitsstruktur ergaben sich bei den Epilepsien tatsächlich häufiger als in der Allgemeinbevölkerung. Einiges geht auf die Erkrankung selber zurück, einiges auf die Nebenwirkungen der Antiepileptika und nicht weniges auf die psychosoziale Reaktion der Betroffenen auf ihr Leiden mit entsprechenden Konsequenzen im Alltag. Dabei entspricht das frühere Konzept der „epileptischen Wesensänderung“ nicht mehr den heutigen Erkenntnissen. Trotzdem bleiben einige Symptome übrig, was vor allem die so genannte Schläfenlappen-Epilepsie (Fachbegriff: komplex-fokale Epilepsie) betrifft. Inzwischen spricht man von einer „interiktalen Persönlichkeitsstörung“, früher als „epileptische Wesensänderung“ bezeichnet. Beispiele: viskös (mangelnde Umstellungsfähigkeit und Wendigkeit, zähflüssiger Gedankengang usw.), humorlos, Neigung zu Traurigkeit, Ärger, aber auch Reizbarkeit, veränderte (eher gedämpfte) Sexualität, Umständlichkeit, wahnhafte Reaktionen, Schuldgefühle, aber auch gesteigerte Emotionalität (Gefühlsbezogenheit bis hin zur „Gefühlsduselei“ bzw. einem inhaltslosen Glücksgefühl), Neigung zu Abhängigkeit oder gar Passivität, zu Zwanghaftigkeit u. a.

Was aber gerade in diesem Zusammenhang häufig auffällt, ist das, was die Experten eine „Hyper-Religiosität“ nennen, oft verbunden mit einer Art „Hyper-Moralismus“, der sich auch schriftlich in einem überzogenen moralisierend-religiösen Gepräge ausdrücken kann.

Wahrscheinlich handelt es sich hier neben den Folgen einer oft nicht zu umgehenden Stigmatisierung um neurologische, konkret psychophysiologische Ursachen, die sogar auf bestimmte Gehirnareale lokalisiert werden (z. B. das so genannte limbische System, der temporale Neokortex und vor allem Veränderungen des frontalen Bereichs = Stirnhirn).

RELIGIOSITÄT UND KÖRPERLICHE STÖRUNG

Wie schon erwähnt: Die meisten Amerikaner beschreiben sich als religiös, wobei im Krankheitsfall diese Zahlen noch weiter ansteigen (s. o.). Dies wird übrigens von den Ärzten oft unterschätzt. Dazu Näheres siehe später. Jetzt noch einmal zurück zu einem bereits angeschnittenen Problem:

Im Gegensatz zu dem offenbar immensen Bedarf wird der Themen-Komplex „Spiritualität“ v

ollständig aus der modernen Medizin ausgeblendet, beklagt Prof. Dr. H. Cseff, Leiter der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II der Universität Würzburg in der Fachzeitschrift Münchner Medizinische Wochenschrift 51 (2007) 35. Das habe – so zitiert er einen anderen Forscher – mit der komplexen Geschichte der Wissenschaft als Kind der Aufklärung und damit in partieller Opposition zur verfassten Religion zu tun. Dabei spricht die aktuelle Statistik offenbar eine deutliche Sprache, die in Mediziner-Kreisen aufhorchen lassen sollte.

In einem Überblick zu verschiedenen Studien über die Einflüsse der Religion, was gesamthaft dann doch auf mehr als 40.000 gesunde Probanden kam, fiel die Mortalität-(Sterblichkeits-)Rate ganz erheblich bei denen ab, die regelmäßig religiöse Praktiken ausübten. Umgekehrt fanden Untersuchungen an beispielsweise 600 Patienten mit unterschiedlichen Magen-Darm-Erkrankungen eine um 30% erhöhte(!) Mortalitäts-Rate innerhalb der folgenden zwei Jahre bei jenen Patienten, die Gott als Bestrafer erlebten oder befürchteten, von Gott verlassen zu sein.

In Bezug auf Krebs-Erkrankungen konnten zwar bisher keine Auswirkungen religiöser Praktiken auf das Fortschreiten bzw. die Überlebenszeit nachgewiesen werden. Doch zeigten verschiedene Studien mit Tumor-Patienten einen Zusammenhang zwischen Spiritualität und Lebensqualität, Angst, Depression, Hoffnungslosigkeit und Suizidalität, gibt Prof. Cseff zu bedenken. Erlebten die Patienten hingegen ihre spirituelle Einstellung als belastend, so verschlechterte sich ihr Zustand (s. o.).

WIE HÄNGEN GESUNDHEIT UND RELIGIOSITÄT ZUSAMMEN?

Welche seelischen, psychosozialen oder gar biologischen Mechanismen liegen nun diesen Veränderungen zugrunde? Sind es Sinnsuche (erfüllt oder nicht), Selbstvertrauen (vorliegend, ausgebaut, zerstört) oder Gemeinschaft (verfügbar, unterstützend, Rückzug, Isolation und Einsamkeit)? Was sagt die Wissenschaft dazu?

Eine interessante Übersicht über die wichtigsten Erklärungs-Ansätze geben wieder die Psychologen und Theologen C. Klein und C. Albani von der Universität Leipzig. Dabei führen sie sechs Theorien an, von denen sie aber ausdrücklich betonen, dass sie sich einander nicht ausschließen, sondern in einer jeweils anderen Sichtweise ergänzen, potenzieren, zumindest aber akzentuieren. Im Einzelnen (in der Fachsprache der Experten):

  • Die Theorie der sozialen Unterstützung: Zwischenmenschliche Hilfe und konkrete Unterstützung innerhalb religiöser Gemeinden (wohl jeglicher Glaubensrichtung, darf unterstellt werden) stehen auf Grund hoher Kohäsion (Fachbegriff aus der Biologie, hier als psychosoziale Bindekraft gemeint) und Hilfsbereitschaft für bessere Gesundheitswerte.

Religiöse Gemeinschaften können eine Quelle von Hilfe, Trost und Anteilnahme sein, versichern die Experten, ohne aber mögliche Gefahren zu unterschlagen: Die sind nämlich nicht zu unterschätzen, wenn die soziale Unterstützung zum sozialen Druck wird und die Mitgliedschaft in einer religiösen Gruppierung zu gesellschaftlicher Isolation führt, wie man das nicht selten bei Sekten, mitunter aber auch bei akzeptierten Religionsgemeinschaften registrieren muss.

Hier spielt vor allem der Faktor „religiöse Toleranz“ eine große Rolle. Denn die Ablehnung durch Nicht- oder Andersgläubige von außen kann für den Betreffenden erhebliche Konflikte hervorrufen. Was natürlich auch umgekehrt möglich ist: Ablehnung seitens der religiösen Gemeinschaft gegenüber so genannten Nicht- oder Ungläubigen bzw. Andersgläubigen. Hier drohen natürlich Rückzug, Isolation und Gruppen-Hörigkeit (hörig = also nicht nur fügsam, lenkbar, brav, sondern ergeben, demütig, unterwürfig, willfährig, letztlich blinder Gehorsam ohne Kontrolle von außen oder innerseelisch-rational).

  • Verhaltens-Regulation: Religiöse Überzeugungen enthalten auch konkrete Handlungsanweisungen für den Alltag. Beispiele: Körperpflege und weitere äußere Aspekte, körperliche und geistige Aktivität, Ernährung, Einstellung gegenüber Genussmitteln wie Alkohol und Nikotin (bis hin zur Abstinenz), Ruhezeiten, Sexualverhalten u. a. Und sie enthalten auch Verhaltensregeln, die zur Nächstenliebe und Vergebung auffordern und zu Altruismus (Selbstlosigkeit, uneigennützige Einstellung gegenüber anderen) anregen.

Tatsächlich finden sich unter Religiösen – wie erwähnt - auch eine höhere Ehe-Zufriedenheit und niedrigere Scheidungsrate, geringere Häufigkeit zu Missbrauch und Abhängigkeit von Alkohol u. a. Das kann durchaus als Folge religiös geregelter Verhaltensweisen auf Grund eines eigenen, moralisch und ethisch geleiteten Wertsystems erklärt werden.

Religiöse Überzeugungen, vor allem in Bezug auf das Gesundheitsverhalten, können aber auch fehl-geleitet und damit schädlich sein, geben die Experten aber auch hier zu bedenken. Das zeigt beispielsweise die religiös motivierte Ablehnung medizinischer Eingriffe in einigen Sondergemeinschaften, z. B. auf Grund der Erwartung von Glaubensheilungen, die im Extremfall eine gesundheitliche Verschlechterung, wenn nicht gar zusätzliche Leiden nach sich ziehen. Schließlich hört man immer wieder von Todesfällen, die aus medizinischer Sicht vermeidbar gewesen wären, und zwar nicht nur für die Betreffenden selber, sondern auch für abhängige Familienmitglieder (z. B. unmündige Kinder).

  • Kognitive Orientierung: Zahlreiche, wenn nicht die meisten religiösen Überzeugungs-Systeme enthalten umfassende Erklärungsmodelle, warum die Welt so ist, wie sie ist (d. h. durchaus nicht befriedigend, gerecht, akzeptabel). Damit können sie zu einer sinnhaften Orientierung in einem System beitragen, das in seiner Komplexität und vor allen Dingen im ständigen Wandel letztlich undurchschaubar wird; undurchschaubar und damit ggf. bedrohlich, zu Resignation, Hilflosigkeit, Fatalismus anregend.

Es geht also darum, einen (höheren) Lebenssinn zu schaffen. Und hier können religiöse Systeme bzw. Wirklichkeits-Deutungen durchaus Werte vermitteln wie Kontrolle und Sinn, Selbstbewusstsein, kurz: ein aus gesundheitlicher Sicht wichtiges Gefühl von Kohärenz (s. o.).

Das ist vor allem bei kritischen Lebensereignissen, seien sie seelischer, psychosozialer oder körperlicher Natur von großer alltags-relevanter Bedeutung. Denn die meisten religiösen Traditionen weisen einen umfangreichen Erfahrungsschatz von Leidens-Erfahrungen auf, die auch entsprechende Bewältigungs-Empfehlungen enthalten und damit konkrete Bewältigungs-Anleitungen, die letztlich auf jedes Schicksal anwendbar sind (Stichwort: „göttlicher Plan“, „der Herr hat es so gewollt“).

Es versteht sich von selber, dass ein gläubiger Mensch unter diesem Aspekt sein individuelles Leidens-Niveau zumindest ein wenig senken kann, indem er dem Ganzen einen „höheren, wenn auch schmerzlichen Sinn“ zugesteht. Die Gefahr dieser Einstellung besteht allerdings darin, dass sich solche religiöse Wirklichkeits-Deutungen zu starren, perfektionistischen Überzeugungen verdichten können, die auf alten Strukturen beharren und neue Lösungsmöglichkeiten ausschließen.

  • Alternative Werte: Religiöse Überzeugungs-Systeme enthalten häufig eine gesellschafts-kritische Note. Diese stellt vor allem alternative Werte zur Diskussion. Beispiele: Demut, soziales Engagement sowie Verzicht statt Macht, Selbstverwirklichung und Genuss. Damit können sich jene, die hier nach neuen Möglichkeiten der Lebensgestaltung suchen, von Erfolgs- und Konformitäts-Druck (sein müssen, wie man zu sein hat, jedenfalls nach derzeit gängiger Meinung) und somit von Stress befreien. Das erleichtert vor allem bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf vielen Ebenen.

Der Glaube von Hochbetagten
„Von Mal zu Mal stand ich im Banne dieser unbeirrbaren Frohmütigkeit und Abgeklärtheit und der für den Beschauer irgendwie beschämend wirkenden Bescheidenheit, Dankbarkeit, Demut und Ergebenheit in eine gütige Vorsehung“.

Zitiert nach H. Franke, 1985

Die meisten Religionen betonen auch ausdrücklich den Sinn von Leid und die Würde der Leidenden. Damit helfen sie natürlich das persönliche Schicksal nicht als unrecht zu empfinden. Derlei zeigt sich besonders bei schwer oder gar todkranken Patienten mit religiöser Einstellung – im Gegensatz zu manchen nicht-religiösen Kranken, die dann auch nicht über eine solche inner-seelische Stabilität verfügen.

Problematisch werden allerdings die alternativen Werte, wenn sie übersteigert idealisiert (verklärt) und verabsolutiert werden (dies und nur dies).

  • Positive Emotionen: Zahlreiche Religionen sehen den Menschen in enger Beziehung zu einem oder zu mehreren Göttern. Eine solche Gottes-Beziehung ist – psychologisch gesehen – eine spezifische Form der Bindung und vermittelt natürlich im günstigen Falle ein Gefühl des Vertrauens, des unbedingten Angenommen-Seins und der fürsorglichen Liebe durch eine höhere Macht. Das stärkt selbstredend den Selbstwert und damit das Selbstwert-Gefühl im Alltag.

Bei einer missglückten Gottes-Beziehung können jedoch beeinträchtigende religiöse Ängste drohen, beispielsweise vor Versuchung, Versündigung, göttlichem Gericht u. a. Damit werden seinem Gott bzw. in anderen Religionen seinen Göttern gegenüber auch negative Gefühle möglich, vielleicht sogar beherrschend, mit allen Konsequenzen auf seelischem, psychosomatischem, psychosozialem und ggf. sogar körperlichem Gebiet.

  • Göttliches Handeln: Der Glaube an einen fürsorglichen, liebevoll und hilfreich handelnden Gott kann natürlich ein positives religiöses Bewältigungs-Verhalten für die Nöte, Kümmernisse und Beschwernisse des Alltags vermitteln. Widrigen Schicksalsschlägen ist man zwar trotzdem ausgesetzt, aber nicht hoffnungslos ausgeliefert. Der Glaube an das göttliche (zweckgerichtete und vor allem für einen selber sinnvolle) Handeln kann also Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Einer der möglichen Einflüsse besteht beispielsweise im Gebet.

Die Experten haben dabei drei so genannte Coping-Stile unterschieden (Coping = englischer Fachbegriff, für den noch keine adäquate deutsche Bezeichnung vorliegt. Sinngemäß: „Bewältigungs-Strategien“ bzw. Anstrengung zur Überwindung von Schwierigkeiten):

- Einen „selbst-direktiven Stil“, bei dem keine Hilfe von Gott erwartet, sondern ausschließlich die eigene Aktivität als entscheidend erachtet wird („hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“, und zwar ironisch gemeint, also letztlich auf sich selbst angewiesen),

- einen „kollaborativen Stil“, bei dem von einer Unterstützung Gottes für das eigene Tun ausgegangen wird (jetzt im positiven Sinne obiger Spruch),

- ein „delegierender Stil“, bei dem ausschließlich von Gott Hilfe erhofft wird, während der Betroffene selber passiv abwartend bleibt.

Die besten Ergebnisse pflegt – wie nicht anders zu erwarten – der kollaborative Coping-Stil zu ergeben, vor allem was eine effektivere Stress-Bewältigung anbelangt. Ist die Belastung weniger ausgeprägt, kann auch der selbst-direktive Stil hilfreich sein. Hat man jedoch keinerlei Kontrolle mehr über das Geschehen (oder auch über sich selber), wird es ggf. schon enger.

Auf jeden Fall geht ein positives religiöses Coping (aktive Auseinandersetzung mit Belastungen und dabei wahrgenommener Unterstützung Gottes und der religiösen Gemeinschaft) mit besseren Ergebnissen zur Stress-Bewältigung generell einher. Das Gegenteil findet sich bei negativem religiösen Coping, d. h. Passivität und Enttäuschung durch Gott und die religiöse Gemeinschaft mit entsprechender Unzufriedenheit oder gar Anklage.

  • Schlussfolgerung: Allen diesen Erklärungs-Modellen ist nach C. Klein und C. Albani gemeinsam, dass die adaptiven (sich anpassenden) psychischen Mechanismen das Stress-Niveau absenken und positive Emotionen (Gefühle, Gemütsregungen) hervorrufen können. Das geht dann auch mit gesundheits-dienlichen neuro-immunologischen und physiologischen Effekten einher, sprich von den zentralen Gehirnfunktionen gesteuerte Blutdruck, Puls, körpereigene Infekt-Abwehr, Stoffwechsel u. a. Darin wird auch die unmittelbare Ursache für den positiven Zusammenhang gesehen, der sich zwischen Religiosität und körperlicher bzw. seelischer Gesundheit beobachten lässt.

DAS GEBET ALS THERAPIE?

Wer diesen Ausführungen bis hierher gefolgt ist, hat auch schon mehrfach die Begriffe Gebet und Fürbitte als helfender Faktor gelesen bzw. erahnt. Gibt es dazu konkrete Untersuchungen? Ist das Gebet eine anwendbare Therapie-Methode, fragen sich Ärzte und Psychologen. Soll der Patient selber beten oder für sich beten lassen? Gibt es dazu wissenschaftliche Belege?

Das Thema ist umstritten, aber Untersuchungen gibt es inzwischen auch. Die Ergebnisse reichen dabei von einer Symptom-Verbesserung bis hin zum Fürbitte-Gebet als Risikofaktor, also auch kritische Einwände. Nachfolgend eine kurze Übersicht, wie sie Dr. R. Hefti, Chefarzt einer psychosomatischen Klinik und Leiter eines Forschungsinstitutes für Spiritualität und Gesundheit in der Schweiz in der Fachzeitschrift Münchner Medizinische Wochenschrift 51/52 (2007) 31 referiert:

Die Untersuchungen und Ergebnisse kommen – man ahnt es schon – zumeist aus dem US-amerikanischen Bereich. Dabei geht es vor allem um eine der ältesten religiösen Heilungs-Traditionen, das „fürbittende Gebet“. Und es geht um körperlich Kranke, was die Untersuchungssituation erst einmal erleichtert (im Gegensatz zu Depressiven, Schizophrenen, Angstpatienten, Suchtkranken u. a. mit einer spezifischen Problematik, die das so genannte Untersuchungs-Design natürlich noch komplizierter machen kann). Beteiligt waren renommierte Universitäten und Kliniken in den USA.

So galt eine der Studien einer großen Zahl von Bypass-Patienten (mit künstlichem Umgehungs-Keislauf bei Verengung oder Verstopfung der Herzkranzgefäße) und ihrem Genesungs-Verlauf während und nach der Herz-Operation. Für eine Gruppe wurde aktiv gebetet, ohne dass diese es wusste. Für die andere wurde nicht gebetet und für die dritte wurde gebetet, wobei sie darüber informiert wurde. Die ersten beiden Gruppen unterschieden sich hinsichtlich postoperativer Komplikationen nicht. Was zeigte die dritte Gruppe, die um die Fürbitte um sie wusste? Ihr ging es nicht besser, eher ein wenig, aber statistisch nicht signifikant schlechter, d. h. sie wies eine etwas höhere Komplikationsrate auf.

Ist das Fürbitte-Gebet damit ein Risikofaktor und nicht – wie erwartet – ein heilsamer Zusatz zur Standard-Therapie des Internisten bzw. in diesem Falle der Kardiologen, fragt Dr. R. Hefti.

Das ist nun spannend und setzt einen etwas ausholenden Überblick voraus: In den USA gab ein Drittel der Befragten an, das Gebet im Zusammenhang mit Gesundheitsproblemen bewusst „einzusetzen“. Das ist die aktive Komponente. Acht von zehn Amerikanern glauben offenbar an die heilende Kraft des Gebetes und zwei Drittel sind der Meinung, dass sogar Ärzte mit ihren Patienten beten sollten, sofern sie dies wünschen.

Diese Zahlen zeigen, dass der Glaube an das Gebet in der Bevölkerung der USA tief verankert ist, eine moderne Nation, zusammengesetzt aus vielen Völkern der Welt.

Gilt dies auch für Deutschland? Ja, wenn auch in geringerem Ausmaß. Hier ergab eine Umfrage, dass ein Fünftel der Westdeutschen täglich betet und weitere 20% berichten, dass sie oft konkrete Hilfe von Gott erfahren hätten. In einer in Österreich durchgeführten Untersuchung bei ebenfalls herz-operierten Patienten gab jeder zweite an, dass er unter diesem Aspekt gebetet habe (und im Übrigen auch wisse, dass andere für ihn beteten).

Tatsächlich beschäftigt sich auch die Wissenschaft vermehrt mit dem Gebet als möglichem Therapeutikum. Aktuell – so der Autor – kenne er 22 entsprechende Studien, die sich mit der Wirkung des Gebetes bei Kranken beschäftigen. Etwa die Hälfte sind internistische, speziell kardiologische (Herz-Kreis­lauf-) Erkrankungen, wobei vor allem das Fürbitte-Gebet untersucht wurde. Das kann sowohl direkt mit dem Patienten, als auch auf Distanz geschehen. Daneben gibt es noch andere Formen von spirituellen oder noetischen Therapien (Noetik – Erkenntnislehre, geistiges Wahrnehmen). Einzelheiten dazu siehe die Spezialliteratur.

Dass sich hier so manche methodische Schwierigkeiten stellen, ist jedem klar. Also muss man so nüchtern vorgehen, wie irgend möglich. Tatsächlich gibt es dazu in den USA eine gewisse Tradition, die offenbar auch weitergeführt wird. In einer Studie an Patienten mit symptomatischer rheumatoider Arthritis mit unterschiedlichen Gebets-Unterstützungen durch ein Gebets-Team zeigte sich, dass das direkte Fürbitte-Gebet den Schmerzverlauf und die subjektiv(!) wahrgenommenen, krankheitsbezogenen Einschränkungen abmildern kann, sogar bei Patienten mit fortgeschrittenem Leiden. Selbst bei der Anzahl geschwollener Gelenke fand sich eine Tendenz zur Besserung, nicht hingegen bei entzündlicher Krankheitsaktivität. Und alles jeweils parallel zu einer Gruppe, die keine Fürbitte erfahren hat, aber in gleicher Form nachuntersucht wurde. Ähnliches zeigte sich im Rahmen einer anderen Studie mit den Hauptdiagnosen akuter Myokardinfarkt (Herzinfarkt), instabile Angina pectoris („Herzkrampf“) sowie akute Herzinsuffizienz (Herzschwäche).

Diese und andere Folge-Studien stießen allerdings aus verschiedenen Gründen auf heftige Kritik, die aber nicht nur methodisch, sondern auch ethisch, ja theologisch getönt waren („die Wirkung des Gebetes und damit Gott selber auf den Prüfstand zu stellen“). Das Ganze nahm also eher weltanschauliche Dimensionen an.

Neben dem Gebet wurden übrigens – und wiederum vor allem bei Herz-Kreislauf-Patienten – auch Musik, Imagination (psychotherapeutische Methode, bei der man unbewusste Inhalte dem Bewusstsein zuführen kann, gewöhnlich in Form „aufsteigender Symbole“) und heilende Berührung eingesetzt. Auch hier wieder ein offenbar durchaus positives Ergebnis, wobei dem fürbittenden Gebet die stärkste Wirkung zugeschrieben wurde.

Bei Nachfolge-Studien, bei denen aber weder die Patienten noch die beteiligten Kliniken wussten, für wen gebetet wurde, fanden sich hingegen keine Unterschiede. Das gleiche galt auch für andere noetische Therapien (also Musik, Imagination und Berührung). Interessanterweise aber hatten – so der Autor – sowohl in der Gebets-, wie auch in der Nicht-Gebetsgruppe etwa zwei Drittel der Patienten den subjektiven Eindruck, dass für sie gebetet wurde.

Das vorläufige Fazit des Autors lautet: Vor allem die methodisch akzeptablen Studien konnten bisher keinen statistisch nachweisbaren Effekt des fürbittenden Gebetes dokumentieren, wie man es wissenschaftlich gerne hätte. Ist damit die Wirkung des Gebetes als Heilungsmethode widerlegt? Vor allem sind die hoffnungsvollen Ergebnisse früherer Untersuchungen (s. o.) damit hinfällig?

Wenn man das Gebet als eine „applizierbare Therapiemethode“ mit pharmakologischer Dosis-Wirkungs-Kurve vergleicht (also Gebet gegen Medikamente unter gleichen Bedingungen), so lautet seine Antwort: keine Wirkung nachweisbar. Das würde auch denjenigen entgegen kommen, die solche Untersuchungen als „Trivialisierung religiöser Erfahrungen“ geißeln (trivial = abgedroschen, platt, ohne höheren Anspruch).

Die Antwort auf das Gebet im Sinne des individuellen und unverfügbaren Wirken Gottes entzieht sich natürlich der statistischen Messbarkeit. Das heißt aber nicht, dass der Patient nicht seine eigenen Glaubens-Ressourcen (Hilfsquellen) stärken und Zuversicht bezüglich seiner Krankheit oder eines geplanten Eingriffs wecken bzw. intensivieren kann. Er kann, er soll, wenn seine innere Einstellung ihn dazu befähigt. Und auch beim direkten Fürbitte-Gebet durch andere für einen in Not befindlichen Mitmenschen werden selbstverständlich eigene Heilungs-Ressourcen aktiviert. Diesem Kompromiss schließen sich im Allgemeinen auch die meisten Skeptiker an.

Es bleibt spannend, es werden nicht die letzten Untersuchungen zu diesem Thema sein, vor allem in den USA. Ein Faktor aber beschäftigt die Medizin offenbar immer stärker, nämlich: Inwieweit soll sich der Arzt auf diese Fragen einlassen (können)?

RELIGIONS- UND GLAUBENSFRAGEN IN DER THERAPIE?

Man sieht: Religiosität, Gläubigkeit, Gebet, Spiritualität sind (wieder) im Kommen, lassen sich auch in der Medizin nicht mehr übergehen, eröffnen ein offensichtlich breites Diskussions-Feld. Was spricht dafür, was spricht dagegen?

Die Frage ist einfach: Soll im Alltag von Klinik und Praxis mehr auf Spiritualität und Religion eingegangen werden? Und wenn ja, wie, vor allem wie weit? Und wenn nein, wird hier eine wichtige, wenngleich derzeit unterschätzte Hilfsquelle nicht genutzt, ein ggf. bedeutsamer Behandlungs-Baustein im Arzt-Patient- bzw. Psychologe-Klient-Verhältnis ungenutzt gelassen? Gibt es bei letzterem ernsthafte Gründe, die über das „ungute Gefühl“ vieler Therapeuten hinaus gehen, wenn sie spirituelle, religiöse oder Glaubensfragen nicht von sich aus ansprechen (kommt der Patient von selber darauf, liegen die Dinge ganz anders, wenn auch immer noch nicht so vorteilhaft, wie es die Befürworter einschätzen)?

In der Tat: Die Gegenstimmen verteilen sich auf zwei Schwerpunkte:

  • Zum einen soll sich die Medizin aus diesem Themen-Komplex heraus halten, denn

- die bisherigen Ergebnisse sind vorläufig
- die in den vorliegenden Studien angewandten Methoden häufig unklar
- und die Risiken zu groß, dem Patienten zusätzlich zu schaden.

So fasst Prof. Cserf die wichtigsten Argumente unter Bezug auf entsprechende Autoren zusammen und ergänzt konkret:

- so könnten sich Patienten z. B. genötigt fühlen, einer Religion anzugehören; oder sie könnten sich schuldig fühlen, wenn sie keinem bzw. einem „falschen“ Glauben angehörten.

Darüber hinaus verweisen die Gegner auf den ohnehin bestehenden Zeitmangel der Ärzte, der durch eine „Vergrößerung des Aufgabengebietes“ auf spirituelle Fragen noch folgenschwerer werden müsste. Hier bietet sich ein Übergang zum zweiten Schwerpunkt an:

  • Warum wollen Ärzte spirituelle Themen nicht ansprechen, fragt Prof. Cserf und führt unter Bezug auf die Literatur und eigene Erfahrungen aus:

- Sie kennen die Gründe nicht, die für die Aufwendung zusätzlicher Zeit und Energie für diese Fragen sprechen.

- Sie sind ungeübt und fühlen sich oft unwohl bei der Thematisierung spiritueller Probleme.

- Die tägliche Routine lässt wenig Zeit für die Thematisierung spiritueller Fragen.

- Es besteht Furcht davor, wichtige Grenzen zu überschreiten.

Und einen, vor allem ausbildungs-bedingten wichtigen Faktor sollte er noch ergänzend hinzufügen: „Die Aus- und Weiterbildung in puncto spiritueller oder religiöser Führung bzw. Erörterung entsprechender Fragen tendiert gegen Null. Weder Universität noch Klinik bieten hierzu auch nur das Geringste an, auf jeden Fall im Rahmen der Pflicht-Fächer (z. B. Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie u. a.). Und wenn es sporadische Angebote gibt, beispielsweise in Ethik-Arbeitsgruppen, dann gehen sie meist in der Flut und Zeitnot des Regel-Angebotes unter. Selbst bei Interesse bleibt hier nur noch wenig Energie, geprüft wird derlei ohnehin (noch) nicht“ (Zitat eines pensionierten Psychiatrie-Professors).

Was sagen deshalb auch die Befürworter? Sie halten es beispielsweise für unverantwortlich(!), spirituelle Themen aus der Arzt-Patient-Beziehung heraus zu halten. Das war zu erwarten. Allerdings verschließen sie sich auch nicht entsprechenden Risiko-Faktoren. So darf Religion nicht als Heilmittel verschrieben werden. Auch darf der Arzt nicht versuchen, dem Patienten seine persönliche religiöse Meinung aufzuzwingen. Vielmehr sollte er sich bemühen, dem Kranken vollständig, d. h. mit seinen spirituellen Überzeugungen und Einstellungen zu erfassen, so Prof. Cserf, entsprechende Experten zitierend. Und weiter:

Die Thematisierung spiritueller Fragen von Seiten des Arztes sei bereits eine machtvolle Intervention an sich. Durch sie drücke der Arzt sein Interesse am Patienten als Person aus. Gerade durch die Wahrnehmung und Unterstützung dessen, was dem Patienten im tiefsten Inneren seinen Seelenlebens Sinn und Hoffnung gibt, kann der Arzt in einer medizinisch schwierigen Situation wertvolle Hilfe anbieten. Und wer sich hier unsicher fühle, der könne sich auf kleine, aber bewährte Fragen-Sammlungen verschiedener Autoren zurückziehen; außerdem existieren standardisierte und evaluierte Fragebögen (d. h. wissenschaftlich fundiert).

Im deutschen Sprachraum artikuliert solche Überlegungen beispielsweise die Universitäts-Professorin Dr. Inge Scharrer von der Medizinischen Klinik der Universität Mainz. In der Fachzeitschrift Münchner Medizinische Wochenschrift 51/52 (2007) 39 findet die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft christlicher Ärzte (ACM) und Vorsitzende des Christlichen Aids-Hilfsdienstes deutliche Worte, nicht zuletzt im Hinblick auf die Erfolge in den USA. Sie schreibt sinngemäß:

Eines der wichtigsten Wesensmerkmale eines guten Arztes ist die Empathie, das Einfühlungsvermögen in eine andere Person, d. h. sich in die Gedanken, Gefühle und Erlebnisse des anderen hineinzuversetzen und diese objektivierend wahrzunehmen (ein ganz normaler Vorgang übrigens in der Beziehung zwischen Mutter und Kind). Auch muss er seinen Patienten Hoffnung vermitteln können und eine gewisse Stärke ausstrahlen, um bei ihnen positive Ressourcen zu wecken, also Kenntnisse, Erfahrungen, Eigenschaften, die sich jetzt hilfreich einsetzen lassen, um einen persönlichen Konflikt, eine schwierige Lebenssituation, eine Selbstwertkrise usw. zu bewältigen.

Die Fürsorge – so Frau Prof. Scharrer –, d. h. ihn ganzheitlich zu betreuen und nicht nur den Blick starr auf ein Symptom und dessen Überwindung gerichtet, sei die eigentliche Berufung des Arztes – oder sollte es sein (im engl. „caring“ = liebendes Sorgen). Doch die neuere medizinische und vor allem gesellschaftliche Entwicklung lässt dies kaum mehr zu. Der Arzt steckt im „Schraubstock der Ökonomie“, d. h. unzumutbare Arbeitsbelastungen, überlange Arbeitszeiten, eine wuchernde Bürokratie (und eine damit nicht mehr leistungsgerechte Bezahlung).

Damit wird der Arzt zum Unternehmer, der niedergelassene Praxisinhaber ohnehin, aber sogar schon der Klinik-Assistent (jedenfalls muss er sich den administrativen Bedingungen fügen). Und der Patient wird zum Kunden (trotz des wohlfeilen Slogans: „In unserer Mitte der kranke Mensch“). Gesundheit ist tatsächlich ein hohes Gut, aber sie ist keine Ware, mahnte schon der frühere Bundespräsident Rau und fuhr fort: Ärzte sind keine Anbieter und Patienten sind keine Kunden.

Eines der wichtigsten Wesensmerkmale bleibt also auch in unserer Zeit und Gesellschaft, trotz allem Druck durch nicht-ärztliche Einflüsse, die erwähnte Empathie. Außerdem – so Frau Prof. Scharrer – muss der Arzt Optimismus und Hoffnung ausstrahlen. Im Idealfall sollte sich der Patient besser fühlen und „getröstet sein“, wenn er seinen Arzt gesehen hat. Optimismus und Hoffnung sind selbst bei schwierigen, ja unheilbaren Krankheiten unerlässlich. Dabei darf man zwar nicht die Realität aus den Augen verlieren oder gegenüber dem Patienten einen aufgesetzten Frohsinn heucheln, denn er spürt ohnehin bei jedem Gespräch die Wahrheit, auch „hinter den Worten“. Gefordert ist eben der „goldene Mittelweg“ – und der ist ohnehin schwer genug und wird in der derzeit alles auspressenden Medizin-Hektik und vor allem Unsicherheit noch mehr zur Mangelware in einer unter fast aussichtslosen Dauerdruck geratenen Ärzteschaft.

Dabei stellt die Ärztin eine alte Frage einfach um – und dadurch wird sie noch brisanter:

Die Frage lautet nicht: Hat die christliche Ethik noch eine Chance in der Medizin? Die Frage lautet vielmehr: Hat die Medizin noch eine Überlebenschance ohne die christliche Ethik?

WAS KANN, WAS DARF, WAS SOLL DER ARZT LEISTEN?

Die meisten Ärzte dürften sich diesen Argumenten nicht verschließen. Einige geben zu, dass sie im eigenen Erkrankungsfall plötzlich anderer Meinung wurden – im Sinne einer „spirituell-religiösen Empathie des Therapeuten“. Das ist natürlich keine generelle Diskussions-Basis, auch wenn sie zu denken gibt.

Auf jeden Fall verschließt sich die moderne Medizin noch dieser Thematik weitgehend, räumen die meisten Mediziner ein. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die medizinische Forschung durch ihre lange und bewegte Geschichte Vorbehalte gegenüber institutionalisierten Religionen entwickelt hat, erläutert Prof. Cserf, davon war schon die Rede. Das ist sicher ein Hintergrund, den es einzurechnen gilt. Andererseits klingen die Argumente mancher Kritiker etwas undifferenziert bis polemisch, beklagen die Befürworter. Man darf allerdings auch die konzeptionellen und methodischen Schwierigkeiten bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Themenbereich nicht unterschätzen. Das gilt jedoch für viele medizinische, vor allem psychiatrische und psychologische Aspekte. Und sollte sich auch nur „ein Fünkchen verbesserter Versorgung“ für kranke Mitmenschen abzeichnen, sogar oder vor allem auf spiritueller Ebene, dann muss sich die Wissenschaft damit auseinander setzen, selbst unter erschwerten Bedingungen (die übrigens in fast allen Bereichen medizinischer Entwicklung zu Beginn registriert, ertragen und überwunden werden mussten).

Nachfolgend deshalb eine Übersicht zu Pro und Contra zum Thema Religiosität in der Behandlung und damit im Alltag von Klinik und Praxis, wie es die Dipl.-Psychologen und –Theologen C. Klein und C. Albani von der Universität Leipzig in ihrem Beitrag abschließend zusammenfassen. Sie schreiben:

„Die heterogene (uneinheitliche) Datenlage bezüglich der Zusammenhänge zwischen Religiosität und dem Behandlungs-Ergebnis erlauben bisher noch kein tieferes Verständnis, in welcher Weise eine Behandlung durch die Religiosität der Beteiligten beeinflusst wird.

Gleichwohl geben die bisher vorliegenden empirischen, d. h. auf wissenschaftlicher und klinischer Erfahrung beruhenden Befunde zu denken. Dies betrifft nicht nur Behandlungsformen mit ausgesprochen religiösem Inhalt (was nebenbei auch schon in manchen Praxen und sogar Kliniken angestrebt wird), es gibt auch überall dort im Alltag der Behandlung zu denken, wo mehr oder weniger zufällig solche Fragen zwischen Arzt/Psychologen und Patienten zum Thema werden – nicht selten mit positiven, d. h. innerseelisch stabilisierenden und/oder aufbauenden Ergebnissen. Auf jeden den Fall lässt sich kaum bezweifeln, dass religiöse Patienten ihrem Glauben eine große Bedeutung bei der Bewältigung schwieriger Lebensphasen zumessen und dass religiöse Bewältigungs-Strategien teilweise zu mehr subjektivem Wohlbefinden verhelfen können. Das betrifft übrigens nicht nur christliche, sondern beispielsweise auch muslimische Gläubige.

Hier täte also Forschung Not. Allerdings geben auch die Befürworter zu bedenken: „Angesichts des boomenden esoterischen und (pseudo-) religiösen Behandlungsmarktes ist bezüglich religions-adaptierter Behandlungsformen eine gewisse Trennung von wissenschaftlich fundierten Behandlungs-Techniken und alternativen Heilungs- und Lebenshilfe-Angeboten geboten (M. Utsch, 2005).

Was empfehlen nun die Experten C. Klein und C. Albani in der täglichen Arbeit?

  • Wert-Offenheit und Bedachtsamkeit

Das ist eine generelle Forderung in der psychotherapeutischen Arbeit, gleichsam als ethische Grundhaltung. Denn es besteht auch für entsprechend ausgebildete Therapeuten stets das Risiko, eigenen stereotypen Vorstellungen zu erliegen und damit gleichsam Vor-Verurteilungen zu treffen bis hin zu dem, was man Pathologisierung nennt (also gleichsam den anderen zum Kranken abstempeln, nur weil er nicht den eigenen Überzeugungen entspricht). Aus diesem Grunde muss sich der Therapeut des eigenen kulturellen Erbes (z. B. bei einem Patienten aus einer anderen Nationalität oder Glaubensrichtung) sowie der eigenen weltanschaulichen Überzeugungen und Werte bewusst sein. Und er muss diesen innerseelischen Einfluss auf seine klinische Aufgabe hin reflektieren, also abklären, einer objektiven Innenschau unterziehen und entsprechend objektiv denken, handeln und vor allem behandeln.

Bisweilen ist es aber nicht nur der Therapeut, der hier die Grenzen der Wert-Offenheit überschreitet, sondern auch der Patient. Und dies nicht selten und bisweilen sogar recht grob bis rücksichtslos, vor allem anderen gegenüber. Hier muss dann auch der Patient seine Grenzen erkennen und respektieren. Vor allem aber auch korrigieren, wenn ihm daraus (oder anderen) Probleme erwachsen sollten, so die Experten.

  • Weltanschauliche Kompetenz

Sachverstand ist nicht nur im eigenen sachlichen Bereich gefordert, sondern auch generell, also konkret die Allgemeinbildung und damit weltanschaulich. Der Therapeut muss sich also ein spezifisches Wissen über weltanschauliche Gruppierungen und religiöse Einflüsse und deren Überzeugungen aneignen: Wissen und damit Toleranz, nicht nur als persönliche Eigenschaft, sondern aus fundiertem Wissen heraus (in diesem Fall was beispielsweise andere religiöse Ansichten oder Glaubensrichtungen betrifft).

  • Wissen über die Bedeutung von Religiosität und psychischer Gesundheit

Das Wissen über die Bedeutung von Religiosität und psychischer Gesundheit wäre deshalb ein spezifisches Kapitel im Rahmen dieses umfassenden Weltbildes (wie oben dargestellt). Warum? Um die ressourcen-orientierten Heilungsprozesse nutzen zu können (Einzelheiten zu dem Stichwort Ressourcen s. o.).

  • Exploration religiöser Wert-Systeme

Bei der fachgerechten Befragung geht es natürlich auch um den Ausschluss wahnhafter Phänomene, bei denen nicht selten religiöse Inhalte eine Rolle spielen. Daneben aber auch Überzeugungen, Werte und Praktiken des Patienten, die seine Welt-Sicht und sein Identitäts-Gefühl beeinflussen.

Deshalb erscheint es ratsam, die Religiosität bzw. entsprechende Einstellung des Patienten ggf. ausdrücklich anzusprechen, empfehlen die Experten. Denn nur dadurch lässt sich eine spirituelle Krise ermitteln, die dann auch durch entsprechende spirituelle Hilfe gemildert werden könnte. Das grundlegende Werk der US-amerikanischen Psychiatrie, das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen – DSM-IV-TR (in vierter erweiterter Auflage, inzwischen die Basis, mit der die gesamte psychiatrische Welt arbeitet und der sich auch langsam die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit ihrem ICD-10 annähert), hat bereits eine eigene diagnostische Kategorie dafür geschaffen, nämlich „Religiöses oder spirituelles Problem“.

Da dieses psychiatrische Lehrbuch mit Schwerpunkt auf der Klassifikation (wissenschaftliche und praktisch verwertbare Einordnung) seelischer Störungen sehr pragmatisch, fast schon „mechanistisch“ vorgeht, und in der Regel auch „dem Rest der Welt“ zeigt, wo die wissenschaftliche und klinische Zukunft liegen dürfte, kann der Einbezug religiöser Fragestellungen im seelischen und psychosozialen Zusammenhang als wegweisend betrachtet werden. Für die einen früher, für die anderen später, in absehbarer Zukunft wohl aber für keinen völlig vernachlässigbar.

Das setzt allerdings auch eine sehr differenzierte Befragung (mit dem oben erwähnten Fachbegriff der Exploration) voraus, die vor allem die Intensität religiösen Erlebens und Verhaltens des jeweiligen Patienten abzuschätzen sucht. Das klingt allerdings für nicht-psychiatrisch tätige Ärzte sicher erst einmal etwas abgehoben. Das muss man zu verstehen suchen. Psychiater, Psychologen, psychotherapeutisch Tätige sind hier natürlich anderer Meinung, das ist ihre tägliche Arbeit. Ihnen dürfte es auch leichter fallen, eine spirituelle (oder religiöse) Differenzierung zu erfragen, wobei es auch anderen (medizinischen) Berufsgruppen sicher nicht abwegig erscheint, dass ein Mensch, für den seine Religion/Religiosität zentrale Bedeutung hat, vor diesem Hintergrund auch entsprechende politische, ökonomische oder eben gesundheits-bezogene Entscheidungen trifft – oder auch nicht.

Daneben gibt es sehr spezifische religiöse Inhalte im Rahmen einer der Religion offenen Wesensart. Beispiel: Während die Vorstellung eines liebevollen, gütigen Gottes eine Ressource darstellen kann, wird das Bild eines strengen, strafenden göttlichen Richters eher Ängste und vielleicht sogar depressive Reaktionen hervorrufen. Solche Unterscheidungen sind nicht nur von Religion zu Religion, sondern auch innerhalb des Christentums mit unterschiedlichen Schwerpunkten möglich.

In der Publikation von C. Klein und C. Albani finden sich entsprechend konkrete Fragen zu religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen und Werthaltungen, vor allem zu Denken, Fühlen und Handeln in Bezug auf Selbstbild und Beziehungen; zu bestimmten Motiven und Bedürfnissen und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit; zu Erfahrungen mit Mitgliedern religiöser Gruppen bzw. der Institution Kirche und ihren Repräsentanten; zu echten, tragenden religiösen Bezugspersonen und Interventions-Möglichkeiten; zu Behinderungen, Beeinträchtigungen, Enttäuschungen, Verbitterungen, insbesondere wenn es um entsprechende Macht-Ansprüche geht mit einer breiten Palette von individuell bis wirtschaftlich.

Und natürlich die Frage des Therapeuten selber: „Welche Bedeutung sollten seine religiösen Überzeugungen, Werthaltungen, Anliegen und Bedürfnisse in der Behandlung einnehmen? Spätestens hier wird deutlich, wie wichtig solche Informationen für den therapeutischen Austausch sind.

  • Religiosität als Hilfsquelle

Es sei gerade in diesem Zusammenhang nicht verhehlt, dass auch der Therapeut nur ein Mensch ist, mit menschlichem Fühlen und damit individuellen Vor- und Nachteilen. Das wissen die psychotherapeutisch tätigen Ärzte und Psychologen sehr wohl, ein Großteil ihrer Ausbildung basiert ja auf durchaus einmal schmerzlichen Selbsterkenntnissen, die keinem erspart werden können. Das merken auch so manche Patienten, wenn bei ihrer Behandlung von anderen Hilfsangeboten die Rede ist, von der heute immer üblicher werdenden „Zweit-Meinung“ im Rahmen von Diagnose und Therapie ganz zu schweigen.

Eine solche Situation kann auch im religiösen Zusammenhang auftreten und das Verhältnis durchaus belasten. So schreiben die Autoren im Einklang mit den Experten: Mitunter fühlen sich die Therapeuten entwertet oder gar angegriffen, wenn ihre Patienten neben der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung auch andere Hilfsangebote in Anspruch nehmen, in diesem Fall insbesondere bezüglich ihrer religiösen Überzeugung (z. B. Seelsorger oder Heilpraktiker). Im negativen Falle kann dies zu erheblichen Diskussionen, vielleicht sogar zum Behandlungs-Abbruch führen. Erfahrene Therapeuten versuchen dies lieber als hilfreiche Ressourcen und nützliche Bewältigungs-Strategien umzudeuten und in ihre eigene Behandlung einzubeziehen – soweit sinnvoll und tragbar.

Eine solche Konstellation ist – wie erwähnt – in allen Therapie-Bereichen möglich, unter psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Gesichtspunkten aber natürlich besonders heikel, bei zusätzlichen religiösen Fragen oft auch gar nicht zu vermeiden. Hier kann es dann besonders bei jenen Therapeuten zu „Verwerfungen“ kommen, die im religiösen Bereich noch nicht genügend Erfahrungen sammeln konnten. Eine lange Praxis in diesem Punkt macht eher tolerant (auch wenn Negativ-Beispiele länger in Erinnerung bleiben).

Hier wird übrigens das unerlässlich, was psychotherapeutisch tätige Ärzte und Psychologen ohnehin aus ihrer Ausbildung und weit darüber hinaus kennen, nämlich die Supervision. Das ist nicht nur während der Ausbildung die so genannte Kontroll-Analyse durch einen erfahrenen Experten, sondern im weiteren und späteren auch Beratung und Beaufsichtigung unter Einbezug konkreter Behandlungsfälle. Der Supervisor hat dabei die Aufgabe, nicht nur Fehler in der Behandlungs-Methode zu korrigieren, sondern auch entsprechende Störungen, beispielsweise durch die eigenen seelischen Prozesse des Therapeuten aufzudecken und ihm zu helfen, seine Kompetenz richtig einzuschätzen. Supervision kann sich auf einen Einzelnen, aber auch auf die Beratung von Gruppen oder gar Institutionen beziehen.

Bei der Behandlung von Patienten, bei denen auch religiöse Aspekte von Bedeutung sind, vor allem bei bestimmten religiösen Gruppierungen oder unter Verwendung religiöser Interventionen, ist natürlich nicht nur eine entsprechende Ausbildung, sondern auch weiterführende Supervision zu empfehlen, betonen die Experten. Dies vermeide Irrtümer und Empfindlichkeiten, fördere Respekt und Offenheit und begünstige einen konstruktiven Austausch zwischen Therapeut und Vertretern religiöser Gruppen oder Standes-Organisa­tionen, die erfahrungsgemäß gerade bei solchen Fragen gerne Einfluss zu nehmen versuchen (wogegen im positiven Sinne auch nichts einzuwenden wäre, aber das ist nur im Einzelfall zu klären).

  • Seine Grenzen kennen und respektieren

Seine Grenzen kennen und respektieren ist Aufgabe und Pflicht des Therapeuten. Das wird ihm bereits in der Ausbildung vermittelt und bleibt ein gesamtes Berufs-Leben lang unerlässlich. Dies betrifft besonders die religiösen Aspekte. So empfehlen die Experten sich lieber auf die konkrete Behandlungs-Aufgabe zu beschränken, auch und gerade bei spirituellen Themen. Eine generelle Thematisierung von Religiosität ist zwar nicht untersagt und auch nicht grundsächlich konflikthaft, doch sind und bleiben Ärzte und Psychologen im allgemeinen keine religiösen Spezialisten und sind deshalb auch für religiöse Lebenshilfen nur begrenzt kompetent, geben der Dipl.-Psychologe und Dipl.-Theologe Constantin Klein und seine Kollegin Cornelia Albani vom Institut für Psychologie und der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatischen Medizin der Universität Leipzig zu bedenken.

Ein Stichwort ist dabei der „Ausschluss der Transzendenz“ im Hinblick auf die eigene psychotherapeutische oder psychiatrische Aufgabe. Transzendenz heißt – verkürzt definiert – das „jenseits der Erfahrung Liegende“, also das die menschlichen Erfahrungsgrenzen überschreitende, übersinnliche, letztlich das Göttliche betreffend. Konkret: Ob ein Gott oder andere transzendente Mächte existiert, Einfluss im Guten oder Bösen nimmt, kann und soll nicht Gegenstand eines verantwortlichen, auf empirische Befunde (wissenschaftlich objektivierbar) gestützten therapeutischen Handelns sein. Oder mit den Worten der Autoren: „Die Frage nach religiöser Wahrheit ist nur in individueller Verantwortung zu klären und insofern nicht Gegenstand der therapeutischen Behandlungsaufgabe.“ Und sie enden mit folgenden Kern-Aussagen ihrer lesenswerten Übersicht:

- Es ist eine alte Erkenntnis, dass Religiosität von Einfluss auf die psychische Gesundheit sein kann, vor allem wenn sie große persönliche Bedeutung hat und dabei spezifische Zusammenhänge mit psychischer Gesundheit aufweist.

- Und es erweist sich auch durch neuere Untersuchungen, dass Religiosität generell eher positiv mit psychischer Gesundheit verbunden ist, je nach Art der Religiosität und psychischer Leiden jedoch deutliche Unterschiede bestehen. Und dass Religiosität im therapeutischen Verlauf eine wirkliche Hilfsquelle darstellen kann, wenn sie behutsam und unter Wahrung bestimmter Grenzen berücksichtigt wird.

Diese Schlussfolgerungen sind erfreulich vorsichtig formuliert. Das wird es auch den Skeptikern leichter machen, manche Erkenntnisse zu akzeptieren, die allerdings noch durch weitere fundierte wissenschaftliche Untersuchungen belegt, gestützt, erweitert und ggf. therapeutisch hilfreich ausgebaut werden müssen, und zwar nicht nur im seelischen, auch und gerade im körperlichen Bereich.

Denn die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Fragen kann auch wertvolle theoretische Erkenntnisse darüber liefern, wie psychologische und biologische sowie Verhaltensfaktoren mit Lebensqualität, Krankheit und Tod verknüpft sind.

LITERATUR

Grundlage dieser Ausführungen sind die im Text zitierten Publikationen. Darüber hinaus gibt es noch eine wachsende Reihe von Fach- und allgemein-verständlichen Sach-Büchern zum Thema. Nachfolgend eine begrenzte Auswahl:

APA: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen-DSM-IV-TR. Beltz-Verlag, Weinheim 1996

Baier, K. u. Mitarb.: Atheismus heute? Ein Weltphänomen im Wandel. EVA, Leipzig 2001

Dörr, A.: Religiosität und psychische Gesundheit. Zur Zusammenhangstruktur spezifischer religiöser Konzepte. Kovac-Verlag, Hamburg 2001

Dörr, A.: Religiosität und Depression. Deutscher Studien-Verlag, Weinheim 1987

Franke, H.: Auf den Spuren der Langlebigkeit. F. K. Schattauer-Verlag, Stuttgart-New York 1985

Heine, S.: Grundlagen der Religionspsychologie. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005

Henning, C. u. Mitarb.: Einführung in die Religionspsychologie. Verlag Ferdinand Schönigh, Paderborn-München-Wien-Zürich 2003

Hoheisel, K., H.-J. Klimkeit (Hrsg.): Heil und Heilung in den Religionen. Harrassowitz-Verlag, Wiesbaden 1995

Hole, G.: Der Glaube bei Depressiven. Enke-Verlag, Stuttgart 1977

Huber, St.: Zentralität und Inhalt. Ein neues multidimensionales Messinstrument der Religiosität. Verlag Leske & Budrich, Opladen 2003

Huber, St.: Religionspsychologie. Verlag Hans Huber, Bern 2007

Huber, St.: Dimensionen der Religiosität. Universitätsverlag und Verlag Hans Huber. Freiburg/Bern 1996

Klinkhammer, G. M. u. Mitarb.: Kritik an Religionen. Religionswissenschaft und der kritische Umgang mit Religionen. Diagonal-Verlag, Marburg 1997

Luhmann, M.: Die Religion der Gesellschaft von André Kieserling. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 2000

Martin, B.: Das Lexikon der Spiritualität. Atmosphären-Verlag, München 2005

Moser, T.: Gottesvergiftung. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 1976

München, T.: Manual Psychoonkologie. Zuckschwerdt-Verlag, München 2002

Murken, S.: Gottesbeziehung und seelische Gesundheit. Waxmann-Verlag, Münster 1998

Murken, S.: Religiosität, Kontrollüberzeugung und seelische Gesundheit bei Anonymen Alkoholikern. Lang-Verlag, Frankfurt 1994

Murken, S. u. Mitarb.: Spiritualität in der Psychosomatik. Konzepte und Konflikte zwischen Psychotherapie und Seelsorge. CD-ROM-Dokumentation der Tagung in Bad Kreuznach, 2003

Newberg, A. u. Mitarb.: Der gedachte Gott. Wie Glaube im Gehirn entsteht. Pieper-Verlag, München 2003

Schätzing, E.: Die ekklesiogene Neurose. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1955

Utsch, M.: Religiöse Fragen in der Psychotherapie. Psychologische Zugänge zur Religiosität und Spiritualität. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2005

Zwingmann, C., H. Moosburger: Religiosität: Messverfahren und Studien zur Gesundheit und Lebensbewältigung. Waxmann-Verlag, Münster 2004

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).