Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
DIE SICH SELBER NICHT MÖGENNur die Hälfte wird diagnostiziert, ein Viertel gezielt behandelt Dysmorphophobie, körperdysmorphe Störung oder Entstellungssyndrom: die vermeintliche Missbildung und ihre Folgen
Wer möchte nicht schön sein, makellos - und damit erfolgreich. Weiß man doch, dass diejenigen, die schon rein äußerlich das bessere Los gezogen haben, auch partnerschaftlich, gesellschaftlich, beruflich bessere Chancen eingeräumt bekommen. Doch man ist realistisch. Schönheit ist vergänglich und allein damit ist auch noch keiner erfolgreich geblieben. Etwas anderes sind kleine Mängel bezüglich Größe, Gewicht, Figur, Haare, Augen, Nase, Mund, Hals, Hände usw. Die würde man schon gerne richten lassen, sofern möglich. Doch auch dazu sind die meisten nicht bereit, wenn sie sich in Grenzen halten. Man hat sich daran gewöhnt, seinen Frieden mit sich geschlossen. Und irgendwie gehören ja seelische und körperliche Defizite auch zur jeweiligen Persönlichkeit, sind ein unverwechselbares Merkmal und haben damit auch eine positive Funktion. Doch nicht jeder kann sich damit abfinden. Offenbar wächst sogar die Zahl jener, die sich geradezu zwanghaft mit ihrer angeblich "unerträglichen körperlichen Entstellung" beschäftigen müssen. Und das kann dann zur Krankheit werden, zu einem seelischen Leiden, dass das ganze Leben zu ruinieren vermag. Vermeintliche Körperentstellung - so alt wie die Menschheit Wenn dieser übermäßige bis zwanghafte Drang, sich wegen eines relativ harmlosen Makels "ständig unausstehlich zu finden", das Leben prägt, dann nannte man das früher ein "Entstellungssyndrom" oder eine "Dysmorphophobie", und heute eine körperdysmorphe Störung - oder kurz: eine vermeintliche Körperentstellung. Dieses Leiden ist - man kann es sich vorstellen - so alt wie die Menschheit. Als Krankheit erkannt wurde es schon vor über 100 Jahren und so definiert, dass es auch heute noch Gültigkeit hat: "Subjektives Gefühl der Hässlichkeit oder der körperlichen Missgestaltung trotz normalen Aussehens, wobei der Patient glaubt, von anderen in gleicher Weise wahrgenommen zu werden". Über die Häufigkeit gibt es keine exakten Angaben. Warum? Die Betroffenen werden nicht dort erfasst, wo sie eigentlich Heilung oder zumindest Linderung finden könnten, nämlich bei den Psychiatern und Psychologen. Diese meiden sie sogar, wo immer es geht. Dafür konsultieren sie Haut-, HNO- und Zahnärzte, Kiefer- und plastische Chirurgen. Dort werden sie auch organisch und technisch gut versorgt, leider aber nur selten als seelisch gestört erkannt und psychotherapeutisch behandelt. Das Leiden und vor allem der eingeleitete Teufelskreis gehen weiter - und zerstören in vielen Fällen das ganze Leben. So gesehen hat man keinen Überblick, vermutet aber eine hohe Dunkelziffer, die wahrscheinlich auch noch kontinuierlich wächst. Frauen und Männer scheinen gleich betroffen. Vom Alter her überwiegen vor allem jüngere Jahrgänge, bis hinein in das mittlere Lebensalter. Wie äußert sich eine körperdysmorphe Störung? In manchen, vor allem fortgeschrittenen Fällen ist eine körperdysmorphe Störung relativ leicht zu diagnostizieren. Die Betroffenen denken an nichts anderes, reden über nichts anderes, sind in ihrem scheinbaren Mangel gefangen. Bei der Mehrzahl ist es nicht so einfach, hier braucht es schon eine Weile, bis man hinter dieses Leid und schließlich Leiden kommt. Auf was muss man achten? Viele Betroffene erleben sich als hässlich, abstoßend, lächerlich, obgleich sie meist unauffällig aussehen. Oder sie empfinden leichte körperliche (eigentlich eher markante) Veränderungen als Anomalität. Davon sind sie schier unbeirrbar überzeugt. Die Vorstellung der Hässlichkeit bezieht sich auf alle möglichen Aspekte, vor allem aber das Gesicht: Nase, Mund, Wangen, Kinn, Lippen (Form und Größe), Zunge, Zähne (Stellung, Form und Farbe), Kiefer und Ohren (Größe, Symmetrie, Form), ferner Haare, insbesondere Gesichtsbehaarung und Bartwuchs. Im weiteren Körperbereich Größe und Gewicht, Hände und Beine, Genitalien, Gesäß, Bauch, Schultern, Hüften u. a. Oder auf der sogenannten vegetativen Ebene Schweiß- und Errötungsneigung, Fettpolsterverteilung usw. Die exzessive Beschäftigung kann entweder einen oder mehrere Körperteile gleichzeitig oder hintereinander betreffen. Obgleich die "Beschwerden" häufig sehr speziell sind (z. B. Augen, Lippen, Nase, Ohren), können sie auch sehr vage oder zumindest unscharf vorgebracht werden ("komisches", "abfallendes" Gesicht bzw. "unpassende" Augenstellung). Manchem Betroffenen sind die scheinbaren Entstellungssorgen auch peinlich. Deshalb vermeiden sie detaillierte Beschreibungen und beziehen sich stattdessen hartnäckig auf ihre "allgemeine Hässlichkeit". Was fällt sonst noch auf? Nicht wenige Betroffene überprüfen sich ständig im Spiegel oder in anderen reflektierenden Oberflächen (z. B. Schaufenster, Autolack), was Stunden in Anspruch nehmen kann, auch wenn es mitunter geschickt überspielt wird. Einige verwenden sogar bestimmte Beleuchtungstechniken oder Vergrößerungsgläser, um ihre "Entstellung" genauer zu prüfen. Andere wiederum vermeiden alles, was sie mit ihrem Aussehen konfrontiert, verdecken oder entfernen beispielsweise alle Spiegel. Wieder andere überprüfen nicht nur ständig ihr Äußeres, sondern pflegen sich in geradezu extremer Weise, z. B. exzessives Haarekämmen, ritualisiertes Auftragen von Make-up oder dauerndes Zupfen, Drücken und Massieren der Haut usw. Manche wenden sich hilfesuchend bis verzweifelt an ihr näheres Umfeld, bitten um entsprechende Beurteilungen und Kommentare, am liebsten natürlich beruhigende Rückversicherungen bezüglich ihrer "Entstellung". Dabei pflegt der Kreis der Eingeweihten ständig erweitert zu werden, denn den meisten wird es langsam zu viel, pausenlos über etwas zu diskutieren zu müssen, das ihnen nun wirklich nicht als schicksalhafter Nachteil erscheinen will. Und außerdem führen solche Beruhigungen, wenn überhaupt, nur zur vorübergehenden Erleichterung. Man kann diesen Kranken nichts bestätigen und nichts ausreden. Das Schlimmste aber ist nach Ansicht der Betroffenen, dass immer mehr Mitmenschen auf den vermeintlichen Schönheitsfehler aufmerksam werden, sich darüber unterhalten oder lustig zu machen scheinen. Einige Patienten versuchen deshalb diesen Mangel zu überdecken, lassen sich z. B. einen Bart wachsen, tragen Kopftuch, Hut oder Schal, stopfen ihre Kleider aus usw. Im Extremzustand bezieht sich die übermäßige Sorge nicht nur auf den Schönheitsfehler, sondern auch auf eine vermutete Funktionsstörung, beispielsweise extrem lichtempfindlich, verwundbar, zerbrechlich, beschädigt oder verletzt zu werden, ständig in Gefahr zu sein usw. Die Folgen Nicht wenige dieser Patienten litten schon vor Ausbruch ihrer Erkrankung unter Selbstunsicherheit, Minderwertigkeits- und Schamgefühlen, insbesondere sexuellen Hemmungen, Angstzuständen, reizbaren oder gar aggressiven Verstimmungen (gegen andere, aber auch gegen sich selber). Später bremsen die krankhafte Selbstbeobachtung und die Furcht vor der Beurteilung durch andere alle Aktivitäten aus, von extremen Reaktionen ganz zu schweigen (Rückzug, nur noch nachts ausgehen, Isolationsgefahr, totale Vereinsamung). Die Folgen für Partnerschaft, Familie, Freundeskreis, Schul- und später Berufsausbildung kann man sich ausmalen. Das Leben ist ruiniert - und das auch noch ohne nachvollziehbaren Grund. Ursachen unklar Über die Hintergründe einer solchen Störung ist bisher wenig bekannt geworden. Der Grund wurde bereits angesprochen: Diese Patienten suchen alle möglichen Therapeuten auf, von der Kosmetikerin bis zum plastischen Chirurgen - nur nicht diejenigen, die die psychologischen Ursachen am besten beurteilen könnten: Psychiater, Nervenärzte und Psychologen. So gibt es letztlich wenig gesichertes Wissen zur Psychologie der körperdysmorphen Störungen. Außerdem können zumindest ähnliche Beeinträchtigungen auch bei anderen seelischen Störungen auftreten: Magersucht, Depression, soziale Phobie, wahnhafte, Zwangs- und Persönlichkeitsstörungen u. a. Auch hier wäre wieder zur diagnostischen Abgrenzung der Psychiater gefragt - wird aber nicht. Was kann man tun? Einer körperdysmorphen Störung schon vorbeugend entgegenwirken, wäre sinnvoll, um nicht den psychosozialen Werdegang zu ruinieren, bevor er begonnen hat. Doch das kommt nur selten zustande. Lange Zeit hält man entsprechende Befürchtungen für einen "Spleen", einen "Vogel", eine "Marotte". So was braucht man nicht ernst zu nehmen, das gibt sich von selber wieder. Dies vor allem dann, wenn es schon in jungen Jahren beginnt. Diese Einstellung ist nicht falsch. Man muss nicht gleich das Schlimmste annehmen. Andererseits entwickelt sich ein solches Leiden meist schleichend. Viele sprechen auch gar nicht darüber. Wenn es sich dabei noch um eine ohnehin selbstunsichere, gehemmte, ängstliche, von Minderwertigkeitsgefühlen geplagte Person handelt, die vielleicht auch noch irgend einen kleinen Makel hat (den eine seelisch "robustere Natur" aber problemlos wegstecken würde), dann ist nicht mit viel Aufmerksamkeit, Zuwendung und Hilfe zu rechnen. Und damit letztlich auch mit keiner rechtzeitigen Diagnose und Therapie, die ja oft nur auf Anregung der Angehörigen oder Freunde zustande kommt. Die Betroffenen selber tragen jedenfalls wenig dazu bei, die eigentlichen Hintergründe aufzuarbeiten und das Problem an der Wurzel zu packen. Auch muss man zugeben, dass sich - wenn denn je ein Arzt-Kontakt zustande kommt, meist beginnend mit dem Hausarzt -, das Verhältnis nicht immer komplikationslos ist. Denn Patienten mit einer körperdysmorphen Störung fühlen sich häufig nicht ernst genommen. Besonders die Kombination aus hohem Leidensdruck ohne krankhaften Befund enthält ein gewaltiges Konfliktpotential. Besonders das beharrliche negative Körperbild von sich selber, die Furcht vor Abwertung, die ständige Beschäftigung mit dem scheinbaren Mangel, die zwanghaften Kontrollen, die Angst, sich zu zeigen und damit Rückzug und Isolationsgefahr gelten als ungünstige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Therapie. Und die Konsultation von nicht-psychiatrischen Fachärzten für den jeweiligen "Mangel" trägt natürlich auch nicht dazu bei, die eigentlichen Ursachen zu beheben. Das kann nur eine psychotherapeutische Behandlung, sei es gesprächspsychotherapeutisch, sei es kognitiv-verhaltenstherapeutisch, sei es tiefenpsychologisch-analytisch, je nach Krankheitsbild. Und dies ergänzt durch soziotherapeutische Korrekturen und Hilfen (zwischenmenschlich, familiär, beruflich). Vielleicht sogar noch bestimmte Psychopharmaka, am sinnvollsten bestimmte Antidepressiva mit stimmungsaufhellender Wirkung, von denen bestimmte Substanzen auch sonst noch heilsam eingreifen können (z. B. bei Angst- und Zwangsstörungen). Und was den letzten Schritt einer solchen krankhaften Entwicklung anbelangt, die kosmetische Operation, so hat sich in manchen Ländern eingebürgert, einer solchen Entscheidung eine fachärztliche Psychodiagnostik vorzuschalten. Denn wenn es sich weniger um ein echtes kosmetisches, mehr um ein unverarbeitetes seelisches oder psychosoziales Problem handelt, ist selbst die perfekteste plastische Operation auf Dauer nicht erfolgreich. So bleibt nur zu hoffen, dass nicht nur die Zahl der körperdysmorphen Störungen, sondern auch die Einsicht der Betroffenen (und ihrer Angehörigen) wächst, durch eine psychologische oder psychiatrische Abklärung die Aussichten auf einen nun wirklich langfristigen Erfolg zu steigern (Prof. Dr. med. Volker Faust). |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |