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JOHANNISKRAUT

Das älteste Antidepressivum: vom Aschenputtel zum "Shooting-Star"?

Vor einem halben Jahrhundert wurden die ersten synthetischen (chemischen) Antidepressiva entwickelt. Damit glaubte man die Schwermut überwunden. Heute weiß man mehr - und ist auch bescheidener geworden. Außerdem hat sich eine gewisse "Chemie-Müdigkeit" verbreitet. Man besinnt sich wieder auf alte Werte, also auch auf Pflanzenheilmittel mit Wirkung auf das Seelenleben. So wurde Johanniskraut wieder entdeckt. Aber nicht nur das: In einer Art Kipp-Reaktion ist es inzwischen zum Marktführer aller Antidepressiva geworden. Ist das eine Lösung? Vor allem: auf was muss man achten?

Depressionen nehmen zu. Vor einigen Jahrzehnten sprach man noch von 3 bis 5 % Betroffenen in der Allgemeinbevölkerung. Das hat sich jetzt verdreifacht. Gewiss handelt es sich in der Hälfte der Fälle um leichtere Erkrankungen. Doch Lebensqualität und Leistungsfähigkeit sind grundsätzlich beeinträchtigt. Ein Drittel sind mittelschwer, die übrigen schwer betroffen. Und dann wird deutlich, warum die Depression als die "am meisten gefürchtete seelische Störung" gilt.

Glücklicherweise gibt es mehr als ein halbes hundert antidepressive Arzneimittel, und es kommen immer neue hinzu. Sie wirken nicht unbedingt besser wie die alten, haben aber deutlich weniger Nebenwirkungen. Das ist ein echter Fortschritt.

Doch am meisten wird inzwischen das Johanniskraut eingesetzt, dem die Psychopharmakologen neuerdings auch den adäquaten Fachbegriff zugestehen: Phyto-Antidepressivum (vom griechischen: phyton = Gewächs, Pflanze). Das hat bis jetzt noch kein Pflanzenheilmittel erreicht.

Johanniskraut aber, inzwischen durch Dutzende von Studien in seiner Wirksamkeit belegt, wird diesem Anspruch auch gerecht. Sein Wirkerfolg liegt bei 60 bis 70 % und damit so hoch wie bei den synthetischen Antidepressiva auch. Doch es gibt auch Einschränkungen, die es zu respektieren gilt.

Möglichkeiten und Grenzen

Zum einen sollte man bei leichteren bis mittelgradigen depressiven Zuständen bleiben, wenn man mit Johanniskraut therapieren will. Zwar behandelt man in psychiatrischen Fachkliniken inzwischen auch schwere Krankheitsbilder (und verdoppelt deshalb auch die Dosis), doch das ist noch nicht ausdiskutiert. Bei leichten Depressionen - und das ist die Hälfte aller depressiven Zustände, vom Marktanteil also sicher nicht uninteressant -, gilt es aber als sinnvolle Alternative. Nicht ausreichend untersucht und schon gar nicht bewiesen, empirisch aber wahrscheinlich zukunftsträchtig, sind außerdem folgende Heilanzeigen:

- Die Winterdepression, auch Lichtmangeldepression oder saisonale affektive Störung (SAD) genannt. Sie beginnt im Herbst und endet im Frühjahr, hat ihr eigenes Beschwerdebild (z.B. Heißhunger statt Appetitlosigkeit, "Schlafsucht" statt Schlaflosigkeit, wenngleich unerquicklich usw.) und spricht vor allem auf mehr Licht an, sei es durch eine künstliche Lichttherapie, sei es durch mehr körperliche Aktivität bei Tag und im Freien. Und offenbar auf Johanniskraut, dem ohnehin eine besondere Licht-Utilisation (Ausbeute) nachgesagt wird (was sich aber u.a. auch in bestimmten Nebenwirkungen äußern kann, z.B. Lichtempfindlichkeit oder Photosensibilisierung).

- Bei Trauerreaktion sollten - trotz aller nachvollziehbarer Belastung - eigentlich keine Medikamente eingesetzt werden. Natürlich ist das leichter gesagt als getan. Bisher waren es deshalb vor allem Beruhigungsmittel, die allerdings die Trauerarbeit unterbrechen und damit den Trauerprozess verlängern. Hier könnte Johanniskraut nützlicher sein, meinen die Experten.

- Das Burnout-Syndrom nimmt zu: nicht nur erschöpft, sondern auch verbittert, und zuletzt eben ausgebrannt. Handelt es sich dabei um eine zunehmend resigniert-deprimierte Tönung, geben manche Psychiater Johanniskraut, um z.B. zu verhindern, dass der Betreffende in eine depressive Reaktion abgleitet, also gleichsam von einem "natürlichen" und ja nicht seltenen Erschöpfungszustand in eine seelische Krankheit, z.B. eine Erschöpfungsdepression.

- Die prämenstruelle Störung ist kein Krankheitsbild, sondern eine Befindlichkeitsstörung. Doch etwa 4 % werden so stark gepeinigt, dass man ihrem Leiden Krankheitswert zugestehen muss, als "prämenstruelle dysphorische Störung (PMDS) bezeichnet. Und das alle Monat einmal, in der Summe also so manches Jahr eines Frauenlebens. Hier wird schon einiges versucht, teils Neuroleptika (z.B. als Wochenspritze), teils synthetische Antidepressiva, vor allem aber Beruhigungs- und Schlafmittel. Neuerdings empfehlen manche Ärzte Johanniskraut, ein bis zwei Wochen vorher, dann dosismäßig ausschleichen. Das ist zwar eine "lästige Medikation im ständigen Intervall", aber manchmal bleibt nichts anderes übrig. Nicht wenigen Frauen scheint damit geholfen zu werden.

- Der Tinnitus, die leichteren bis extrem belastenden Ohrgeräusche, ggf. vielleicht sogar mit Hörsturz, werden ebenfalls immer häufiger. Sie gelten inzwischen als zumeist psychosomatisches Leiden aufgrund von Überforderung, langfristigem Stress, neurotischen Konflikten, depressiven Reaktionen u.a. In der Regel geht der Tinnitus von selber zurück, manchmal aber wird er chronisch. Das ist ein schweres Los. Johanniskraut kann dabei nicht viel ändern (andere, z.T. hoch gelobte Verfahren nebenbei auch nicht), doch es kann verhindern, dass das Tinnitus-Opfer in eine depressive Erkrankung abrutscht. Das wäre dann eine besonders zermürbende Doppel-Belastung. Johanniskraut könnte zumindest dazu beitragen, die depressive Reaktion oder gar depressive Entwicklung in Schranken zu halten.

- Ähnliches gilt für den chronischen Schmerz: Er hat - im Gegensatz zum akuten Schmerz - keine zweckgerichtete Warn- und Schutzfunktion mehr. Im Gegenteil: Es droht eine eigenständige "Schmerzkrankheit", die schließlich auch seelische, psychosoziale und psychosomatische Folgen nach sich zieht: missmutig-gereizt-aggressiv, erhöhte Empfindlichkeit, eingeschränktes Interesse, verminderte Erlebnisfähigkeit, schließlich apathisch-resigniert-deprimiert, zwischenmenschlich belastend, beruflich eingeschränkt usw.

Glücklicherweise fand man schon früher eine Linderungsmöglichkeit, nämlich die Kombination aus Schmerzmitteln (deren Wirkung sich ja langsam erschöpfen kann) und bestimmten Psychopharmaka (zumeist Antidepressiva und Neuroleptika, gelegentlich auch Beruhigungsmittel). Dadurch ließ sich das subjektive Schmerz-Erleben etwas mildern ("entkernen"). Hier versucht man es inzwischen auch mit Johanniskraut, weil es weitaus weniger Nebenwirkungen als die synthetischen Psychopharmaka hat - mitunter mit erfreulichem Erfolg.

- Schließlich wird auch schon über den Einsatz von Johanniskraut bei der sogenannten Co-Morbidität von Gemütsstörungen und Alkoholkrankheit berichtet. Dies allerdings nur im Rahmen eines entsprechenden Gesamt-Behandlungsplans. Hier kann die Depression mit Antriebsverlust, Niedergeschlagenheit, Merk- und Konzentrationsstörungen, verminderter Aufmerksamkeit, Desinteresse an der eigenen Person, an Lebensumfeld und Zukunftsgestaltung die Rehabilitation rasch an ihre Grenzen bringen. Eine ausreichend lange und hoch dosierte Johanniskraut-Behandlung scheint hingegen in manchen Fällen erfreuliche Ergebnisse zu erzielen. Das ist zwar nicht die Lösung des Alkoholproblems, aber bisweilen ein guter Anfang und nicht selten Einstieg, sich mit seiner Abhängigkeit gezielt auseinanderzusetzen und nicht in eine kombinierte Gemüts- und Suchterkrankung zu versinken.

So gibt es inzwischen eine ganze Reihe zusätzlicher Heilanzeigen für Johanniskraut. Doch es gilt auch seine Grenzen zu respektieren. Nur so kann das älteste Antidepressivum nach einer Zeit der Geringschätzung wieder seinen angestammten Platz einnehmen - zum Vorteil einer wachsenden Zahl seelisch Betroffener (Prof. Dr. med. Volker Faust).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).