Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
SOZIALPHOBIE: DIE KRANKHAFTE SCHÜCHTERNHEITSchüchtern sind viele und extrem schüchtern nicht wenige. Doch die krankhafte Schüchternheit, jetzt als Sozialphobie bezeichnet, gerät erst langsam in das Blickfeld von Wissenschaft und damit Allgemeinheit. Das ist auch dringend notwendig, denn dadurch drohen nicht nur seelisches Leid, sondern auch wirtschaftliche Einbußen. Das sollte zwar kein bedeutsamer Grund sein, andererseits scheint man in unserer Zeit und Gesellschaft vor allem auf dieser Schiene auf psychosoziale Belastungen aufmerksam zu werden. Die "Angst vor den anderen" ist so alt wie die Menschheit. Beschrieben wurde sie schon vor 2 000 Jahren. Jetzt zeichnet sich offenbar eine ungewöhnliche Zunahme ab. Vielleicht wird man aber auch erst jetzt richtig auf diese Störung aufmerksam. Auf jeden Fall hat die "krankhafte Schüchternheit" jetzt einen wissenschaftlichen Namen, nämlich Sozialphobie oder soziale Phobie bzw. soziale Angststörung. Früher gehörte sie zu den Neurosen, die in den modernen psychiatrischen Klassifikationen in dieser Form nicht mehr auftauchen. Wie äußert sich die Sozialphobie? Soziale Phobien sind eine Situationsangst mit nachfolgendem Vermeidungsverhalten, d. h. letztlich Rückzug und Isolation. Die Angst läßt sich zwar nicht begründen, dafür wird sie aber besonders exzessiv erlebt, vor allem wenn man sich aus eigener Kraft davon lösen will. Sie bezieht sich stets auf Handlungen, und zwar noch so banale, die sich unter den Augen von Drittpersonen abspielen, die das Verhalten nicht nur beobachten, sondern möglicherweise auch kritisieren könnten. Ängste vor Examina, öffentlichem Auftreten usw. sind normal. Bei der Sozialphobie zermürben aber Alltäglichkeiten, nämlich Partys, Einladungen, Restaurantbesuch, Freunde, vor allem aber Fremde, insbesondere des anderen Geschlechts. Also die Angst in Gegenwart anderer das Wort ergreifen, essen, trinken, schreiben, telefonieren, ein Geschäft, ein Büro usw. betreten zu müssen. Wie häufig ist die krankhafte Schüchternheit konkret? Man weiß es nicht. Die Vermutungen streuen von 1,7 bis 16 % in der Allgemeinbevölkerung. Ein Mittelwert scheint realistisch. Wen und wie trifft es vor allem? Die Mehrzahl beginnt in jungen Jahren, d. h. in einer besonders verwundbaren Zeit. Frauen scheinen öfter betroffen (oder äußern sich einfach offener). Bezüglich Zivilstatus pflegen unverheiratete, geschiedene, getrennt oder sonst (wieder) allein lebende Menschen anfälliger zu sein (Ursache oder Folge?). Der Verlauf ist meist chronisch, seltener wellenförmig. In günstigsten Fall gibt es eine spontane Besserung durch "Nachreifung der Persönlichkeit unter der erzwungenen Exposition im realen Leben". Meist kommt eine Krankheit zur anderen (Co-Morbidität). Am ehesten belasten zusätzliche Angststörungen, ferner Depressionen, vor allem aber Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit (entgleiste Selbstbehandlungsversuche). Die Suizidgefahr ist hoch. Am auffälligsten sind die wirtschaftlichen Konsequenzen: Menschen mit einer Sozialphobie sollen öfter als Gesunde am Arbeitsplatz fehlen und drei Mal häufiger arbeitslos sein. Psychologische Aspekte Warum fielen Sozialphobiker bisher kaum auf? Das liegt an der Wesensart dieses Leidens. Wer, wenn nicht ein "menschenängstlicher", völlig verschüchterter und sich immer mehr zurückziehender Mensch macht die Diagnose so schwer wie hier? Es liegt in der Natur der Sache, dass ein schüchterner Mensch auf keinen Fall auffallen will, auch nicht beim Arzt. Am liebsten wäre es ihm, wenn er sich unsichtbar machen könnte. Meist hält er sich im Hintergrund, ergreift selten oder nie das Wort, ist für die anderen in der Tat kaum mehr vorhanden. Schüchterne werden übersehen - und damit bleibt auch das Ausmaß ihres Leidens unerkannt, ganz gleich, ob die ohnehin schwer definierbare Grenze zwischen Schüchternheit und Sozialphobie inzwischen überschritten ist oder nicht. Nur ein geringer Teil verhält sich "auffällig". Die wirken dann nicht nur schüchtern, sondern demonstrativ "distanziert", zurückweisend, ja ablehnend, in seltenen Fällen sogar feindselig (alles natürlich Fehlinterpretationen). Auf jeden Fall vermeiden sie Blickkontakt, sprechen wenig, stottern sogar bisweilen, haben immer Ausreden, sich "nicht unters Volk mischen zu müssen", geschweige denn an geselligen Veranstaltungen teilzunehmen. Es gibt Heldentaten, deren nur die ganz Schüchternen fähig sind (P. Gascar). Die Mehrheit ist also offensichtlich "privat krankhaft schüchtern". Doch keiner ahnt, welche Kraft es die Betroffenen kostet, einen harmlosen zwischenmenschlichen Kontakt, ein Gespräch, Menschenansammlungen oder Veranstaltungen durchzustehen. Kaum droht sich die Aufmerksamkeit auf sie zu richten, überschwemmen sie die wildesten Ängste: Wie sehe ich aus? Wie komme ich an? Bin ich gut genug? Werde ich akzeptiert? Wie beurteilen mich die anderen? Hoffentlich mache ich nichts falsch, blamiere mich nicht bis auf die Knochen? Körperliche Folgen Und dann kommen die vegetativen Reaktionen: Blutdruckanstieg, roter Kopf, Herzrasen, Schweißausbrüche, Händezittern, sogar Übelkeit, Schwindel, Drang zum Wasserlassen, Kopfdruck, Atemenge, Muskelverspannungen usw. Jetzt muss der Betroffene nicht nur gegen seine Ängste, sondern auch noch gegen seinen eigenen Organismus ankämpfen. Das kostet viel Kraft und Energie - und im Laufe der Zeit fehlen dann die Reserven. Trotzdem sind viele Betroffene nicht davon überzeugt, dass sie krank sind oder gar in ärztliche Behandlung sollten. Und selbst wenn sie in Not sind, können sie sich nicht vorstellen, dass sie von einer Therapie profitieren könnten. Sie denken, ihr ängstlich-scheues Verhalten sei ein normales Phänomen, für dass man selber verantwortlich ist und das man nicht ändern kann. Dazu kommt natürlich auch die Angst vor der Stigmatisierung und dem Begriff "psychisch gestört", weil man so etwas ja auch heute noch mit "Geisteskrankheit" gleichsetzt. Und hier fühlt sich ein selbst krankhaft Schüchterner dann doch falsch eingestuft. Schüchternheit ist die Furcht vor sich selbst (Hilsbecher). Glücklicherweise gibt es gerade bei der Sozialphobie für die so wichtige Vorbeugung, spätestens aber möglichst frühe Therapie nicht nur psychotherapeutische (vor allem verhaltenstherapeutische), sondern auch pharmakotherapeutische Möglichkeiten. Denn gerade die Angststörungen, zu denen ja die Sozialphobie zählt, sprechen im Rahmen eines Gesamt-Behandlungsplanes gut auf bestimmte antidepressive Medikamente an. Deshalb sollte man sich so rasch als möglich seinem Arzt anvertrauen, selbst wenn man der Meinung ist, Schüchternheit sei halt ein Schicksalsschlag und keine Krankheit. Die Entscheidung über die Diagnose und vor allem die notwendige Therapie wird dann in der Regel in Zusammenarbeit mit einem Psychiater getroffen - je früher, desto besser (Prof. Dr. med. Volker Faust). |
Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |