Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
ÜBER DEN KRANKHAFTEN UND HEILSAMEN UMGANG MIT BÜCHERNBibliophilie - Bibliomanie - Bibliokleptomanie - Biblioklasie - Bibliopho-bie - Bibliomantie - Bücherwahn - Bücherverbot - Bücherverbrennung - Heilkraft des Lesens - Bibliotherapie u. a.
Bücher, Bücher, Bücher! Man sollte es nicht für möglich halten: Noch nie wur-den so viele Bücher geschrieben, gedruckt und angeboten, und dies in einer Zeit, in der die größten "Feinde" des informativen, besinnlichen oder gar ge-nüsslichen Lesens, nämlich PC, Internet und Fernsehen ebenfalls ihren Konsum-Höhepunkt erreicht haben. Da erscheint es sinnvoll, einige Anmerkungen zur "Psychopathologie des Le-sens" zu machen, oder konkret: Was gibt es an grenzwertigem oder gar krankhaftem Verhalten Büchern gegenüber. Nun gibt es nicht nur den bekann-ten informativen, sondern auch heilsamen, ja therapeutischen Aspekt des Lesens? Das Lesen ist nach wie vor "in" Es ist richtig: Die Experten, insbesondere die Kinder- und Jugendpsychiater, die Psychologen, Heilpädagogen, die Lehrer u. a. warnen nicht umsonst vor PC und TV. Oder um es auf einen vielleicht zugespitzten, aber nicht überseh-baren Punkt zu bringen: "... macht dick, dumm, depressiv und gewalttätig". Das betrifft offenbar eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen, zieht sich dann ins Erwachsenenalter hinein und prägt unsere Zeit und Gesell-schaft - nachhaltig, und zwar negativ bis verhängnisvoll.
Andererseits gibt es wieder Phänomene, und als solche muss man sie wahr-haftig bezeichnen, die aufhorchen lassen, verwundern, Hoffnung suggerieren. Die Rede ist vom "Harry Potter-Phänomen", also gleichsam einer überraschen-den Lesefreude, die manchmal bis zur Lese-Gier (und Ungeduld bis zum nächsten Band) ausufern kann (man kann die Autorin beneiden, aber auch bemitleiden, auf ihren Schultern lastet eine große Verantwortung...) .Für so manchen Großen des Geistes waren in der Tat Bücher "seine einzigen Gefährten in Kindheit und Jugend". Das muss nicht unbedingt das Optimum der Sozialisation sein (moderner Fachbegriff für das verordnete Hineinwachsen und sich damit Einordnen in die gesellschaftliche Struktur der jeweiligen Zeit). Als maßgeblicher Teil dieser Entwicklung aber ist es durchaus von Vorteil. Dazu eine Reihe von Aphorismen im Kasten, die - wie alle Sinnsprüche - "in Tinte geronnene Lebensweisheiten" darstellen.
Auf jeden Fall haben die meisten Menschen, die später auf das Lesen oder auf das lesende Studium zeitlebens angewiesen sind, ein besonderes Verhältnis zu Büchern, trotz Internet, E-Mail, SMS, kurz: elektronischer Daten- und Wissensvermittlung. Man frage einmal nach der Wahl bevorzugter Kinderbücher und wird erstaunliche Schwerpunkte finden (die sich nicht nur um Karl May drehen). Und wenn man sagt, dass die Entwicklung der Persönlichkeit, also jener indi-viduellen Mischung aus Charakter, Temperament, Intellekt und körperlicher Ausstattung, gleichsam die Summe aller seelischen und psychosozialen Ei-genschaften und Verhaltensbereitschaften, die die unverwechselbare Individu-alität verleihen, wenn also diese Entwicklung der Persönlichkeit nicht zuletzt vom Umfeld abhängt, in dem man sich seit frühester Kindheit bewegt, dann spielt auch hier das Buch eine große Rolle - noch immer. Die Wahl der Kinderbücher ist es, die die heranwachsende Generation mit ihrem Charakter, ihrer Phantasie und Bildung, in ihren Meinungen, Interessen und ihrem Geschmack prägt, fassen die Experten diese Entwicklung treffend zusammen (siehe Literaturverzeichnis). Manchmal sei es auch wichtig, wer diese Bücher geschenkt und wer sie besonders eindrucksvoll vorgetragen hat. Hier liegen übrigens noch immer die realen Chancen von Großmutter und pensioniertem Großvater, sofern sie sie zu nutzen verstehen, nicht nur im ei-genen, sondern auch im Interesse ihrer Enkel. (Und der unbestreitbare Vorteil von Vorlesungs-Angeboten, wie sie immer häufiger von manchen Institutionen, z. B. Rotary u. a. angeboten werden, vor allem in Schulen, die besonders Kin-der aus der Grundschicht aufweisen, deren Eltern weder Zeit, noch Lust und oftmals auch nicht die Fähigkeiten haben, das geistig anregende Vorlesen zu nutzen.) Interessanterweise sind es nicht nur bibliophile Erwachsene (siehe später), die oft großen Wert darauf legen, dass ihre Kinder- und vor allem Bilderbücher aus früher Zeit mit besonderer Sorgfalt restauriert werden (um sie nicht einmal den Enkeln zu vererben, sondern als eigene, gleichsam spirituelle Schätze verfügbar zu halten, wenn auch oft verschämt und damit versteckt). Bezeichnenderweise fragen Kinder- und Psychiater sowie Psychologen, Heilpädagogen u. a. in ihrer Anamnese (Erhebung der Vorgeschichte mit seelischem Befund) gerne nach bevorzugter (und abgelehnter) Lektüre (es gibt sogar entsprechende Tests, z. B. den früher nicht selten verwendeten "Bücher-Katalog-Test" nach Teirich und Tramer zur charakterologischen Beurteilung). Und auch später hat jeder seine Lieblingsbücher, die allerdings dann rascher wechseln, je nach Angebot, Zeitbedarf, Laune und vor allem Verlags-Kunden-Lenkung mit Hilfe der Medien. Das hat Vor- und Nachteile, die hier nicht weiter erörtert werden sollen: z. B. im positiven Sinne ein "wenigstens leidlicher Durchblick im Dschungel der Bücherflut" und im negativen die "intellektuelle Bedarfs-Lenkung durch Literatur-Päpste beiderlei Geschlechts". Die Vorteile scheinen uns aber zu überwiegen, zumal die demonstrierten Eitelkeiten in der verschiedenen Medien-Beiträgen mehr amüsieren, als verwirren oder gar behindern. Im höheren, im "dritten Lebensalter" gewinnt das Buch wieder seinen eigenen Stellenwert, erneut im Guten wie im Schlechten. Der Vorteil ist der nun inzwi-schen ausgeprägte individuelle Geschmack, der sich selbst durch ausgeklü-gelte Public-Relations-Maßnahmen nicht mehr groß verunsichern, verzetteln und verleiten lässt. Der Nachteil sind die nachlassenden Kräfte, insbesondere die Seh-Kraft, aber auch die schwindenden geistig-körperlichen Reserven. Und sogar eine gewisse Affekt-Labilität (sensibel bis rührselig), manchmal auch eine etwas verhärtete Kritik-Neigung, angeschoben durch die altersbe-dingte Beschönigung der "guten alten Zeit". Im Übrigen ist auch hier die Tech-nik nicht nur von Nachteil, wie beispielsweise die akustische Buchform als Hörbuch und die elektronische als E-Book beweisen. Alles eine Frage der Auswahl und Dosis. Nachfolgend nun aber eine kurze Übersicht zum Thema "grenzwertiger, krank-hafter und heilsamer Umgang mit Büchern". Im Kasten nebenbei eine kleine Geschichte des Buches.
Grenzwertiger bis krankhafter Umgang mit Büchern Zu dem grenzwertigen bis krankhaften Umgang mit Büchern gehören die Bib-liophilie, die Bibliomanie, die Bibliokleptomanie, die Biblioklasie und - eher passiv - die Bibliophobie. Im Einzelnen:
Im Allgemeinen aber kann man davon ausgehen, dass Bibliophile die gesam-melten Bücher zumindest überfliegen, wenn nicht gar lesen. Sie wissen, was sie hier - wenn auch nach allgemeiner Einschätzung übertrieben - anhäufen. Bibliophile sind übrigens nicht nur vom Inhalt allein fasziniert, häufig sind es auch das Erscheinungsjahr, der Einband, das Papier, die Drucktechnik, die Illustrationen, kurz der Zustand einer Ausgabe. Manchmal auch eine persönli-che Widmung oder ein bedeutender Namenszug. C. Donalies zitierte einen "Bücherjäger", der meinte, dafür müsse man "die Spürnase des Jagdhundes, die Entschlossenheit des Fanatikers, die Schlau-heit des Fuchses, die Brutalität des gereizten Löwen, die beständige Geduld der Ameise und den Charme der Kleopatra" besitzen - und nicht zuletzt das Konto eines Fußballstars, wie er selber hinzufügte.
Im Gegensatz zur Bibliophilie werden dabei außer Büchern auch Zeitungen, Zeitschriften, Magazine, Illustrierten und Broschüren ohne Markt- oder Selten-heitswert gesammelt. So etwas wird dann auch nicht gelesen, katalogisiert oder in einer Bibliothek eingeordnet, wie es bei Bibliophilien erwartet werden kann, sondern auf Tischen, Stühlen, auf dem Fußboden, im Keller, auf dem Dachboden, kurz: überall angehäuft. Hier spricht man dann auch nicht nur von einem Sammeltrieb, sondern von einer Sammelsucht, die am Schluss in einem Vermüllungs-Syndrom enden kann. Einzelheiten dazu siehe das spezielle Kapitel über das Vermüllungs-Syndrom. In der medizinischen Fachliteratur wird bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf die Bibliomanie hingewiesen, besonders im französischen Schrifttum (aus dem auch der Begriff stammt). Selten muss es nicht gewesen sein, denn die Bibliomanie fand Eingang in Allgemein- und Fachwörterbücher sowie Enzyklo-pädien. Die häufigsten Charakterisierungen lauten "Maßlosigkeit, Nichtsnutzig-keit und krankhafte Neigung zum Büchersammeln". Es gab aber auch leiden-schaftliche Verteidigungen, besonders im angelsächsischen Raum ("Dibdin's Syndrome"). Psychiatrisch war es wohl als Erstes der französische Nervenarzt Professor Dr. Philippe Pinel, der die Bibliomanie zu den Monomanien zählte, also das Besessensein von einer einzigen überwertigen Idee oder einem ent-sprechendem Verlangen. Dabei ging er vor allem auf psychologische Aspekte ein (während man noch 1900 vereinzelt auch den biologischen Infektionsweg per "bacillus librorum" diskutierte - ernsthaft...).
Heute rechnet man die Bibliomanie zu den Suchterkrankungen, wobei zwar kein "Bazillus" wohl aber neben psychosozialen Hintergründen auch biologi-sche Ursachen diskutiert werden. Dabei werden bei der "bibliomanische Suchterkrankung" folgende Symptome erörtert (nach Stefanie Stockhorst im Lexikon "Literatur und Medizin"): 1. Die kontinuierliche Dosissteigerung mit Ausfällen im Bereich des Wählens und Wertens beim Bucherwerb. 2. Der Verlust der rationalen Kontrolle über die benötigte und realistisch nutzbare Menge an Büchern. 3. Der Verzicht auf Nahrungsaufnahme und Schlaf aufgrund der einseitigen Bücherfixierung (so dass bibliomanische Figuren in der Literatur entsprechend als blass, rastlos und abgemagert beschrieben werden - s. u.). 4. Die Fortsetzung des Suchtverhaltens trotz negativer Folgen gesundheitlicher, sozialer und finanzieller Art. 5. Ggf. die Beschaffungskriminalität, um Bücher oder die dazu erforderlichen Geldmittel zu erlangen. In manchen Formen von Bibliomanie werden auch bestimmte Sammlungskri-terien verfolgt, d. h. Bücher nach bestimmten Formaten, Materialien, Epochen, Gegenständen, Druckorten, Vorbesitzern. Typisch ist auch die Anschaffung mehrerer Exemplare desselben Buches.
In etwas "verdünnter" Form ist es aber leider auch bei so manchen, ansonsten ehrlichen Bibliophilen verbreitet, besonders wenn sie dem Drang nicht wider-stehen können, ihre Sammlung zu vervollständigen. Bei solchen Menschen stellt sich eine regelrechte Dauer-Verstimmung ein, wenn sich in einer Serie ihrer Sammel-Leidenschaft eine Lücke nicht schließen lässt. Dann "brechen mitunter alle Dämme" - und so mancher Betroffener realisiert auch nach der Konfrontation mit seiner Tat noch immer nicht, dass er zum Dieb geworden ist. Die Mehrzahl der Verursacher einer gerade heute ständig wachsenden Schwund-Ziffer von Büchern in öffentlichen Bibliotheken und Buchhandlungen dürften aber ganz banale Diebe sein, denen es im allgemeinen moralischen Niedergang in unserer Zeit und Gesellschaft nicht einmal größere Skrupel ver-ursacht, wenn sie sich an öffentlichem (Bibliotheken) oder privatem (Buch-handlungen) Eigentum vergreifen. Das läuft in etwa parallel mit den zunehmenden Verkehrs-Delikten mit Fahrer-flucht, die erstaunlicherweise nicht nur bestimmte Schichten, Altersstufen und ausschließlich Männer trifft, sondern alle Bereiche zunehmend gleich erfasst. Dabei ist vor allem eines besonders bemerkenswert (und langfristig verhäng-nisvoll): kaum oder keine langfristigen Schuldgefühle mehr.
Einzelheiten dazu siehe das ausführliche Kapitel über die Schizophrenie und ihres krankhaft bedingten aggressiven Potentials aus allerdings - das sei hier ausdrücklich betont - nicht freiem, gesundem, sondern krankhaft gesteuertem Antrieb heraus (der nebenbei nicht nur Bücher, sondern auch Statuen, Bilder u. a. betreffen kann). Auf jeden Fall hat die Biblioklasie als krankhaft-zwanghafte Zerstörung von Büchern nichts mit der politisch oder wirtschaftlich motivierten Zerstörung von Buchbeständen zu tun (z. B. Buchverbrennungen - siehe später).
Sie berichten beispielsweise von früheren Traumatisierungen ihrer Patienten, also seelischen Verwundungen, verbunden mit Demütigungen u. ä., z. B. durch einen Elternteil, einen Lehrer, Vorgesetzten usw., die den Betreffenden ihre begrenzten Fähigkeiten vorwarfen und die dringliche Nutzung von Lehrbüchern empfahlen. Zum anderen kann es sich aber auch um eine spezifische Phobie (Zwangsbe-fürchtung) im Rahmen einer Angststörung handeln. Möglich ist auch ein aus-lösendes klaustrophobisches Erlebnis, beispielsweise in den Räumen einer Bibliothek mit hohen, beängstigenden Regalen voller "drohender" Bücher, spä-ter in Albträumen panisch fortgesetzt. Gar nicht so selten ist auch die Beschmutzungs-Furcht eines Zwangskranken durch Bücher. Hier handelt es sich vor allem um besonders verstaubte, ver-gilbte, in den Augen des Betreffenden mit Bakterien und Bazillen verseuchte Bücher, wenn nicht gar mit Milben und Staubläusen, die sich in alten Folianten tummeln, möglicherweise sogar noch gejagt von so genannten Bücher-Skorpionen (was es tatsächlich gibt, ein allerdings nur 4 mm langer Pseudo-Skorpion namens Chilifer Cancroides). Eine krankhafte Abneigung gegen Bücher kann natürlich auch eine psychoti-sche Ursache im Rahmen einer Schizophrenie oder wahnhaften Störung haben.
Oder das eher originelle Wort Bibliophage (griech.: phagein = essen, fressen, verzehren), also ein "Bücherfresser", Synonym für einen leidenschaftlichen Leser. Vor allem früher in Mode war die Bibliomantie (griech.-lat.: Seher- bzw. Wahrsagekunst), d. h. das Wahrsagen aus der Textstelle eines Buches, die man zufällig aufgeschlagen hat oder das Deuten mit dem Finger oder einem Stäbchen auf einen beliebigen Abschnitt oder ein Wort. Mit Vorliebe wurden im Altertum und Mittelalter dafür die Bücher des Alten Testaments sowie Astrologische Werke, Orakelsammlungen (so genannte Losbücher) und angeblich göttlich inspirierte Dichtungen benutzt (der Gebrauch der heiligen Schrift zur Wahrsagerei war allerdings verboten und wurde mit Exkommunikation bestraft.) ANHANG 1: VERBOTENE BÜCHER UND BÜCHERVERBRENNUNG Ein natürlich nicht mit dem Buch an sich, sondern mit seinem durch die jewei-ligen Machthaber bedrohlichen Inhalt zusammenhängendes Phänomen sind Bücherverbot und Bücherverbrennung. Beides - und das spricht für den Menschen als vernunftbegabtes Wesen -, waren und sind nutzlos und werden es auch in Zukunft bleiben.
Derlei hat natürlich seinen eigenen Geschmack und kann sich aus mancherlei Gründen gegen die Urheber bzw. die dahinterstehende Institution richten. Deshalb ist darüber nicht mehr allzu viel zu hören. Natürlich gilt dies nicht nur für die (katholische) Kirche, sondern auch für politi-sche Systeme, die sich ihrer "Untertanen" (in diesem Sinne im wahrsten Sinne des Wortes) nicht sicher sein konnten. Die DDR beispielsweise war auch in Bücherfragen sehr widersprüchlich, wie C. Donalies anmerkte: Auf der einen Seite wurden überdurchschnittlich viele Bücher preiswert gedruckt, gekauft, verschenkt und gelesen. Auf der anderen Seite gab es "unerklärliche Marktlü-cken", ja Bücherverbote und verschiedentlich Beschlagnahmungen bei Postsendungen und Grenzübertritten, die jedoch allmählich abnahmen, weil sich der DDR-Bürger ohnehin über den nicht oder nur schwer abschottbaren Rundfunk und schließlich das Fernsehen ausreichend orientieren konnte. Ein besonderes, ja extremes Phänomen in diesem Sinne waren die
Im Mittelalter und während der Glaubensspaltung wurden durch die Inquisiti-ons-Behörden viele "ketzerische" Bücher verbrannt, zum Teil zusammen mit ihren Autoren. (Selbst Martin Luther verbrannte demonstrativ in Wittenberg die päpstliche Bann-Androhungsbulle und ein Exemplar des Corpus Juris Canonici.) Auch die Täufer in Münster ließen alle ihnen missliebige Bücher verbren-nen. Ähnliches geschah mit den Werken von J. Milton 1660 nach Wiederherstellung der Monarchie in England. Das Gleiche auf dem Wartburgfests 1817, wo die Burschenschaften 28 nach ihrer Ansicht reaktionäre Schriften vernichteten. Die Nationalsozialisten inszenierten 1933 mit Hilfe der "Deutschen Studenten-schaft" auf dem Berliner Opernplatz und in anderen Universitätsstädten die demonstrative Verbrennung von Werken jüdischer sowie von als marxistisch oder pazifistisch angesehenen Autoren. Das war der Beginn von Verfolgung und Vertreibung zahlloser Repräsentanten deutschsprachiger Kultur. Auch in der DDR gab es die erwähnten Bücherverbote und Beschlagnahmungen. Nach der Wende aber auch in vielen Bibliotheken und Bücherlagern Zwangsräumungen bei Beständen, die in der DDR-Zeit gedruckt worden waren: "Es wurde ausgesondert, verschleudert, einiges landete sogar im Altpapier oder auf Müllhalden, auch wenn es Klassiker-Ausgaben waren. So eine breit gestreute Aktion gegen Bücher hat es meines Wissens zu DDR-Zeiten nie gegeben" (C. Donalies). Das besagt mit einem Satz - und der ist dann wenigstens tröstlich: Auf lange Sicht ist das Buch mächtiger als alle Despoten und Regime zusammen...! ANHANG 2: BÜCHER ALS HEILMITTEL Die Heilkraft des Lesens Die Bibliotherapie, also Bücher als Heilmittel bzw. die Heilkraft des Lesens ist - wie das meiste um uns herum - eine alte Empfehlung. Sie wurde schon von dem griechischen Philosophen Aristoteles beschrieben und später auch von römischen und arabischen Ärzten weitergegeben. Die Trostbüchlein und Trostbriefe des Altertums und des Mittelalters sowie die Erbauungslektüre gel-ten als Vorläufer der modernen Bibliotherapie. Diese entwickelte sich mit dem Beginn der modernen Psychiatrie im 18. und 19. Jahrhundert weiter, weshalb jetzt auch gezielt Krankenhaus-Bibliotheken eingerichtet wurden.
Der modernen Bibliotherapie ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht es darum, für und mit dem Kranken gezielt Texte auszuwählen, die ihn trösten, beruhigen, stabilisieren oder Informationen im Sinne einer Lebenshilfe vermit-teln. Dies hilft nicht nur regenerativ im Bezug auf Linderung oder gar Heilung, sondern kann auch die Persönlichkeitsentwicklung fördern, also therapeuti-sche und edukative (erzieherische) Ziele wahrnehmen. Oder kurz:
Nicht zu verwechseln ist die Bibliotherapie mit dem Bibliodrama, das man als eine Art Psychodrama mit biblischem Bezug bezeichnen kann. Das Psycho-drama ist die spontane szenische Darstellung von Lebenssituationen, Phanta-sien, Träumen und Zukunftsentwürfen, eine Art Theater-Gruppentherapie. Beim Bibliodrama wird ein Bibel-Text vorgelesen, gemeinsam diskutiert und dann in einer Art "Erzähl-Geschehen" von der Gruppe nachgespielt ("im Tun der Schrift einen Weg zum tieferen Glauben wahrnehmen"). Wie aber geht man bei der Bibliotherapie konkret vor? Formen, Methoden, Techniken, Medien und Heilanzeigen der Bibliotherapie Die therapeutische Arbeit mit Texten - bekannt unter verschiedenen Bezeich-nungen wie Bibliotherapie, Poesietherapie, Literatherapie, psycho poetry - lässt sich wie folgt unterteilen: - Beim rezeptiven Vorgehen werden dem Patienten ausgewählte Texte vor-gelesen, zusammen gelesen oder von ihm gelesen. Die Auswahl trifft der The-rapeut im Hinblick auf das Problem oder die Erkrankung des Betreffenden. Die wichtigsten therapeutisch wirksamen Aspekte sind Identifikation (also das ge-fühlsmäßige Sich-Gleichsetzen mit anderen bzw. die Übernahme ihrer Nor-men), ferner Problemlösung und Suggestion (Beeinflussung von Willen, Ein-stellung u. a.), die dann im Weiteren gemeinsam ergänzt und vertieft werden können. - Beim produktiven Vorgehen werden die Patienten ermutigt, selbst Texte zu schreiben, in freier oder gebundener Form. Stichwort ist die "Bewältigung (der eigenen Probleme) in der Gestaltung", was nachher im Einzel- oder Gruppen-gespräch vertieft werden kann. - Beim dynamischen Vorgehen werden die beiden Methoden verbunden. Hier versucht man bereits von Anfang an eine intensivierte psychotherapeuti-sche Bearbeitung im tiefenpsychologischen Sinne. In allen Fällen ist das Buch das Medium des Kontaktes, über das kommuni-ziert wird. Die Texte erleichtern die Aufarbeitung der verdrängten zwischen-menschlichen Belastungen aus früherer oder aktueller Zeit. Konkret: Der Pati-ent liest seinen spezifischen Text dem Therapeuten oder der Gruppe vor, was meist unter großer affektiver (gemütsmäßiger) Beteiligung geschieht, trifft Ver-bindungen zu seinen eigenen Problemen - vergangen, gegenwärtig oder zu-künftig - und entwickelt Einsicht und strukturelle Vorschläge in eigener Sache, gefördert durch die vorsichtigen Deutungen des Therapeuten oder die Eigen-Erfahrungen und Empfehlungen der Gruppe. Eine Neu-Orientierung im Alltag bahnt sich an.
Das Buch als Medium stellt Informationen aus dem gesellschaftlichen Bereich, aus dem Erfahrungsschatz der Menschheit und der Wissenschaft zur Verfügung. Hilfreich im weiteren Sinne sind dann neben dem Psychotherapeut-Patient-Gespräch auch Wandzeitungen, Kollektivgedichte usw., wenn eine Gruppe einbezogen wurde. Dann können die Texte auch durch Rollenspiele, Pantomime u. a. noch verdichtet und damit geklärt und hilfreich genutzt werden. Das erweist sich besonders in den Dialogen als aufschlussreich. Erweitert wird das Ganze noch durch Tagebücher und Briefe, durch Malen usw. Die Indikationen (Heilanzeigen) und Anwendungsbereiche dürfen aber nicht unkritisch überdehnt werden. Zu achten ist auf das individuelle Fassungs- und Verarbeitungsvermögen, die intellektuelle Ausgangslage, ja sogar auf Alter und Geschlecht. Und natürlich auf das Krankheitsbild. Hier haben Bücher als Heilmittel vor allem ein furchtbares Feld bei depressiv-ängstlichen Überforde-rungs-, Krisen- und Erschöpfungsreaktionen, bei neurotischen Entwicklungen, beim Burnout (erschöpft, verbittert, ausgebrannt) u. a. Eine spezifische Vorgehensweise erfordert die Klientel in Alten- und Pflege-heimen sowie in der Sterbebgleitung. Bei Letzterem ist es vor allem das Schreiben von (Abschieds-)Briefen, Vermächtnissen für Hinterbliebene, das Verschenken von Gedichten oder liebgewordenen Büchern. Kaum genutzt, aber überaus zweckmäßig wäre die Bibliotherapie auch in Allgemeinkrankenhäusern, besonders bei Patienten mit chronischen Krankheiten ohne Aussicht auf völlige Genesung. Sogar in Vollzugsanstalten wurde die Bibliotherapie erfolgreich bei Strafgefangenen und sozialen Randgruppen eingesetzt. Vorsicht geboten ist allerdings bei Psychosen (Geisteskrankheiten) wie der schizophrenen Psychose (wahnhafte Reaktionen?), bei schweren Depressionen (also alles durch die "schwarze Brille" sehen sowie nicht selten eine vorü-bergehende, aber schmerzlich empfundene depressive "Pseudo-Demenz") sowie bei manchen Persönlichkeitsstörungen, bei denen es zur unveränderbaren Wesensstruktur gehört, alles im eigenen Sinne umzudeuten, ohne die Hilfe einer selbstkritischen Introspektion bauen zu können ("Innenschau"). Manchmal kann nämlich auch die Hemmschwelle für destruktive Eigenschaf-ten und Persönlichkeits-Konzepte gesenkt werden, wie die Experten zu be-denken geben (Beispiele: "Das Schweigen der Lämmer" oder "Hannibal"). Das ist nebenbei nichts Neues. Die wohl größte "Katastrophe" in diesem Sinne geht auch auf Deutschlands "größten" Dichter zurück, nämlich Johann Wolfgang von Goethe, der mit seinem "Werther" (1774) die Basis für zahlreiche Suizide und noch mehr Suizid-versuche junger Menschen im gleichen "Lebensschmerz" dieser Zeit zu ver-antworten hatte (Einzelheiten siehe das entsprechende Kapitel). Goethe sel-ber reagierte auf entsprechende Vorwürfe bis ins hohe Alter abweisend, ja unwirsch. Ihm hatte seine aktive Poesie-Therapie offenbar geholfen. Wie später übrigens noch zahlreichen anderen Autoren, z. B. Graham Greene, der gestand: "Zuweilen frage ich mich, wie alle, die nicht schreiben, komponie-ren oder malen, es zuwege bringen, dem Wahnsinn, der Melancholie und dem panischen Schrecken des menschlichen Daseins zu entfliehen" (zitiert nach C. Donalies). LITERATUR Andriessen, H., N Derksen: Lebendige Glaubensvermittlung im Bibliodrama. Grünewald-Verlag, Mainz 1991 Althaus, B.: Das Buch-Wörterbuch. 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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |