Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
GEBEN IST SELIGER DENN NEHMENWer hilft, wird älter
"Geben ist seliger denn nehmen", wer kennt ihn nicht, diesen berühmten Satz aus dem Neuen Testament (Paulus zitiert Jesus). Das wird auch von religiöser Seite und aus berufenem Munde immer wieder betont. Beispiele: - Gebt, und es wird euch gegeben werden. Wer großherzig ist, wird immer Segen empfangen (Papst Johannes XXIII.). - Je mehr du gibst, desto mehr empfängst du. Und: Wer mit Freuden gibt, gibt am meisten (Mutter Theresa). Und auch sonst mangelt es nicht an entsprechenden Mahnungen. Die Zahl der Aphorismen zum Thema "Geben" ist fast nicht mehr übersehbar (im Kasten eine Auswahl). Interessant aber auch die Mahnungen, die die ständigen Absichtserklärungen ohne nachfolgende Tat geißeln. Beispiele: - Sage nicht, dass du geben willst, sondern gib (Goethe); wahrscheinlich in Kenntnis des antiken Spruches: Sage nie, dass du etwas geben wirst. Denn wer so spricht, gibt nichts und verhindert Gaben anderer (Philemon). Oder sehr fein beobachtet: - Viele Menschen haben das Herz auf dem rechten Fleck, aber sie verstehen nicht zu geben, und es dauert lange, ehe der Wille des Herzens den Weg bis zur Tasche macht ... (Heinrich Heine). Vielleicht auch in Kenntnis des ebenfalls antiken Spruches: Zu spät, wer erst dem Bittenden gibt (Seneca).
Geben und Nehmen aus psychologischer Sicht Die meisten Sinnsprüche haben natürlich die materielle Seite im Auge, vor allem das "nackte Geld". Bei vielen aber schimmert auch die immaterielle, die geistige, seelische, psychosoziale, caritative, moralische Seite durch oder wie man es auch immer nennen mag. Und genau dafür interessieren sich auch die Psychologen und Psychiater. Denn eines ist sicher: "Die Ellenbogen-Gesellschaft" wird zwar von allen beklagt, ist aber "voll im Trend" und wird uns deshalb eines Tages vielleicht nicht gerade ins (materielle) Unglück, wohl aber in die seelische Armut, die psychosoziale Not, letzten Endes also dann doch ins Unglück führen. Wer das nicht glaubt, soll einfach ein wenig zuwarten. Die Zeit wird kommen, nicht nur für die Gesellschaft, auch für ihn, wo er nachzudenken beginnt - hoffentlich nicht zu spät. Was also haben die Psychologen, Soziologen, Psychiater u. a. zum Thema "Geben ist seliger denn Nehmen" hausgebracht? Darüber berichtet Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, Direktor der Abteilung für Psychiatrie III der Universität Ulm in der Fachzeitschrift Nervenheilkunde 12/2006 unter dem erwähnten Zitat aus der Apostelgeschichte des Lukas, Kapitel 20, Vers 35 - aber mit dem interessanten Untertitel: Ehrenamt und Gesundheit. Er schreibt: "Die Menschen im Lande werden zugleich immer gesünder und immer älter. Was aber tun, wenn man fit und alt ist?" Sie haben recht gelesen: Er schreibt nicht: alt und krank, hinfällig, gebrechlich, er schreibt "fit und alt". Dann zitiert er eine Reihe US-amerikanischer Studien, insbesondere vom Institut für Sozialforschung der Universität Michigan (2003). Dort und in anderen Untersuchungen geht es vor allem um die Bedeutung der sozialen Aktivitäten, Bezüge, Kontakte für ein gesundes Altern. Natürlich ist diese Erkenntnis nicht neu, muss aber immer wieder hervorgehoben werden: "Wer in einem Netzwerk aus Menschen eingebunden ist, wer Kontakte knüpft und pflegt, kann auch und gerade dann, wenn es einmal nicht so gut mit ihm steht, auf Unterstützung zählen." Nun ist Unterstützung zwar beruhigend, hat aber auch eine kritische Konsequenz, nämlich ggf. Schuldgefühle oder gar Abhängigkeit. Wer kennt das nicht: Das Nehmen, das Beschenkt-Werden mit allen Folgen: von der Überraschung über die Dankbarkeit bis zur Beschämung ist nicht immer ganz einfach. Manche nehmen es lockerer, andere tun sich schwerer. Wer zurückgeben kann, ist am besten dran; geben und nehmen sollten ausgeglichen sein (was beispielsweise bei der narzisstischen Wesensart oder gar bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung zum ernsten Problem werden kann, Einzelheiten siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie). Auf jeden Fall sieht es ganz anders aus beim Geben, Unterstützen, Helfen. Und hier weiß die Psychologie des Alltags schon lange zu berichten: Menschen, die anderen helfen, fühlen sich vergleichsweise wohler und - jetzt kommt da doch für viele eine überraschende Erkenntnis -, sind offenbar auch gesünder. Das aber will nun wirklich bewiesen sein und soll im nachfolgenden auch konkret ausgeführt werden (zitiert nach M. Spitzer, 2006): Gebende leben länger Tatsächlich lässt sich in entsprechend groß angelegten Studien über den dafür notwendigen Zeitraum bestätigen, dass soziale Kontakte den Sterblichkeits-Zeitpunkt hinauszuschieben vermögen; die Experten sprechen von 21%, ein wie auch immer zu interpretierender Prozentsatz von eindrucksvoller Größe. Nun bestehen soziale Kontakte aus mehreren Aspekten: z. B. ausgeglichen oder jeweils mit Schwerpunkt auf Geben bzw. Nehmen. Interessant vor allem Letzteres, denn da fanden die Wissenschaftler: Wer soziale Kontakte eher passiv erhält, dem geht es zwar besser, aber bei weitem nicht so gut wie den Gebenden. Nun vermutet natürlich der kritisch Denkende, dass die primär gesünderen Studienteilnehmer auch eher in der Lage waren zu helfen, was zu der Schlussfolgerung führt: Es sind die ohnehin Gesunden, die helfen und die eher Belasteten bis Kranken, denen geholfen werden muss. Eine solche Statistik bietet also nichts Neues, was nicht schon der gesunde Menschenverstand erkennen könnte. Derlei Überlegungen sind aber auch den Experten nicht fremd, das wäre ansonsten ein "gefundenes Fressen" für die Konkurrenz, die auch im Wissenschaftsbetrieb nicht schläft. Um dieses Problem also statistisch in den Griff zu bekommen, wurden die Daten zur körperlichen und seelischen Gesundheit sowie zu gesundheits-relevanten Verhaltensweisen, die man natürlich zu Beginn der Studie erheben musste, in die Analyse mit einbezogen. Mit anderen Worten: Gesundheit und Krankheit wurden in den beiden Kollektiven sozusagen "herausgerechnet", um gleiche Verhältnisse zu schaffen. Das Ergebnis ist trotzdem eindrucksvoll:
Um aber ganz sicher zu gehen, dass diese an sich erfreuliche Erkenntnis nicht noch von anderen Faktoren beeinflusst wird, rechnete man auch hier noch so genannte Variable (veränderliche Größen) wie Einkommen, Bildungsstand, berichteter Stress, Krankheits-Anfälligkeit, Persönlichkeitsstruktur u. a. heraus. Resultat: Im Wesentlichen gleich, zugunsten der Helfer. Nun sind Wissenschaftler "zähe Gesellen", insbesondere in der Beurteilung fremder Erkenntnisse, die nicht den eigenen Studien-Bemühungen entspringen. Prof. Dr. Dr. Spitzer geht deshalb im folgenden auf mehr oder weniger methodische Probleme ein, die sich vor allem mit medizin-statistischen Überlegungen beschäftigen, z. B. mit der Frage: Handelt es sich hier nur um statistisch signifikante (mathematisch überzeugende), sondern auch um klinisch, d. h. lebenspraktisch bedeutsame Ergebnisse? Bei allen angeführten Überlegungen aber wird offenbar immer wieder eines deutlich: Helfende leben tatsächlich länger. Die US-amerikanische Studiengruppe versuchte übrigens noch einzelne Aspekte des Gebens und Nehmens bzw. Erhaltens von Unterstützung und ihre Auswirkungen auf die Sterblichkeit zu erfassen. Dabei geht es - in der Zusammenfassung etwas verwirrend, es soll aber auch nur ein Überblick gegeben werden -, um folgende Beispiele: Hilfe von anderen (also nicht Partner), Zuhören durch Partner bzw. dem Partner zuhören, Zuhören durch andere (einschließlich Anzahl der Stunden), Pflege durch andere (einschließlich Freude daran), persönliche Nähe (einschließlich das Angebot einfach da zu sein), Anzahl der "nahen Menschen", konkrete Hilfe im Haushalt einschließlich Besorgungen, Reparaturen, Bezahlen von Rechnungen, Kinderbetreuung, konkrete Unterstützung bei finanziellen oder rechtlichen Angelegenheiten u. a. Bei diesen so genannten Variablen ließen sich offenbar unterschiedliche Effektstärken herausrechnen, also was in welcher Form mehr oder weniger eindrucksvoll und nachweisbar weiterhilft. Professor Spitzer macht nun eine verwunderliche Rechnung auf, die in der Medizin allerdings gar nicht so selten Realität ist: Nehmen wir einmal an, zwei für Herzkrankheiten anfällige Patienten-Gruppen werden - ohne es zu wissen - entweder mit einem wirkungsvollen Medikament (das zu prüfen ist) oder mit einem Schein-Präparat behandelt (in dem also kein Wirkstoff vorhanden ist). Nach einiger Zeit wird den prüfenden Ärzten und Pharmakologen aber klar, dass der Unterschied zwischen Verum (dem Medikament) und dem Schein-Präparat so deutlich wird, und zwar zugunsten der Wirksubstanz, dass man das Experiment abbrechen muss, um nicht die zufällig ausgewählte Gruppe ohne reale Wirksubstanz zu schädigen. So weit, so klar. Wie steht es aber jetzt - so Spitzer - mit dem Massen-Experiment, das er sinngemäß wie folgt umschreibt: Ehrenamt - aktiver Einsatz - interessiertes Zuhören u. a. Viele ältere Menschen gehen einem Ehrenamt nach; d. h. sie setzen sich ohne Entgelt für andere ein, kurz: sie helfen. Stellen wir uns nun eine riesige Studie mit - sagen wir - 20.000 Bundesbürgern vor, die die "Lebens-Auswirkungen" eines Ehrenamtes kontrollieren soll. Das Ergebnis wäre zwar einerseits überaus erfreulich, müsste aber andererseits abgebrochen werden, um die Gruppe ohne Ehrenamt vor den Konsequenzen zu schützen, die ein "ehrenamt-loses Dasein" mit sich bringt. Oder kurz: Die Helfenden würden länger leben, den Nicht-Helfenden müsste man so rasch wie möglich die gleiche lebens-verlängernde Tätigkeit nahe legen, um sie vor entsprechenden Nachteilen (größere Sterblichkeits-Rate) zu bewahren. Aus diesem Grunde schließt Prof. Spitzer seine interessanten Erläuterungen aus US-amerikanischen Studien mit folgenden Überlegungen: Unser Gesundheitssystem wird derzeit unter der finanziellen Last, die vor allem Zivilisationskrankheiten mit sich bringen, an seine Grenzen geführt. Die häufigsten und damit auch für die Gemeinschaft teuersten Krankheiten wie Bluthochdruck, erhöhter Blutzucker oder erhöhte Blutfette werden mit Medikamenten behandelt, deren Effektstärke gemessen an den Konsequenzen bezüglich Rauchen und Lungenkrebs, TV- und reale Gewalt, bestimmte Giftstoffe mit Krebsfolgen u. a. eher bescheiden ausfallen. Niemand käme jedoch aus diesem Grund auf die Idee, die dafür ausgegebenen Milliarden einfach mit dem Argument zu streichen, der Aufwand stehe aufgrund der geringen Effektstärke in keinem Verhältnis zur gesamt-gesellschaftlichen Wirkung. Das bedeutet aber nach seinen Worten auch umgekehrt: Das aktive Helfen hat gesamt-gesundheitliche Auswirkungen, die weit über diese Hilfe hinausgehen. Die Helfenden leben länger! Zwar gibt es kleine Unterschiede in der Form des Helfens (s. o.), aber gesamthaft gesehen sind die meisten Hilfestellungen von Vorteil. Und dies eben nicht nur für diejenigen, denen in ihrer schwierigen Situation geholfen wurde, sondern - und das ist das Entscheidende dieser Erkenntnisse - für die Helfenden selber, z. B. was ihre eigene Überlebens-Zeit anbelangt. Geben ist also wirklich seliger denn nehmen. Diese Erkenntnis ist sicher älter als Paulus, als der Menschensohn, den er zitiert und alle überlieferten Aphorismen zusammen. Das ist einfach eine alltags-relevante Lebens-Philosophie, wie sie schon in der Steinzeit aufgefallen sein muss. Ehrenämter helfen sparen... Prof. Spitzer beschränkt sich nun auf unsere heutige Situation und führt eine Schlussfolgerung an, die nun wirklich zum Nachdenken Anlass geben sollte, und zwar im eigenen Interesse: "Rein rechnerisch könnte man allein durch Ehrenämter die Streichung einer ganzen Reihe von Langzeitmedikationen (also die Gabe von Arzneimitteln über längere Zeit hinweg) ausgleichen. Das sparte nicht nur einige Milliarden an Gesundheitskosten, sondern brächte zusätzliche Lebensqualität." Und zwar denjenigen, denen geholfen wurde im Augenblick ihrer Notsituation und auch (oder vor allem?) denjenigen, die helfen, sei es instrumentell oder emotional, wie die Experten es nennen, oder ganz einfach auf Deutsch: Sei es durch Hinlangen oder Zuhören. Letzteres hat übrigens in unserer umtriebigen bis hektischen Welt keinen hohen Stellenwert. Da kommen die Erkenntnisse der Wissenschaft gerade recht, die uns korrigieren: Zuhören ist offensichtlich wirkungsvoller als die meisten anderen, ja ebenfalls segensreichen Hilfestellungen, wie oben kurz aufgelistet. Zuhören ist aber oft auch anstrengender, wie vor allem die Helfer feststellen müssen. Glücklicherweise braucht es dafür weniger fachliche oder praktische Kenntnisse wie bei Pflege, Haushalt, Reparaturen, finanzieller oder rechtlicher Beratung u. a. Dafür braucht es mehr Geduld, Gelassenheit, interessiertes Eingehen auf die Kümmernisse und Sorgen der anderen, vor allem der Hilfsbedürftigen. Genau diese Eigenschaften sind uns aber zunehmend abhanden gekommen. Doch da schließt sich wieder der positive Kreis zum "Geben ist seliger denn Nehmen." Durch das "gebende Zuhören" trainieren wir selber unsere seelische, geistige und körperliche Gelassenheit und fördern damit die gesamte Stabilisierung unseres Organismus, was uns dann auch älter werden lässt. So jedenfalls die Statistik, der wir in diesem Falle gerne Glauben schenken wollen. |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |