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Die Weihnachtszeit und ihre psychosozialen Folgen

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Gibt es eine "Weihnachts-Depression"?

Gibt es so etwas wie eine Weihnachts-Depression? Oder handelt es sich hier um eine Erfindung der Medien, die bedarfsweise in der Vor-Weihnachtszeit die Gemütsstörungen entdecken?

Eine Weihnachts-Depression gab und gibt es nicht, also auch keine vermehrten stationären Aufnahmen in (Fach-)Kliniken oder gar Selbsttötungsversuche. Das bestätigt auch die Telefonseelsorge, die ja in der Regel ein guter Gradmesser der jeweiligen Stimmungslage in der Allgemeinheit zu sein pflegt. Auch dort ist vor Weihnachten nicht unbedingt mehr los, eher danach.

Die Ware Weihnacht ist nicht die wahre Weihnacht (K. Marti).

Außerdem muss man unterscheiden lernen: Endogene, also biologisch fundierte Depressionen haben ihr Häufigkeits-Maximum in Frühjahr und Herbst. Die Winter- oder Lichtmangel-Depression droht vermehrt in der dunklen Jahreszeit von November bis Februar/März. (siehe die entsprechenden Kapitel). Verstimmungszustände dagegen sind jahreszeitlich unabhängig und meist von äußeren, seelischen, psychosozialen, psychosomatischen und organischen Ursachen abhängig.

Das Gleiche gilt für eine gewisse Gefühlslabilität, die jedoch in der Vor-Weihnachtszeit einen Höhepunkt erreichen kann. Eine Depression im krankhaften Sinne ist dies aber nicht.

Auf Ältere und Einsame achten

Allerdings sollte man das ganze Jahr und während der Weihnachtszeit verstärkt auf Ältere, Alleinstehende, vor allem (noch nicht lange) Verwitwete oder Geschiedene achten sowie auf Kranke ohne Hoffnung, die niemand besucht. Kurz: Vereinsamte, Verlassene, vor allem die Stillen oder still Gewordenen.

Gilt Weihnachten aber nicht auch als spezieller "Gemüts-Stress"?

Die Weihnachtszeit als psychosoziale Belastung

Psychopathologisch, also im seelisch-krankhaften Sinne ist die Weihnachtszeit auch in dieser Hinsicht kein statistisch relevanter Faktor. Doch geht die Weihnachts-Atmosphäre oder das, was man sich darunter vorzustellen pflegt, mit einer eigenen Gemütsbelastung einher, gewollt, wenn nicht gar (werbepsychologisch) gesteuert. Das hat seine guten wie problematischen Seiten.

So unterschätzt man gerne die zwischenmenschliche Belastung der Weihnachtszeit. Oft sieht man sich nämlich das ganze Jahr nicht, kommt aber wenigstens an Weihnachten "nach Hause". Und das wird zum Stress eigener Art.

Weihnachten als Überforderung: Erwartungen an die Familienharmonie, an Ruhe, Entspannung oder Festlichkeit, treffen auf Küchendienst, verunglückte Geschenke, das zweifellos vergebliche Bemühen, es allen recht zu machen, den kaum unterdrückbaren Wunsch nach einer Art Weihnachtsglücks-Empfinden der Kindheit.

Das alles ist wohl eine schlichte Überforderung für einen Durchschnittsmenschen (Dorothee Hess-Maier).

Nach der ersten Euphorie ("wie schön, Dich wieder zu sehen") wird es einerseits räumlich und andererseits "psychologisch" immer enger. Man muss es zwar nicht gleich so hart formulieren wie schon 1911 der amerikanische Zyniker Ambros Bierce in "The Devil's Dictionary":

  • Weihnachten: Festtag, der Völlerei, der Trunksucht, klebrigen Gefühlen, der Entgegennahme von Geschenken und öffentlichen Langeweile mit häuslichem Frieden geweiht.

Oder in noch deftigerer Überarbeitung:

  • Weihnachten: Besonderer Tag, reserviert für Völlerei, Trunksucht, schwachsinnige Gefühlsduselei, Annahme von Geschenken, öffentlichen Stumpfsinn und häusliches Protzen.

Was aber tatsächlich zum Problem werden kann bzw. oft genug wird: Jetzt kommen alte, in der Regel ungelöste Konflikte wieder zum Vorschein oder brechen gar eruptiv durch. Das wäre an sich nicht falsch, wenn man sie tatsächlich austragen würde, selbst an Weihnachten. Doch jetzt droht das zweite Problem: der weihnachtliche Zwang zum "friedvollen Miteinander", zu Liebe, Freude, Besinnlichkeit, Gemütlichkeit u. a., also eine mehr oder weniger demonstrative Gefühlswelt bzw. Fassade. Manche bezeichnen es sogar als "erzwungenen häuslichen Frieden", wenn nicht gar als "weihnachtlichen Waffenstillstand".

Weihnachten: Eine Zeit der Stille und Besinnung, bis jemand auf die Idee kam, dass Geschenke sein müssen (alter Sinnspruch).

Dazu kommen die sonstigen Stress-Faktoren wie Einkaufen, Geschenke machen und erhalten, die bekannte Extrembelastung der Hausfrau zur Weihnachtszeit u. a.

Was macht nun die "Stille Nacht, Heilige Nacht" vielerorts und jedes Jahr wieder zum Krisenfest? Einzelheiten dazu siehe der Kasten mit den wichtigsten Gründen drohender Disharmonie.

Was macht Weihnachten so belastend?

Eine Umfrage im Auftrag der Zeitschrift chrismon durch das Meinungsforschungsinstitut Emnid ergab 2001 folgende Gründe (Mehrfachnennungen möglich):

  • Zu hohe Erwartung an die Harmonie, erklärte mehr als jeder dritte Befragte, Menschen mit hoher Schulbildung deutlich häufiger als solche mit geringer, Besserverdienende öfter als solche mit weniger finanziellen Möglichkeiten.
  • Zu viele Besuchsverpflichtungen beklagte jeder Fünfte, vor allem die Jüngeren, während den Älteren dies kaum als Belastung erscheint (siehe später).
  • Zu reichlich Alkoholkonsum, behauptet jeder Zehnte. Das ist offensichtlich ein Krisenfaktor, der bei Menschen mit geringem Einkommen fünf Mal häufiger ist als bei Gutverdienenden.
  • Streit ums Fernsehprogramm, im Westen offenbar kein Thema, in den neuen Bundesländern in mehr als jeder zehnten Familie ein Problem(?).
  • Enttäuschende Weihnachtsgeschenke sind ebenfalls kein Thema, irritieren nur jeden 20. (bei Menschen mit weniger Geld hingegen mehr als doppelt soviel).
  • Übermäßiges Essen ist eigentlich für alle kein Streitthema.
  • Ich kann es mir auch nicht erklären, warum gerade Weihnachten so belastend sein soll, gibt allerdings jeder Fünfte zu, fast doppelt so häufig die älteren Befragten.
  • Schlussfolgerung: Überzogene Vorstellungen und Erwartungen scheinen jedes Jahr die gleichen Probleme aufzuwerfen. Dass man zu nahe aufeinandersitzt, besonders mit jenen, die man sich nicht unbedingt selber aussuchen würde ("die liebe Familie"), ist auch nichts Neues.

    Dieser "Stress" kann sich allerdings auch einmal umkehren: Die Zahl der Einsamen nimmt zu. Und sie wird in Zukunft wachsen, mehr denn je.

    Alles andere scheint hingegen kein Thema von Belang zu sein.

  • Bleiben eigentlich nur zwei Faktoren, die jeder im Grunde selber steuern könnte: Zu viel Illusionen und zu viele Kontaktverpflichtungen auf einmal, was die "Stille Nacht" zu gefährden scheint - "alle Jahre wieder …"

Nach chrismon 12 (2001) 10

Was kann man tun?

Was kann man tun? Das ist eine Frage, die sich jede Weihnachten stellt, anschließend wieder in Vergessenheit gerät und zwölf Monate später erneut an Aktualität gewinnt. Dabei ist die Antwort immer gleich:

  • Auf der rein vegetativen Seite sich in Essen und (Alkohol-)Trinken bescheiden.
  • Dafür mehr Bewegung, also der tägliche "Gesundmarsch", am besten in freier Natur und möglichst bei Tageslicht. Letzteres ist vor allem in der dunklen Jahreszeit besonders wichtig, hilft es doch depressive Verstimmungen und Angststörungen zu lindern, wenn nicht gar zu vermeiden.
  • Schließlich sich rechtzeitig dem z. T. extrem hohen Reizpegel von allen Seiten zu entziehen versuchen: Licht, Lärm, Menschenmengen, Warenangebote, Zerstreuungsmöglichkeiten u. a.

"Gedränge, aber kein Kontakt" (bekannter Seufzer in unserer Zeit).

  • Sich dafür wieder auf kleine Dinge konzentrieren, so genannte Banalitäten in jeglicher Form, die man bisher übersehen hat.
  • Und durchaus wieder Zufriedenheit, Freundlichkeit, echte Gemütswärme, Zuhören, ja Lachen trainieren.

Für all das gibt es genügend lehrreiche Beispiele, die es einem vormachen - von früher bis heute. Sie drängen sich aber nicht auf, man muss sie wiederentdecken. Wie überhaupt die "neue Innerlichkeit" keine schlechte Idee ist - es sei denn, auch sie wird demnächst systematisch vermarktet.

Und vor allem sei noch einmal eines wiederholt:

Wer alt, alleinstehend und vereinsamt ist, hat jedes Jahr weniger Chancen auf ein Minimum an Zuwendung, zieht er sich doch schon von selber immer mehr ernüchtert, enttäuscht, desillusioniert, beschämt und schließlich verschüchtert- resigniert zurück.

Gibt es denn niemand, lautet die immer wiederkehrende Frage der Betroffenen, "der hier einmal zwischen jung und alt vermitteln, eine Art "Kontaktbörse" organisieren könnte? Wenigstens am "Fest der Liebe"?

"Eine Viertelstunde mit jemand reden zu dürfen, das wäre schon ausreichend und das größte Weihnachtsgeschenk seit Jahren...".

So oder ähnlich lauten die Seufzer oder Klagen, die man durchaus hören könnte - auch wenn die meisten wegzuhören scheinen. Man tut ja schon allerhand, zur Weihnachtszeit... Doch Spenden geben oder sammeln ist zwar löblich, aber einfacher, als sich persönlich einzubringen. Hier wird man umdenken müssen.

Denn die Einsamkeit wird - wenn die Entwicklung so weitergeht wie bisher - eines Tages zum Kernproblem unserer Gesellschaft werden, und zwar für mehr von uns, als wir ahnen.

Hier sollte man gegensteuern, so lang noch Zeit ist - für die Gemeinschaft und für jeden Einzelnen von uns.

Literatur

Faust, V.: Schwermut. Depressionen erkennen und verstehen, betreuen, behandeln und verhindern. S. Hirzel-Verlag, Stuttgart-Leipzig 1999

Faust, V.: Seelische Störungen heute. Verlag C.H. Beck, München 2000

Faust, V.: Depressionsfibel. Gustav Fischer-Verlag, Stuttgart-Jena-Lübeck-Ulm 1997

Faust, V.: Depressionen. Hippokrates-Verlag, Stuttgart 1989

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
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