R. Goodman, St. Scott, A. Rothenberger:
Kinderpsychiatrie – Kompakt
Steinkopff-Verlag, Darmstadt 2000. 463 S., € 54,95. ISBN 3-7985-1234-5
Mit wachsendem Unbehagen, ja mit begründeter Sorge beginnt die westliche Welt ein Problem zu realisieren, das man bisher mehr oder weniger erfolgreich zu übersehen vermochte, nämlich die Zunahme seelischer Störungen nicht nur im Erwachsenen-, sondern im Jugend- und sogar Kindesalter. Dazu bedarf es allerdings heftiger Erschütterungen, teils durch die Medien (z. B. von den Gewalttaten im Pausenhof bis zu Amokläufen in den Schulen), teils durch irritierende Beispiele aus Nachbarschaft, Freundeskreis oder gar in der eigenen Familie. Und hier dann aber ebenfalls wieder mit besondere Aufmerksamkeit erheischenden oder belastenden Folgen, z. B. durch die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung in diesem Alter („Zappelphilipp„). Oder gar unerkannte Depressionen bis hin zur Suizidgefahr (die zweithäufigste Todesursache bei Heranwachsenden ist der Tod durch eigene Hand). Kurz: Man beginnt nachzudenken: Wie viel, wann, wo, weshalb? Und wie soll es weitergehen, wenn es so weitergeht?
Damit rücken zwei medizinische Disziplinen ins Zentrum des Interesses, die bisher gerne übergangen („überschwiegen„) worden sind, nämlich die Psychiatrie im Allgemeinen und die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Speziellen. Wie aber und wo Informationen bekommen, neue, fundierte, mit internationalen Vergleichsdaten angereichert – und vor allem lesbar, auch für interessierte Laien? Um das Tröstliche vorwegzunehmen: Es tut sich einiges, von Asperger bis Zwangsstörung. Denn auch die Spezialisten haben erkannt, dass sie ohne die Unterstützung der Laien in Form von Eltern, Lehrern, Lehrherrn, ja Freunden, Nachbarn, Trainern usw. wenig ausrichten können, dass man also allgemein verständlich und geduldig erklären muss, was sich hier so vielschichtig bis unfassbar zu entwickeln droht.
Grundlage populärmedizinischer Beiträge in den Medien, im Internet und in Sachbüchern aber ist und bleibt die Fachliteratur. Dazu nachfolgend ein Beispiel. Zuvor aber der für das heutige Verständnis unerlässliche Nachweis, nämlich die aktuelle Statistik.
Dabei sind erste epidemiologische Erhebungen bereits über drei Jahrzehnte alt (die so genannten Isle-of-Wight-Studie, 1970). Inzwischen hat sich manches verändert – zum Schlechteren. Die meisten Nachfolgestudien sprechen nicht mehr von 7% seelischen Störungen in Kindheit und Jugend (in mittelalterlichen Wallfahrtsbüchern sprach man auch schon von 6%...), sondern von 10 bis 25% (obere Schätzwerte bis zu 50%). Letzteres dürfte massiv überzogen sein und hängt wahrscheinlich mit methodischen Schwächen zusammen, die sich aus früheren Klassifikations-Studien der tonangebenden Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) mit ihrem DSM-III bis -IV-TR und mit ähnlichen Problemen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit ihrer Internationalen Klassifikation psychischer Störungen – ICD-10 zusammen. Da wird inzwischen gründlich überarbeitet, methodisch verbessert und damit realistisch korrigiert. Es bleibt aber die Erkenntnis: Der Trend geht nach oben, wie bei den Erwachsenen auch.
Was ist nun häufig? Vor allem Störungen des Sozial- sowie oppositionellen Verhaltens. Das Gleiche gilt für Angst- und depressive Störungen (obgleich man gerade bei den Angststörungen besser differenzieren sollte zwischen krankhaften Entwicklungen sowie nachvollziehbaren Sorgen und Befürchtungen durch persönliche und soziale Belastungen/Beeinträchtigungen). Einen neuen Interessen-Schub gibt es für die oben erwähnten und ja auch schon seit 150 Jahren beschriebenen Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen.
Viele Kinder erfüllen aber auch die Kriterien für mehr als eine psychiatrische Diagnose. Eine solche Komorbidität ist inzwischen eher die Regel als die Ausnahme. Depressionen beispielsweise sind sehr oft mit Angststörungen und expansivem Verhalten assoziiert. Offenbar handelt es sich hier um eine Art Sogwirkung, d. h. die eine Störung wird nach und nach zum Risikofaktor für eine andere.
Eines aber ist auf jeden Fall bedenklich: Die meisten Störungen im Kindes- und Jugendalter werden – wie bei Erwachsenen auch – nicht adäquat behandelt, ja, in der Mehrzahl der Fälle wohl nicht einmal erkannt. Hier also gilt es das vorhandene Wissen „unter die Leute zu bringen„, und zwar erst einmal bei den Ärzten aller Disziplinen, bei den Psychologen, Sozialarbeitern und darüber hinaus bei allen jenen Gruppierungen, die mit jungen Menschen zu tun haben (s. o.). Grundlage also sind das Fachwissen in Fachbüchern und danach allgemein verständliche Ausführungen. Zu den Fachbüchern der Kinder- und Jugendpsychiatrie gehören als Basis die Lehrbücher. Davon gab es – nebenbei bemerkt – schon vor mehr als einem halben Jahrhundert überraschend fundierte Werke (z. B. Tramer). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich Standardwerke (weil konkurrenzlos) und inzwischen eine wachsende Auswahl, teils aus deutschsprachiger Feder, aber auch gute Übersetzungen erfolgreicher angelsächsischer Fachbücher. Dazu gehört die Child Psychiatry von Goodman und Scott, in englischer Originalausgabe erstmals 1997 erschienen (Blackwell Science Ltd).
„Dieses Buch ist einzig in seiner Art und liefert die beste Einführung in die Kinderpsychiatrie, die jemals geschrieben wurde. Es bringt die Dinge auf den Punkt, ist sehr gut lesbar und von großem praktischen Nutzen... Bei den meisten Lehrbüchern dieser Art geht die Verständlichkeit für den Praktiker mit einem Mangel an wissenschaftlicher Genauigkeit einher; dieses hervorragende Buch zeigt, dass dieser Preis nicht bezahlt werden muss... Beeindruckenderweise wird diese Übersichtlichkeit ohne nachteiligen und unnötigen Dogmatismus erreicht, der so viele Lehrbücher belastet. Das Einzige, was ich bedauere, ist, dass ich dieses hervorragende Buch nicht selbst geschrieben habe.„
Soweit das im Übrigen mit dem typisch englischen Pragmatismus und Humor verfasste Geleitwort zur ersten Auflage von Professor Sir Michael Rutter (von dem die oben erwähnte erste epidemiologische Studie stammt). Lobender kann man sich nicht äußern. Die Autoren haben deshalb ihr Ziel auch typisch „erdverbunden„ auf den Punkt gebracht: bündig, klar, praktisch, sorgfältig, aktuell, wissenschaftlich genau, klinisch gründlich. Der Erfolg gab ihnen Recht.
Inzwischen liegt die Child Psychiatry als Übersetzung von A. Rothenberger (Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Göttingen) als Kinderpsychiatrie Kompakt vor. Übrigens angenehm adaptiert übersetzt (was wahrhaftig nicht die Regel ist, noch immer). Und nicht nur an unsere Verhältnisse angeglichen, sondern auch gezielt erweitert (einschließlich weiterer – auch deutschsprachiger – Literaturempfehlungen im Anschluss an jedes Kapitel). Und die gliedern sich in I.: Basis (Untersuchung/Abklärung, Klassifikation, Epidemiologie, neu: bio-psychosoziales Entwicklungsmodell), II.: Spezifische Störungen vom Autismus bis zur Zwangsstörung, III.: Risikofaktoren (geistige Behinderung, Sprech-, Sprach-, Lese-Störungen, unsichere Bindungen, Veranlagung, Erziehung, familiäre Widrigkeiten u.a.), in IV.: Behandlung (pharmakotherapeutisch (erweitert und aktualisiert), Verhaltenstherapie, kognitive und interpersonale Therapien, Familientherapie, sogar Diät u.a.) und – interessanter Anhang, typisch für die prüfungstrainierten Angelsachsen – IV.: Wissensüberprüfung (was ist richtig, was ist falsch?).
Unser Urteil: Umfassend, praxisbezogen, dabei tatsächlich kompakt geblieben. Kurz: Das Geleitwort hat Recht (VF).
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