H.-J. Möller, G. Laux, H.-P. Kapfhammer (Hrsg.):
PSYCHIATRIE & PSYCHOTHERAPIE
Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 2003.
2. neubearbeitete und ergänzte Auflage, 1.886 S., 369 z. T. farbige Abb., 712 Tab. € 164,95. ISBN 3-540-43783-5
Über 30 Lehr-, Lern- und Studienbücher stehen inzwischen für jene zur Verfügung, die sich für die Psychiatrie interessieren. Dabei sind die Fachbücher für Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie u.a. nicht miteingerechnet. Das würde die Zahl noch einmal kräftig erhöhen.
Wahrscheinlich gibt es keine medizinische Disziplin, die derzeit mit einem solchen Lehr-Angebot in Druckform aufwarten kann. Das war nicht immer so. Zwar gibt es psychiatrische Lehrbücher schon seit über 100 Jahren und einige von ihnen sind noch immer lesenswert (vor allem wenn sie vom persönlichen Stil, Wissen und einer jahrzehntelangen klinischen Erfahrung geprägt wurden, siehe Kraepelin, Bleuler u.a.). Doch die Zahl blieb meist begrenzt und lag bei etwa zwei bis drei „gängigen„ Lehrbüchern pro Mediziner-Generation. Doch dann flutete das Angebot an: 1990 waren es noch nicht einmal 10, sechs Jahre später rund doppelt so viel. Inzwischen sind es mehr als 30 – und in der Tat nicht die Schlechtesten. Und selbst jene, die man in Anlehnung an eine pharmakologische Abwertung als „me-too-Lehrbücher„ bezeichnen muss, haben beim näheren Studium irgendwelche Vorteile, teils didaktisch, teils inhaltlich, oft natürlich auch vom Umfang und damit Preis her (für manche Interessenten, die sich mit einer globalen Übersicht begnügen können nicht unwichtig).
Aufmachung, Umfang (Gewicht: im vorliegenden Fall mehr als 7 Pfund!) und Preis sind ohnehin die ersten Merkmale, die sich bei einem Lehrbuch aufdrängen. Und alle drei Aspekte haben zugelegt, und zwar kräftig. Die Aufmachung ist bunter, aber auch lesefreundlicher geworden. Wer einmal ein altes Lehrbuch daneben legt (sofern er es noch hat), wird gleich den unterschiedlichen Lese-Anreiz zu spüren bekommen, der von den verschiedenen Epochen ausgeht (wobei die ältere Generation behauptet, und dies nicht zu Unrecht, sie wären dafür fleißiger, sorgfältiger, gewissenhafter in ihren Lehrbuch-Studien gewesen, hätten sich weniger ablenken und mehr in die Arzt-Patient-Beziehung einbinden lassen). Wie auch immer: die Aufmachungen von gestern und heute trennen Welten.
Den Umfang allerdings auch. Dies lässt sich wohl im Interesse eines möglichst breiten und informativen Wissensstandes nicht vermeiden (obgleich das Gewicht mit z. T. mehreren Kilogramm der Handlichkeit immer engere Grenzen setzt). Ähnliches gilt für den Preis, der nun vor allem für die Studierenden kein beliebiger Faktor ist, für die dort gebräuchlichen Lern- und Studienbücher aber wieder erträglich gehalten wird.
Der Springer-Verlag ist mit psychiatrischen Lehrbüchern seit jeher vertreten und hier in der Regel mit den führenden Werken. Unter dem Ansturm der empfehlenswerten Konkurrenz drohte er diese Führungs-Position in den letzten Jahren einzubüßen, hat sie aber mit dem alle Dimensionen sprengenden Lehrbuch von Möller-Laux-Kapfhammer: Psychiatrie & Psychotherapie wieder zurückgewonnen. Selbst die fundierteste Konkurrenz (aus dem eigenen Hause mit dem Standard-Lehrbuch für Studenten, dem „Tölle„ und durch Urban & Fischer mit dem „Berger„, ferner durch bewährte ältere und neue Werke der Verlage Kohlhammer, de Gruyter, dem Psychiatrie-Verlag u.a.) konnte diesem Lehrbuch in 1. und nach zwei Jahren in 2. Auflage als Standardwerk für den Facharzt für Psychiatrie, Nervenheilkunde und Psychotherapeutische Medizin und die in Weiterbildung stehenden Ärzte nichts anhaben. Der Inhalt ist entsprechend breit angelegt: Allgemeine Aspekte (in Sektionen eingeteilt): Geschichte, Ätiopathogenese (Ursache und Krankheitsverlauf), Epidemiologie (Häufigkeit), Genetik (Vererbung), neuroanatomische, neuropathologische, neuroendokrinologische, psychoneuroimmunologische, neuropsychophysiologische sowie psychologische Grundlagen, soziologische und sozialpsychiatrische sowie antrophologische und transkulturelle Themenbereiche.
In der Sparte Klassifikation und Diagnose (hier ändert sich ständig etwas, was auch den Facharzt unnötig irritiert) die Kapitel über traditionelle und moderne Systeme, Biographie und Anamnese, internistische, neurologische und psychopathologische Befunde, Test- und Labordiagnostik, bildgebende Verfahren usw.
Sektion III enthält die therapeutischen Grundlagen (gewöhnungsbedürftig vorgezogen, bei den einzelnen Krankheitsbildern aber noch einmal spezifiziert), insbesondere Psychopharmakotherapie, sonstige biologische Therapieverfahren (Elektrokrampf- und Schlafentzugs-Behandlung, Lichttherapie), Psychotherapie, vor allem Verhaltens-, systemische, humanistische, Milieu-, Beschäftigungs- u.a. Therapie, Rehabilitation, Psychoedukation usw.
Danach die Krankheitsbilder und Syndrome: organische psychische Störungen, Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (Alkohol, Rauschdrogen und Medikamente), Schizophrenie und verwandte Leiden, affektive Störungen (Depression, Manie), neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (z.B. Angst- und Zwangsstörungen), Verhaltensauffälligkeiten wie Ess-, Schlaf- und Sexualstörungen), Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, Intelligenzminderung, Entwicklungsstörungen (insbesondere kinder- und jugendpsychiatrische Aspekte), Suizidalität, Notfallpsychiatrie, Geronto-(Alters-) und forensische (gerichtliche) Psychiatrie.
Ein nützlicher Anhang rundet das gewaltige Werk ab: Adressen von Fachgesellschaften, Dachverbänden, Selbsthilfe- und Angehörigengruppen, Auszüge praxisrelevanter Gesetze, Verzeichnis standardisierter Beurteilungsskalen, wichtige Fachzeitschriften des psychiatrisch-psychotherapeutischen Gebietes, eine Psychopharmaka-Übersicht und ein extrem kleingedrucktes, aber dafür lobenswert umfangreiches Sachverzeichnis.
Dieses Buch kann sich sehen lassen, der Preis zwar auch, aber er ist angemessen, wenn man den eindrucksvollen Gegenwert an Fachwissen berücksichtigt. Und so wird es nicht bei der 2. Auflage bleiben, trotz wachsender Konkurrenz, über die wir an dieser Stelle ebenfalls berichten werden (VF).
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