M. Berger (Hrsg.):
PSYCHISCHE ERKRANKUNGEN
Klinik und Therapie
Verlag Urban & Fischer, München-Jena, 2. Auflage 2004
1.264 S., 158 Abb., 296 Tab., € 129,-. ISBN 3-437-22480-8
„Früher war alles einfacher“ - auch für den Rezensenten. War ein Lehrbuch hilfreich, wurde es gelobt und empfohlen. War es das nicht, wurde es gerügt - oder einfach übergangen. Inzwischen gibt es über 30 Lehrbücher der Psychiatrie, vom Taschenbuch bis zum mehrere Kilogramm schwerem Nachschlagewerk. Und so richtig tadelswert ist keines mehr, haben doch Verlag, Herausgeber und Autoren den Sinn, Zweck und Wert konkreter Angebote und damit eines entsprechenden Ziel-Publikums erkannt. Kaum ein Lehrbuch, das nicht inzwischen vorgibt, für wen es sich als geeignet empfiehlt - und dieser Aufgabe auch weitgehend gerecht wird.
Unter den Lehrbüchern mit dem umfassendsten Angeboten herrscht inzwischen eine lebhafte und damit konstruktive Konkurrenz-Situation. Dazu gehören beispielsweise die Psychiatrie & Psychotherapie von Möller, Laux und Kapfhammer vom Springer-Verlag (inzwischen auch in 2. neu bearbeiteter und ergänzter Auflage erschienen) und die Psychiatrie und Psychotherapie von Berger, jetzt ebenfalls in 2. vollständig neu bearbeiteter und erweiterter Auflage. Über beide Bücher liegt in dieser Loseblatt-Sammlung bereits eine Besprechung vor. Was bietet nun die Neuauflage des „Berger’s“ für einen Preis, der sich fast verdoppelt hat (ein Faktor, den zu diskutieren man sich heute nicht mehr schämen muss)?
Als Erstes einige interessante neue Aspekte, eine Art Mittelweg zwischen formal und inhaltlich:
- Zum einen wurde der bisherige Titel „Psychiatrie und Psychotherapie“ in der 2. Auflage aufgegeben und durch „Psychische Erkrankungen - Klinik und Therapie“ ersetzt. Das ist ungewöhnlich - und hat in der Tat einen weitreichenden Hintergrund. Die Erläuterung des Herausgebers, dass es ein Buch ist, das auch außerhalb des Faches Psychiatrie und Psychotherapie Verbreitung gefunden hat, ist nicht zwingend, das gilt für andere Lehrbücher auch. Doch etwas anderes lässt aufhorchen: Denn M. Berger, inzwischen auch Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und damit - wohl gemerkt - nicht irgend ein Psychiater mit privater Meinung deutet an, dass es derzeit intensive Bestrebungen gäbe, den Begriff „Psychiatrie“ in Zukunft durch einen neutraleren, inhaltlich eindeutigen und für Patienten verständlicheren Begriff zu ersetzten. Und weiter in seinem Vorwort: Während mit „Psychiatrie“ oft unrealistische und nur historisch verstehbare Vorstellungen über Krankheitsspektrum und Behandlungsverfahren des Fachs verbunden sind, dürfte sich dieses Problem bei einer Bezeichnung wie „Medizin Psychischer Erkrankungen“ kaum ergeben.
Diese wenigen Zeilen, kommentarlos an den Schluss des Vorwortes zur 2. Auflage gestellt, deuten eine kleine Revolution in der alten „Seelenheilkunde“ und späteren Psychiatrie an. Sie beweisen, dass man sich in diesem fast explosionsartig expandierenden Fach mit den meisten interdisziplinären Berührungspunkten zu anderen medizinischen, psychologischen, soziologischen u.a. Bereichen Gedanken macht, nicht nur neue Ufer von Forschung und Lehre, Diagnose und Therapie ins Auge zu fassen, sondern auch gesellschaftliche Aspekte mehr als bisher zu berücksichtigen - im Interesse der Betroffenen und - nebenbei bemerkt - auch der in der Psychiatrie engagierten Ärzte, Psychologen, Schwestern, Pfleger, Sozialarbeiter usw.
Ob sich das allein mit einer Begriffsänderung erzwingen lässt, bleibt natürlich fraglich („des Kaisers neue Kleider?“), das wissen auch die Beteiligten. Schließlich hat sich das Los der Patienten mit einer Psychopathie oder hysterischen Symptomen nicht dadurch bessern lassen, dass man dies heute Persönlichkeitsstörung bzw. histrionische Persönlichkeitsstörung nennt (vom lateinischen: histrio = Gaukler - wo liegt da der Vorteil?).
Aber zurück zum erstaunlichen terminologischen Entschluss einer Buchtitel-Änderung, die wohl auch als Signal zur Umorientierung gedacht ist: Man kann, ja man muss es wohl akzeptieren, unterstützen und fördern. Dann aber sind auch die psychiatrisch Tätigen gehalten, den weiteren Schritt zu tun, nämlich auch inhaltlich allgemein verständlich auf jene zuzugehen, die man bisher - im deutschen Sprachraum - eher außen vor lassen wollte: nämlich eben diese Allgemeinheit. Das wird noch ein hartes Stück Arbeit werden. Da aber die deutsche Psychiatrie sich der US-amerikanischen immer mehr annähert (Fachliteratur wird inzwischen so gut wie ausschließlich in englischer Sprache zitiert) und die Amerikaner uns aus pragmatischen Gründen (Stichworte: Sponsoren, Einwerbung von Drittmitteln, Stiftungen u.a.) dies schon längst vorgemacht haben (meist etwas oberflächlich, aber gut lesbar, das muss der Neid ihnen lassen), werden auch wir daraus lernen (müssen). Und dann kann es schon sein, dass zumindest ein Teil des Problems sich mildern lässt, was ein wenig eingeengt und euphemistisch gedacht dem Begriff „Psychiatrie“ angehängt wird. Wer aber aus strategischen Gründen einen Fachbegriff ändert, muss schon auch den gesamten Hintergrund miteinbeziehen, „sonst hat er nur die Hauswand gestrichen, ohne die im Innern inzwischen bedenklich durchgebogenen Balken zu ersetzen“ (Zitat).
Aber immerhin, in diesem Fall handelt es sich um ein (erstes?) Signal und man muss abwarten, was damit eingeleitet werden konnte.
- Ein zweiter Aspekt in diesem Lehrbuch ist genauso interessant: Er rankt sich vor allem um die für so manche Leser neuen Begriffe „Evidenzbasierte Medizin (EBM)“ und „Cochrane Collaboration“:
Das eine heißt - verkürzt formuliert - dass Fachwissen nur dann noch wissenschaftlich vertretbar an ein Fach- und interessiertes Laienpublikum weitergegeben werden sollte, wenn es sich auf eine systematische und transparente Literaturrecherche stützt. Dafür sind inzwischen bestimmte Evidenzstufen definiert worden, eine Art Rangordnung verfügbarer Studien, erstellt von allseits anerkannten Institutionen.
Der zweite Begriff geht auf seinen Gründer, nämlich den Epidemiologen A. Cochrane (1909-1988) zurück, der vor schon vor drei Jahrzehnten auf die Notwendigkeit einer systematischen Evaluierung medizinischer Interventionen hinwies und vor allem deren leichte Zugänglichkeit forderte. Doch erst 20 Jahre später wurde eine entsprechende Datenbank aufgebaut, die den Grundstock der Cochrane-Library bildete. Heute ist die Cochrane-Collaboration ein weltweites Netzwerk, deren Ziel die Abfassung hochwertiger Reviews (systematische Übersichtsarbeiten mit laufender Aktualisierung) zu sämtlichen medizinischen (vor allem therapeutischen) Fragestellungen ist. Und dies mit inzwischen 13 Zentren auf allen fünf Kontinenten.
Das Ziel ist wichtig, der Weg aber weit - vor allem die Wissensvermittlung. Denn „alles ist (bekanntlich) im Fluss“ (Heraklit) und ein Lehrbuch mit gigantischem Umfang (und damit stattlichem Preis) kann nicht ständig überarbeitet und neu herausgegeben werden. (Es sei denn, es handelt sich um eine Loseblatt-Sammlung, wie der Herausgeber in seinem Vorwort einräumt.) Ein Kompromiss aber wäre durch die Kooperation von Lehrbuch und Internet möglich (was in der vorliegenden Loseblatt-Sammlung ebenfalls schon realisiert ist). Und hier bieten Herausgeber, Autoren und Verlag dieses Lehrbuchs - ein Novum, nachahmenswert - den Käufern dieses Buches eine vierteljährliche Aktualisierung unter www.Berger-Psychische-Erkrankungen-Klinik-und-Therapie.de [http://www.Berger-Psychische-Erkrankungen-Klinik-und-Therapie.de] an. Falls neue Metaanalysen die bisherigen Therapieempfehlungen infrage stellen, werden die Autoren der jeweiligen Kapitel diese neu erschienenen Reviews kommentieren. Ein interessantes Angebot, auch wenn es sich erst nach und nach einspielen dürfte.
Kurz: Der neue „Berger“ hat in der Tat auch neue Aspekte zu bieten, und zwar formal wie inhaltlich. Und bei Letzterem hatte man noch den Mut, Störungen in das Lehrbuch-Angebot aufzunehmen, die sich „offiziell“ noch nicht so recht etablieren konnten (oder durften...). Beispiele: die Aufmerksamkeitsdefizit-Störungen im Erwachsenenalter (und nicht nur bei Kindern und Jugendlichen) und die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von Migranten.
Ansonsten sind es die in dieser Loseblatt-Sammlung bereits besprochenen Kapitel (siehe M. Berger (Hrsg.): Psychotherapie und Psychotherapie, 2000): In vielen Bereichen vollständig neu bearbeitet und erweitert, ergänzt durch die wichtigsten Literaturhinweise (überwiegend englischsprachig) und die erwähnten systematischen Cochrane-Reviews (dann auch wenigstens www.cochrane.de/deutsch (http://www.cochrane.de/deutsch) und unterstützt durch ein umfangreiches und damit bewährten Sachverzeichnis.
Schlussfolgerung: Nicht billig, aber unverzichtbar für Fach-Bibliotheken und selbst nach relativ kurzer Neuauflagen-Zeit nicht umgehbar für alle in der Psychiatrie Tätigen. Denn hier werden nicht nur inhaltlich, sondern auch formal neue Wege beschritten, die die Zukunft prägen dürften (VF).
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