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ZUM THEMA: ADHS IM ERWACHSENENALTER
(„vom Zappelphilipp zum unkonzentrierten Chaoten“)

Es gibt immer wieder Phänomene in der Medizin, die es in erstaunlich kurzer Zeit von „unbekannt bis Überdruss“ schaffen. Dabei werden viele Erklärungsgründe bemüht, aber nur wenige leuchten ein. Das meiste ist schließlich so alt wie die Menschheit und bekommt erst nach Tausenden von Jahren plötzlich Bedeutung - warum? Natürlich sind in der Regel gesellschaftliche, soziopolitische, manchmal sogar kulturelle und sonstige zivilisatorische Faktoren von Bedeutung. Und vielleicht eine gewisse Anfälligkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen, die aber auch wieder auf die erwähnten Faktoren zurückgeführt werden können. Oder Geschlecht und Alter mit ihren jeweiligen Schwachpunkten (z. B. Pubertät, die „besten Jahre“, die leider meist die stress-intensivsten sind, Klimakterium, Rückbildungsalter, „drittes Lebensalter“).

Dieses sonderbare Auf und Ab (denn die Mehrzahl gerät auch wieder in Vergessenheit, sehr zu Lasten der Betroffenen) gilt sowohl für organische Krankheiten (z. B. Herzinfarkt, Hirnschlag, Blutdruck, Gewicht, Blutfette, Migräne, Spannungskopfschmerz, degenerative Verschleißerscheinungen von Wirbelsäule und Gelenken u. a.) als auch seelische Leiden. Man denke nur an die früher so häufig diagnostizierte und inzwischen als Begriff obsolete vegetative Labilität oder Dystonie, an die larvierte und Erschöpfungsdepression, an die Neurasthenie, Hysterie und Hypochondrie, an das chronische Müdigkeitssyndrom, die Fibromyalgie - und jetzt an das Burnout-Syndrom und die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Und Letzteres noch mit der spektakulären Verlagerung vom Kindes- und Jugendalter auf die Erwachsenen mit vielfältigen Erklärungsmöglichkeiten für allerlei Defizite im Alltag, von der besorgniserregenden Vergesslichkeit mit Langzeitfolgen für das ganze (Berufs-)Leben bis zur verstärkten Unfallgefährdung oder gar Kriminalität.

Das Problem dabei ist nicht der plötzliche Erkenntniszuwachs durch wissenschaftliches Bemühen, sondern das Medien-Echo, die Flut von (nicht immer fundierten) populärmedizinischen Beiträgen in Fernsehen, Funk und Print-Medien sowie inzwischen auch von Sachbüchern mit zum Teil ganz unterschiedlicher wissenschaftlicher Ausgangslage und bisweilen schwer durchschaubarer Seriosität. Dabei gilt eine alte und durchaus bedauerliche Regel, die zwar Ausnahmen kennt, aber leider eher selten, die besagt: Je seriöser (wissenschaftlicher), desto schwerer lesbar und umgekehrt: je flotter geschrieben, desto lockerer wird oft mit den (am Anfang erst halt einmal begrenzt aussagekräftigen) wissenschaftlichen Erkenntnissen umgegangen.

Die erwähnten ADHS bzw. ADS (bei Letzterem fehlt dann das H für Hyperaktivitätsstörung, d. h. der Schwerpunkt des Leidens liegt beim Aufmerksamkeitsdefizit) sind ein solches Phänomen. Dabei ist auch dieses durchaus ernst zu nehmende Beschwerdebild so alt wie die Menschheit und wurde schon vor 150 Jahren von einem selbst betroffenen Psychiater in leitender Klinikposition für seine offensichtlich hyperaktiven Kinder in unerreicht köstlichen Versen und eindrucksvollen Bildern festgelegt (gemeint ist Dr. med. Heinrich Hoffmann’s Struwwelpeter, ergänzt durch den Zappelphilipp, den bösen Friederich, den Daumenlutscher, den Suppenkasper und den Hans-Guck-in-die-Luft, 1944). Und selbst die so umstrittene Behandlung mit Methylphenidat (z. B. Ritalin®) ist auch schon über 50 Jahre alt (1944 entwickelt, 1954 auf den Markt gebracht). Die Wirkgruppe der Amphetamine, der diese Substanz angehört, ist nebenbei noch um einiges älter (1887 synthetisiert). Kurz: „Hier gibt es wirklich nichts Neues unter der Sonne“.

Gleichwohl gehen die Wogen unverändert hoch und verunsichern jene, die sich - ohne Grund und nur aus Interesse oder gar mit ernstem Anliegen - ein möglichst objektives Bild machen wollen. Das wird zwar unverändert schwierig bleiben, obgleich in anderen Nationen, z. B. den angelsächsischen wie USA und Großbritannien, aber auch in Skandinavien die unnötig ausufernden Diskussionen ihrem Ende zugehen und rationalen Schlussfolgerungen Platz machen. Das wäre auch dringend nötig, denn es besteht - wie es so schön heißt - Handlungsbedarf, und zwar diagnostisch, differentialdiagnostisch (was könnte es sonst noch sein oder kommen noch gar mehrere Leiden auf einmal zusammen?), therapeutisch und präventiv.

Bei Letzterem stellt sich die Frage: Lässt sich die Anlage zu ADHS/ADS vielleicht durch rechtzeitige (also frühkindliche) Maßnahmen eindämmen, so dass später nur begrenzt oder überhaupt keine medikamentöse Behandlung nötig wird. Das würde aber auch be­deuten, dass diese Kinder nicht den herkömmlichen und immer weniger korrigierten Überstimulationen ausgesetzt werden, die unsere Zeit und Gesellschaft im wachsenden Maße bereithält. Ob dass in einer durchschnittlichen Familie möglich ist, wird sich wohl erst zeigen müssen.

Antworten zu allen diesen Fragen und noch weit mehr (es stellen sich ständig neue) geben also inzwischen zahlreiche Bücher, überwiegend populärmedizinische (einige davon fundiert und anregend zugleich geschrieben), immer mehr auch wissenschaftlich-fachliche. Die meisten in englischer Sprache, zunehmend auch in Deutsch. Und die zu erwartende Flut von fachlichen und immer mehr allgemeinverständlichen Broschüren aus der Hand (und Sicht?) der Pharmaindustrie. Das hat sein bekanntes Für und Wider, denn zum einen wird dadurch das notwendige Wissen regelrecht in die Bevölkerung „hineingedrückt“, zum anderen aber aus dem nachvollziehbar wertenden Blickwinkel des „Informations-Sponsors“ gewichtet, der sein eigenes Anliegen natürlich auch nicht zu unterdrücken vermag (Arzneimittel).

Nachfolgend im Kasten eine Auswahl ohne Wertung. Und anschließend eine kurz gefasste Übersicht zum Thema ADHS im Erwachsenenalter, denn das ist der „allerneueste“ Aspekt zu diesem Thema, obgleich ja – wie gesagt – so alt wie die Menschheit, wenn auch nicht durch die derzeitigen „Zivilisations-Bedingungen“ so überfordernd bis un-kompensierbar verstärkt.

ADHS/ADS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen*

Amft, H., M. Gerspach, D. Mattner: Kinder mit gestörter Aufmerksamkeit. ADS als Herausforderung für Pädagogik und Therapie. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart-Berlin-Köln 2002

Barkley, R.A.: Das große ADHS-Handbuch für Eltern. Verlag Hans Huber, Bern-Göttingen-Toronto-Seattle 2002

Czerwenka, K. (Hrsg.): Das aufmerksamkeitsgestörte und hyperaktive Kind. Ursachen, didaktische Konzepte, schulische Hilfe. Beltz-Verlag, Weinheim und Basel 1994

DeGrandpre, R.: Die Ritalin-Gesellschaft. ADHS: eine Generation wird krankgeschrieben. Beltz-Sachbuch, Weinheim 2004

Döpfner, M., St. Schörmann, G. Lehmkuhl: Wackelpeter und Trotzkopf. Hilfen bei hyperkinetischem und oppositionellem Verhalten. Beltz-Verlag, PsychologieVerlagsUnion, Weinheim 1999

Döpfner, M. u. Mitarb.: Ratgeber Psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Hogrefe-Verlag für Psychologie, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle 2000

Döpfner, M, J. Frölich, G. Lehmkuhl: Hyperkinetische Störungen. Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie. Hogrefe-Verlag für Psychologie, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle 2000

Eckstadt, A.: Der Struwwelpeter. Dichtung und Deutung. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 1998

Farnkopf, R.: ADS und Schule. Tipps für Unterricht und Hausaufgaben. Beltz-Sachbuch, Weinheim 2004

Fitzner, Th., W. Stark (Hrsg.): ADS: verstehen - akzeptieren - helfen. Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität und ohne Hyperaktivität. Beltz-Taschenbuch, Weinheim 2004

Fitzner, Th. (Hrsg.): Doch unzerstörbar ist mein Wesen. Diagnose AD(H)S – Schicksal oder Chance? Beltz-Taschenbuch, Weinheim 2004

Hallowell, E.M., J.J. Ratey: Zwanghaft zerstreut. ADD – Die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein. Rowohlt-Verlag. Reinbek bei Hamburg 1999

Hartmann, T.: Eine andere Art, die Welt zu sehen: ADD. Schmidt-Römhild-Verlag, Lübeck-Berlin 1997

Hartmann, T.: ADD: Veränderungen selbst bewirken. Schmidt-Römhild-Verlag, Lübeck-Berlin 2000

Herzog, G.H.: Heinrich Hoffmann. Leben und Werk des Struwwelpeter-Vaters in Texten und Bildern. Insel-Verlag, Frankfurt 1995

Hoffmann, H.: Gesammelte Gedichte, Zeichnungen und Karikaturen. Insel-Verlag, Frankfurt 1987

Hoffmann, H.: Lebenserinnerungen. Insel-Verlag, Frankfurt 1985

Holowenko, H.: Das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS). Wie Zappelkindern geholfen werden kann. Beltz-Sachbuch, Weinheim 2004

Josuran, R. u. Mitarb.: Mittendrin und nicht dabei. Verlag Hoffmann, Berlin 1999

Klaus, D., E. Aust-Klaus, P.-M. Hammer: A.D.S – Das Erwachsenen-Buch Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Obersterbrink-Verlag, Ratingen 2002

Krause, J., K.-H. Krause: ADHS im Erwachsenenalter. Schattauer-Verlag, Stuttgart-New York 2005

Nadau, K.: Bin ich anders? Mädchen und Frauen mit ADS. Juvemus-Selbstverlag, Koblenz 2001

Neuhaus, C.: Hyperaktive Jugendliche und ihre Probleme. Urania-Ravensburger-Verlag, Berlin 2000

Pentecost, D.: Alltagsprobleme mit ADHS-Kindern wirkungsvoll lösen. Beltz-Sachbuch, Weinheim 2004

Resnick, R.J.: Die verborgene Störung – ADHS bei Erwachsenen. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2004

Ryffel-Rawak, D.: ADHS bei Erwachsenen. Verlag Hans Huber, Bern-Göttingen-Toronto-Seattle 2001

Ryffel-Rawak, D.: Wir fühlen uns anders! Wie betroffene Erwachsene mit ADS/ADHS sich selbst und ihre Partnerschaft erleben. Verlag Hans Huber, Bern-Göttingen-Toronto-Seattle 2003

Schäfer, U.: Musst Du dauernd rumzappeln? Die hyperkinetische Störung: ein Ratgeber. Verlag Hans Huber, Bern-Göttingen-Toronto-Seattle 2000

Schäfer, U.: Tim Zippelzappel und Philipp Wippelwappel. Eine Geschichte für Kinder mit ADS-Syndrom. Verlag Hans Huber, Bern-Göttingen-Toronto-Seattle 2003

Schiffer, E., H. Schiffer: Nachdenken über Zappelphilipp – ADHS: Beweg-Gründe und Hilfen. Beltz-Sachbuch, Weinheim 2004

Schulte-Markwort, M., A. Warnke (Hrsg.): Methylphenidat. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 2004

Simchen, H.: ADS – unkonzentriert, verträumt, zu langsam und viele Fehler im Diktat. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart-Berlin-Köln 2002

Spallek. R.: Große Hilfe für kleine Chaoten. Ein Ratgeber bei kindlichen Aufmerksamkeitsstörungen. Walter-Verlag, Düsseldorf-Zürich 2000

Spallek, R.: Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Ein kurzer Leitfaden zur Diagnostik und Therapie. Walter-Verlag, Düsseldorf-Zürich 2001

Solden, S.: Die Chaosprinzessin. BV-AH e.V., Forcheim 1999

Steinhausen, H.-C. (Hrsg.): Hyperkinetische Störungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart-Berlin-Köln 2000

Stollhoff, K.: Hochrisiko ADHS. Schmidt-Römhild-Verlag, Lübeck 2002

Textor, M.R. (Hrsg.): Problemkinder? Auffällige Kinder in Kindergarten und Hort. Beltz-Verlag, Weinheim und Basel 1996

Thierstein, C.: Unruhige, unkonzentrierte und auffällige Kinder im Alltag: POS, ADS und AKS. Eine Hilfestellung. P. Haupt-Verlag, Bern 1999

Trott, G.E.: Das hyperkinetische Syndrom und seine medikamentöse Behandlung. I.A. Barth-Verlag, Leipzig-Berlin-Heidelberg 1993

Weiss, L.: Eins nach dem anderen. Brendow-Verlag, Moers 2001

Wender, P.H.: Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Verlag W. Kohlkammer, Stuttgart 2002



Informationsbroschüren, Faltblätter, Handzettel*

Inzwischen zahlreiche Informationshilfen aus unterschiedlichsten Quellen und auch Intentionen (einschließlich Pharmaindustrie). Nur zwei Beispiele:

Schulte-Markwort, M., M. Zinke (Hrsg.): ADS/ADHS. Fortschritte in der Diagnose und Therapie. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 2003

Hamburger Arbeitskreis ADS/ADHS: Leitfaden ADS/ADHS. Informationsbroschüre des Hamburger Arbeitskreises. Stand November 2002

Rösler, M., B. Alm, S. Krämer: ADHS bei Erwachsenen. Sichtweisen und Empfehlungen. Informationsbroschüre von Lilly-Deutschland 2004



Selbsthilfegruppen – Beratungsstellen – Internet*

Dazu inzwischen zahlreiche Selbsthilfegruppen, vom Bundesverband Aufmerksamkeitsstörungen/Hyperaktivität e.V. (BV AH), Bundesverband Arbeitskreis Überaktives Kind e.V. (BV AÜK), Elterninitiative zur Förderung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit AufmerksamkeitsDefizitSyndrom (ADS) mit/ohne Hyperaktivität (ADS e.V.), Vereinigung zur Förderung von Kindern und Erwachsenen mit Teilleistungsschwächen e.V. (Juvemus), bis zu offiziellen Beratungsstellen einer Vielzahl von Institutionen und schließlich regionalen Selbsthilfegruppen. Und natürlich Internet (z. B. ADHS im Erwachsenenalter - Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde - DGPPN).

* Auswahl ohne Wertung

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bzw. Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) im Erwachsenenalter – eine Kurzfassung

Das hyperkinetische oder konkreter: hyperaktive Syndrom, wissenschaftlich Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder „nur“ Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) genannt, im Volksmund als „Zappelphilipp“ bekannt, belastet nicht nur die psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, sondern kann auch die Lebensqualität und Leistungsfähigkeit bis ins Erwachsenenalter hinein ruinieren. Nachfolgend eine kurz gefasste Übersicht zum Beschwerdebild im Erwachsenenalter (beginnend bei älteren Jugendlichen und Heranwachsenden bis ins hohe Alter hinein).

Zuerst die schon erwähnte Frage der Häufigkeit: Man schätzt die Zahl der krankhaft Hyperaktiven oder „Zerstreuten“ auf 6 bis 10% im Kindes- und Jugendalter, Knaben drei bis vier Mal so häufig wie Mädchen. Das sind Hunderttausende von Betroffenen und - wenn man die mitunter verzweifelten Eltern und zermürbten Lehrer mit einbezieht - Millionen von ernsthaft Belasteten.

ADHS/ADS pflegt aber auch in etwa einem Drittel bis zur Hälfte der Fälle bis ins Erwachsenenalter hineinzureichen, ohne dass die Betroffenen meist ahnen, was bisher Partnerschaft, Familie, Freundeskreis und vor allem die berufliche Leistungsfähigkeit so nachhaltig beeinträchtigt hat. Nicht wenige geraten sogar in eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit grenzwertigem Verhalten, wenn nicht gar (halb-)kriminellen Entgleisungen, in extreme Nikotinsucht (ein überzogener Nikotin-Konsum ist eines der kennzeichnenden Merkmale des jungen ADHS-Patienten), in Alkoholkrankheit oder Rauschdrogenmissbrauch.

ADHS ist aber in den seltensten Fällen eine alleinige Diagnose. Schon im Kindes- und Jugendalter findet man in etwa der Hälfte der Fälle zusätzlich Störungen des Sozialverhaltens, Lernbehinderungen, Tic’s u. a. Beim Erwachsenen sollen es sogar noch mehr sein, die zusätzlich unter einer Abhängigkeit (zumeist Alkohol und Rauschdrogen - s. o.), unter affektiven (meist depressiven) Störungen, unter Angsterkrankungen (vor allem Generalisierte Angststörungen), unter Schlafstörungen und den erwähnten dissozialen Persönlichkeitsstörungen, zumindest aber dissozialem Verhalten leiden (Untersuchungen in Vollzugsanstalten ergeben eine bedenklich hohe Zahl von ADHS-Betroffenen).

Welches sind nun die wichtigsten Symptome im Erwachsenenalter?

Aufmerksamkeitsstörung: erhöhte Ablenkbarkeit, Unvermögen, längeren Gesprächen aufmerksam zu folgen (vor allem wenn es nicht interessiert oder selber betrifft), Schwierigkeiten, sich auf schriftliche Aufgaben zu konzentrieren, „Lesefaulheit“ und damit Neigung zu nur noch „flüchtigem Überlesen“ oder „Überfliegen“, Vergesslichkeit, häufiges Verlieren oder Verlegen von Gegenständen wie Autoschlüssel, Geldbeutel oder Brieftasche u. a., besonders in stressintensiven Situationen.

Motorische (Bewegungs-)Hyperaktivität: innerlich unruhig, unfähig, sich zu entspannen, „nervös“, kann längeres Ruhig-Sitzen nicht durchhalten (Spielfilme, Theater, Vorträge, Flugzeug u. a.), kann nicht ruhig studieren (und damit nutzbringend umsetzen), „stets auf dem Sprung“, immer schneller als andere (Spaziergänge), Fuß-Wippen und Finger-Trommeln, unleserlich Schrift, missgestimmt-reizbar, wenn er längere Zeit inaktiv sein muss usw.

Affektlabilität (Gemütslabilität): Häufiger Wechsel von unauffällig zu resigniert-niedergeschlagen, am ehesten im Sinne einer unseligen Mischung aus unzufrieden und gelangweilt (s. u.). Meist auf bestimmte Auslöser hin und einige Stunden bis Tage anhaltend, gelegentlich aber auch spontan und ohne Grund.

Desorganisiertes Verhalten: Keine konstruktive Planung und Organisation möglich, „Chaos“ am Arbeitsplatz, in der Haushaltsführung, sogar in der Freizeitgestaltung. Nichts wird richtig zu Ende gebracht, planloser Wechsel, unnötiges „Hängenbleiben“, dann wieder sprunghaft und desorganisiert zum nächsten Punkt. Unsystematische Problemlösungsstrategien, Schwierigkeiten in der zeitlichen Organisation (unfähig, Zeitpläne oder Termine einzuhalten) u.a. Größter Wunsch: „Sein Leben besser sortieren zu können“ (Zitat).

Affekt-(Gemüts-)Kontrolle: dauernd missgestimmt-reizbar, schon aus geringem Anlass, verminderte Frustrationstoleranz, schnelle Wutausbrüche (allerdings von kurzer Dauer, meist nicht nachtragend). Beispiele: Straßenverkehr, aber auch im sonstigen zwischenmenschlichen Bereich - mit entsprechend nachteiligen Konsequenzen.

Impulsivität: wie bei Kindern, im Erwachsenenalter aber ungleich folgenschwerer (Vorwurf: undiszipliniert, distanzlos, „keine Kinderstube“). Beispiele: Dazwischenreden, Unterbrechen anderer im Gespräch, ungeschickte bis unverfrorene Distanzlosigkeit, impulsive Reaktionen (z. B. beim Einkauf, in Behörden, in der Warteschlange, im Restaurant: „dreist, impertinent, anmaßend, unverschämt u. a.), ferner „keine Geduld“, „keine Nachsicht“, „kein Verständnis“, „keine Sorgfalt“, „keine Zuverlässigkeit“ usw. wie entsprechende Vorwürfe lauten.

Emotionale Überreagibilität („schnell oben raus“): unfähig oder nur unzureichend in der Lage, mit alltäglichen Stressoren (Partnerschaft, Familie, Nachbarschaft, Arbeitsplatz, Kunden/Schüler/Patienten, Verkehr u. a.) umzugehen. Die Reaktionen sind überschießend, und zwar sowohl impulsiv-reizbar als auch unangebracht furchtsam, rasch frustriert, resigniert, deprimiert usw. Kurz: „schnell belästigt‘“ oder „rasch gestresst“. Folge: häufiger in auch schwerere Unfälle verwickelt als andere Straßenverkehrsteilnehmer, mehr beruflicher Wechsel bis hin zu vorzeitiger Entlassung („Rauswürfe“), häufiger Scheidungen/Trennungen und offensichtlich auch häufiger kriminelle Entgleisungen (s. o.).

Bisweilen wird diese ständige Miss-Stimmung durch gefährliche Aktivitäten neutralisiert: gewagtes Motorrad- und Autofahren, sonstige gefährliche Sportarten, entgleisungsgefährliche Selbstbehandlungsversuche mit Alkohol, Rauschdrogen und vor allem Nikotin (Letzteres kann sogar biochemisch nachweisbar der Beruhigung des ADHS-Betroffenen dienen: Dopamin-Stoffwechsel).

Was kann man tun?

Ein Leben unter solch erschwerten Bedingungen ist nicht lustig, zumal der erwachsene Hyperaktive mit viel Widerständen zu kämpfen hat, die er zum nicht geringen Teil selber provoziert - krankheitsbedingt. Und da das hyperkinetische Syndrom vererbt werden kann, pflegt sich so mancher Erwachsene an einen vergleichbar belasteten und andere belastenden Elternteil oder Verwandten zu erinnern und - noch schlimmer - nicht selten auch an ein eigenes Kind mit diesem Krankheitsbild.

Das aber ist oft die Schiene, auf der dann auch Erwachsene in Behandlung kommen: das Kind über Haus- und Kinderarzt zum Kinder- und Jugendpsychiater, der Erwachsene zum Psychiater. Am erfolgreichsten ist die Kombination aus Psycho- und Soziotherapie, Grundlage aber sind bestimmte Medikamente, um den nicht-medikamen­tösen Behandlungsmaßnahmen überhaupt folgend zu können. In manchen Fällen reicht schon eine alleinige medikamentöse Unterstützung, weil dann die gesunden Anteile des Betroffenen von sich aus ausreichend greifen. Diese Entscheidung sollte man allerdings den zuständigen Erwachsenen-, Kinder- und Jugendpsychiatern bzw. Psychologen überlassen.

Am häufigsten in der Diskussion ist das Methylphenidat (Ritalin, Concerta u. a.), das im Kindes- und Jugendalter auch die besten Erfolge aufweist (nebenbei ohne Suchtgefahr!). Neu für Kinder und Jugendliche auch Atomoxetin. Im Erwachsenenalter beginnt man bisweilen mit bestimmten Antidepressiva. Wenn diese wider Erwarten - die Erfolge sind in der Regel zumindest befriedigend - nicht greifen, muss man auch die oben erwähnten Psychostimulanzien in Betracht ziehen (was aber im Erwachsenenalter mitunter mit einer so genannten pharmakogenen Depression bezahlt werden muss). Gesamthaft gesehen aber lohnt sich auf jeden Fall ein Behandlungsversuch. Oft spürt der Betroffene gar nicht so viel, sein Umfeld aber sehr wohl. Das besteht dann auch meist darauf, die medikamentöse Behandlung fortzusetzen, was letztlich Bände spricht...

Die Bitte der Betroffenen (und seiner Umgebung) lässt sich auf jeden Fall auf vier Stichworte reduzieren: „ruhiger - konzentrierter - gelassener - sortierter“. Das ist in der Regel ausreichend leistbar. Wenigstens ein kleiner Trost nach einem bis dahin oft frustrierenden Leben (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).