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D. Naber, M. Lambert (Hrsg.):
SCHIZOPHRENIE
Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 2004, 203 S., 17 Abb., € 59,95. ISBN 3-13-128251-7

Die Wahrscheinlichkeit, gemessen an einem ganzen menschlichen Leben, wenigstens einmal an Depressionen zu erkranken (so genannte Lebenszeit-Prävalenz) wird in der westlichen Welt derzeit auf mindestens 10 Prozent geschätzt. Tendenz steigend. Eine andere psychische Störung, nämlich die Schizophrenie, bleibt – zumindest seit man statistisch nachprüfbare Daten hat – bei einem Prozent stehen. Das sind aber auch etwa eine Million Betroffene im deutschsprachigen Bereich, rund 60 Millionen weltweit. Gemessen an den Depressionen, den Angststörungen, vor allem aber den Befindlichkeitsstörungen (früher vegetative Labilität genannt) macht sich das eher „bescheiden“ aus. Doch der Scheint trügt.

Wie die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) in der Fachzeitschrift Nervenarzt 75 (2004) 195 ausführt, stellt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem World-Health-Report 2001 fest, dass Depressionen zwar mit annähernd 12 Prozent die weltweit führende Ursache für die durch Behinderung beeinträchtigten Lebensjahre (bezogen auf die gesamte Lebensspanne) darstellen. Unter den zehn wichtigsten Krankheiten finden sich aber neben Alkoholerkrankungen und bipolaren (manisch-depressiven) Störungen auch die Schizophrenien. Schränkt man die Altersspanne auf die so genannten „besten“ Jahre (zwischen 15 und 44) ein, wird der hohe Stellenwert noch deutlicher. Dann rangieren Depressionen, Alkoholerkrankungen und Schizophrenien auf den ersten drei Positionen und machen etwa ein Viertel aller durch Behinderung beeinträchtigten Lebensjahre in dieser Altersgruppe aus.

Demzufolge ergaben Berechnungen der Weltbank und der Harvard University, dass im Jahre 2020 fünf psychische Störungsbilder unter den zehn wichtigsten Erkrankungen rangieren werden. Das ergibt folgendes Bild: An erster Stelle Depressionen, gefolgt von Alkoholmissbrauch und dem körperlichen Leiden Osteoarthritis, danach Demenz und andere degenerative Erkrankungen des Zentralen Nervensystems (und damit Seelenlebens!), gefolgt von Schizophrenie, bipolaren affektiven Störungen (Depression und Manie) sowie zerebrovaskulären Erkrankungen (mit wiederum meist seelischen und psychosozialen Folgestörungen). Und schließlich Lungenleiden, die Folgen von Autounfällen sowie Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit). Das alles summiert sich dann unter dem Aspekt einer so genannten 12-Monats-Prävalenz (s. o.) aller psychischer Erkrankungen auf rund 31 Prozent, oder konkret: Dann erfährt fast jeder Dritte am eigenen Leibe, was es heißt, an einer psychischen Störung zu erkranken.

Mit anderen Worten: Depressionen und Angsterkrankungen (hier vor allem Phobien, also Zwangsbefürchtungen), somatoforme Störungen (früher als psychosomatisch bezeichnet), Suchtleiden und psychotische Erkrankungen, d. h. vor allem Schizophrenien werden aus psychiatrischer Sicht unsere gesundheitliche und damit psychosoziale Zukunft dominieren.

Da kommt ein interessanter Sammelband über die Schizophrenie gerade recht. Herausgegeben von Professor Dr. Dieter Naber und Dr. Martin Lambert (Psychiatrische Universitätsklinik Hamburg) bieten mehr als ein Dutzend Psychiater und Psychologen aus dieser Klinik ein breites Spektrum an aktuellen Erkenntnissen zu Diagnose, Therapie, Prävention und Rehabilitation dieser Krankheit, die die Psychiatrie mehr geprägt hat als alle anderen Leiden – jedenfalls bis heute. Dabei erfreut gleich als Erstes ein Vorwort der Herausgeber, das nicht nur die bekannten (leider meist inhaltsarmen) Floskeln enthält, sondern eine verwertbare Zusammenfassung des Inhalts darstellt.

Schizophrenie – Krankheitsbild mit hohen Anforderungen an alle Beteiligte

So ist die Schizophrenie trotz zahlreicher therapeutischer Fortschritte immer noch eine Krankheit mit ungewissen Heilungsaussichten. Nur 20 bis 25 Prozent zeigen nach ihrer erstmaligen Erkrankung keine weiteren Auffälligkeiten oder psychosozialen Belastungen mehr. 30 bis 50 Prozent leiden in den folgenden Jahrzehnten unter kurzen, leichten bis mittelschweren Einschränkungen, die auch gelegentliche Klinikaufenthalte einschließen können. Bei 30 bis 40 Prozent hingegen ist eine so genannte Residual-Symptomatik (Rest-Beschwerdebild) nicht zu umgehen. Und hier ist es vor allem die gefürchtete Negativ-Symptomatik, also insbesondere Antriebs- und Affekt-(Gemüts-)Störungen und kognitive (geistige) Einbußen, die auch dann zurückbleiben, wenn produktiv-psychotische Symptome (Wahn und Halluzinationen) zurückgegangen sein sollten.

Auch ist der individuelle Verlauf noch immer unvorhersehbar. Natürlich kommt es darauf an, wie das Leiden begann (akut oder schleichend), wie die prämorbide Persönlichkeit eingreift (also die Wesensart vor der seelisch verändernden Erkrankung) und wie alt der Betreffende bei Ersterkrankung ist (je früher, desto nachteiliger, was besonders das männliche Geschlecht trifft). Aber – wie erwähnt – es kommt auf den Einzelfall an.

Die Schizophrenien sind aber nicht nur für die Erkrankten eine schwere Bürde, bis hin zur Katastrophe (10 bis 12 Prozent aller Schizophrenen suizidieren sich, nicht zuletzt mit harten bis stellenweise grausam anmutenden Selbsttötungsmethoden). Sie ist auch von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung: Jährlich werden etwa 120.000 Patienten in eine (hoffentlich Fach-)Klinik aufgenommen. Die mittlere Verweildauer liegt bei 77 Tagen (das ist deutlich mehr als bei den meisten anderen Leiden, insbesondere körperlicher Ursachen). Das führt zu etwa 1,5 Milliarden Euro stationärer Behandlungskosten. Die jährlichen Gesamtkosten von rund 5 Milliarden Euro (unter Berücksichtigung von Arbeitsunfähigkeit und Frührente) machen etwa 1,7 Prozent der GKV-Gesamtausgaben aus. Früher hätte man diese Wirtschafts-Daten gar nicht in den Mund genommen (bzw. nehmen dürfen). Heute spricht man darüber ungerührt – und drückt auch ohne Hemmungen alle „notwendigen administrativen Maßnahmen“ durch, die das Budget entlasten (aber kaum die Betroffenen). Der neuerdings so gerne propagierte Leitspruch: „In unserer Mitte der kranke Mensch“ darf bekanntlich nicht nach seinem objektivierbaren Inhalt abgetastet werden…

Was tun?

Aber es gibt in der Tat Möglichkeiten, die nicht nur persönliches Leid, sondern auch die Kosten reduzieren könnten: Nämlich ausreichender Wissensstand, frühzeitige Diagnose, konsequentes Akzeptieren des Leidens und damit rechtzeitige Therapie einschließlich zuverlässiger Langzeit-Behandlung oder zumindest -Betreuung. Denn auch bei uns vergehen im Durchschnitt zwei Jahre (früher sollen es doppelt so viel und mehr gewesen sein), bis nach den ersten (Warn-)Symptomen die Diagnose gestellt und eine adäquate Therapie begonnen wird. Und es wird immer deutlicher, dass die Dauer der unbehandelten Psychose für den Erfolg der Therapie und insbesondere für die Langzeitprognose von großer Bedeutung ist. Dabei muss gar nicht sofort zu Medikamenten gegriffen werden, was die Patienten und ihre Angehörigen ohnehin aus zwei Gründen scheuen: Zum einen die Nebenwirkungen („Pillenkeule“), die bei der neuen Generation der atypischen Neuroleptika aber bei weitem nicht mehr so belastend sind und zum zweiten eine psychologische Barriere: Wer antipsychotische Neuroleptika nimmt, der gibt auch zu, dass er seelisch krank ist, in diesem Fall nach populärer Ansicht sogar „geisteskrank“. Und das ist die schärfste Form der psychiatrischen Laien-Diagnose mit stigmatisierendem Unterton – noch immer.

Deshalb die Erkenntnis, die sich herumsprechen sollte: Bei rechtzeitiger Diagnose im frühen Stadium einer beginnenden Schizophrenie können auch rein psychotherapeutische Maßnahmen ausreichen, Medikamente bleiben oft erst einmal in Reserve. Und wenn, dann in vorsichtiger, einschleichender Dosierung (was wiederum die Nebenwirkungen – falls überhaupt – mildert).

Und eine dritte Behandlungssäule gilt es publik zu machen: die Soziotherapie oder psychosozialen Interventionen. Dies vor allem zur Rezidiv-Prophylaxe (Verhinderung eines Rückfalls) bzw. zur Verbesserung des Langzeitverlaufs. Dazu gehören Familientherapie, Psychoedukation (eine Art psychiatrische (Gruppen-)Pädagogik) sowie computer-gestützte neuropsychologische Trainingsprogramme. Das alles ist erfolgreich, braucht am Anfang vielleicht etwas mehr Investitionen, mindert am Schluss aber eindrucksvoll die Kosten, die sich vor allem heimlich summieren (s. o.). Leider werden diese Möglichkeiten heute noch völlig unzureichend genutzt und zwar sowohl im Bereich der niedergelassenen Ärzte als auch im klinischen Alltag. In beiden Fällen spielt natürlich wieder das Geld eine wichtige Rolle, nämlich Spezialisten ausbilden (Klinik) und die Leistungen angemessen erstattet zu bekommen (vor allem niedergelassene Ärzte).

So bleibt nur zu hoffen, dass sich dies auch in den entscheidenden Kreisen herumspricht: Man kann sparen, wenn man rechtzeitig und an der richtigen Stellen den finanziellen Überblick hat.

Ein Buch kann helfen

Das vorliegende Buch kann dabei helfen, insbesondere natürlich den Psychiatern, Psychologen, Sozialarbeitern, Pflegekräften, aber auch niedergelassenen Ärzten (nicht nur für Psychiatrie, Nervenheilkunde und Psychotherapeutische Medizin, auch für andere Disziplinen, denn Schizophrene werden einen wachsenden Anteil an ihrer Klientel haben – s. o.). Selbst für interessierte Laien kann dieses Buch ein Gewinn sein, denn es enthält zum Thema „Schizophrenie“ so ziemlich alles, was dieses Krankheitsbild an Problemen aufwirft (ein Wörterbuch der Psychiatrie sollte ohnehin jeder in seiner Hand-Bibliothek bereithalten, z. B. U. H. Peters: Wörterbuch der Psychiatrie, Psychotherapie und Medizinischen Psychologie, Urban & Schwarzenberg, 2003).

Was findet man in diesem Sammelband (in Stichworten)? Epidemiologische Aspekte (Begriff, Häufigkeit, Einflussfaktoren, Risiken, Mehrfach-Erkrankungen), Symptomatik (Beschwerdebild). Diagnostik (Grundlagen, Schwierigkeiten, Instrumentarien, körperliche Basisdiagnostik u. a.). Ätiologie und Pathogenese (Ursache und Krankheitsverlauf). Risikofaktoren, Genetik (Erbanlage), Neurotransmitter (Botenstoffe im Gehirn). Morphologie und Bildgebung (moderne apparative Diagnostik). Psychosoziale Aspekte (belastende Lebensereignisse in Familie und weiterem Umfeld). Verlauf und Prognose (vom historischen Rückblick bis zu aktuellen Beeinflussungsfaktoren).

Und dann fast doppelt so viel zum Thema Pharmakotherapie (Akut- und Langzeitbehandlung mit entsprechenden Medikamenten), Einzel-, Gruppen- und Familien-Psychotherapie (von der Psychoanalyse bis zur Verhaltenstherapie einschließlich familientherapeutischer Ansätze), das kognitive Training (Beispiel: computer-gestützte Verfahren), Soziotherapie und Rehabilitation (Behandlungsketten, stationär, teilstationär, ambulant, betreutes Wohnen u. a.). Und schließlich neue Modelle integrativer Schizophreniebehandlung, die Wirksamkeitskontrolle entsprechender Interventionen und vor allem die Qualitätssicherung in der Versorgung.

Im Anschluss an jedes Kapitel die Fachliteratur. Am Schluss ein ordentliches Sachverzeichnis (wichtig für ein Buch, das sich als Nachschlagewerk etablieren sollte).

Der Preis ist nicht gering, aber angemessen. Qualitative Verarbeitung und Lesefreundlichkeit sind auf hohem Stand. Fazit: Schizophrenie-Bücher sind so zahlreich, dass man sie nicht mehr überblicken kann. Will sich eines hervortun, muss es das Niveau des Vorliegenden erreichen (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).