H. Radebold:
DIE DUNKLEN SCHATTEN UNSERER VERGANGENHEIT
Ältere Menschen in Beratung, Psychotherapie, Seelsorge und Pflege
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2005, 233 S. 19,50 €. ISBN 3-608-94162-2
Die posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) sind derzeit das große Thema. „Modethema“, beklagen die Kritiker. Ganz so unrecht haben sie nicht, stimmen ihnen nicht wenige zwar interessierte, aber zusehends skeptische Beobachter zu. Hier wird ein Krankheitsbild hochgespielt, das so manchen Betroffenen eine Bühne der Selbstdarstellung, ja der Selbst-Beweihräucherung und Zuwendungs-Sicherung beschert – und auch so manchen Experten und Autoren seine wissenschaftlichen bzw. publizistischen Pfründe sichert, so die Zyniker unter den Nachdenklich-Gewordenen. „Jedem gelebten Leben seine posttraumatische Belastungsstörung ...“ (ironisches Zitat).
Da ist etwas dran. Das soll, das darf, das kann man nicht leugnen. Daran ist allerdings seit jeher etwas dran, d.h. seit Tausenden von Jahren. „Belastete mit offizieller Anspruchshaltung“ gab es immer, wird es immer geben. Die Mehrzahl allerdings gehört zu den still Leidenden, früher, heute, auch in Zukunft. Da ist es nicht falsch, wenn sich zuerst die wissenschaftliche Theorie, dann die dem Alltag verpflichtete Medizin, konkret Psychiatrie, aber auch Psychologie, Psychotherapie und Psychosomatik und schließlich die Medien und zuletzt die Allgemeinheit dafür interessieren. Auf Letztere kommt es nämlich an, sensibilisiert zu werden für ein Phänomen, das zwar tatsächlich zum Mensch-Sein gehört, aber auch gerne verdrängt wird. Oder kurz: Gelitten wurde schon immer, aber jetzt wird man vermehrt darauf aufmerksam. Und das kommt dann auch den Stillen bzw. Still-Gewordenen zugute.
Einen dankenswerten Beitrag zu diesem Thema (und nicht bloß die „Ich-auch-Reaktionen“ von Autoren ohne fachliche Basis, die sich heute auf dieses und morgen auf jenes Thema stürzen, wenngleich sicher stilistisch versiert und damit meist besser lesbar als bei so manchem Experten) bietet der Arzt für Psychiatrie – Neurologie – Psychoanalyse und Psychotherapeutische Medizin, der Lehr- und Kontrollanalytiker (DPV) und vor allem bekannte Altersforscher Prof. em. Dr. Hartmut Radebold. Er gilt als „Nestor der deutschsprachigen Psychotherapie für die ältere Generation“ und befasste sich nicht zuletzt mit Themen, die den Erfahrungshintergrund seiner eigenen Generation betreffen (Beispiele: „abwesende Väter und Kriegskindheit – lang anhaltende Folgen in Psychoanalysen“ sowie „Kindheiten im II. Weltkrieg und ihre Folgen“). Und jetzt „die dunklen Schatten unserer Vergangenheit“. Um was handelt es sich?
Fast ein Drittel aller Erwachsenen sind heute über sechzig Jahre alt. Sie haben also den Zweiten Weltkrieg zumindest in seinen letzten Zügen (und das war die schrecklichste Zeit) bewusst miterlebt. Bewusst? Kinder mit zwei, drei, vier Jahren, darüber hinaus lässt sich ja diskutieren, aber zuvor?
Da soll man sich nicht täuschen. Auch der Laie weiß inzwischen, dass die prägenden Erfahrungen schon sehr früh prägten. Und zwar umso mehr, je weniger das kleine betroffene Wesen von den Ereignissen verstand und vor allem erklärend mit bekommen hat (wer erinnert sich nicht an den Satz: „Das versteht der doch noch nicht ...“).
Und solche Erfahrungen bestanden für viele Opfer der damaligen Zeit aus Fliegerangriffen, Flucht, Vertreibung, aus schrecklichen Szenen wie Hilfeschreie, Qual und Sterben. Ganz zu schweigen von dem Verlust naher Beziehungspersonen (es dürfte kaum jemand aus dieser Zeit geben, der nicht darüber berichten könnte, einschließlich dramatischer Szenen während des Ereignisses und vieler Tränen danach).
Natürlich hat dies alles nicht grundsätzlich zu einer Traumatisierung geführt (vom griech.: trauma = Wunde, hier im übertragenen Sinne einer seelischen Verwundung). Fast möchte man meinen, die meisten haben dies mehr oder wenig klaglos überwunden. Oder treffender: Scheinbar klaglos, denn sie reden ja nicht darüber. Also wird sich das Ereignis, so schrecklich es vielleicht gewesen sein mochte, nicht so tief eingegraben haben bzw. es ist im Laufe der Jahrzehnte Gras darüber gewachsen.
Aber auch hier sollte man es sich nicht zu leicht machen. Denn nicht wenige aus dieser Generation leiden schon seit Jahrzehnten heimlich unter diesen Erinnerungen – und jetzt im Alter verstärkt. Denn hier kocht oftmals gewaltsam wieder hoch, was vielleicht tatsächlich in den mittleren Lebensjahrzehnten unter der Decke gehalten werden konnte. Wer das nicht glaubt, warte einfach ab. Es kommt auch für ihn die Zeit, da er sich zu wundern beginnt, was alles an Erinnerungen wieder an die bis dahin scheinbar sicher verschlossene Türe der Verdrängung klopft – unerbittlich.
Da kann man die Erinnerung zwar beharrlich draußen stehen lassen, aber dort bleibt sie oftmals auch stehen – und bewegt sich nicht mehr fort. Ihr Klopfen mag leiser werden (weil krampfhaft überhört), aber zum Verschwinden bringt man es damit nicht. Besser wäre es, man würde diese Türe öffnen, vielleicht erst einen Spalt breit, dann aber – am günstigsten unter tätiger Hilfe von Angehörigen, Freunden oder ggf. einem Therapeuten – immer weiter. Das würde so manchem Betroffenen viel Entlastung bringen. Er könnte über seine Vergangenheit reden, besonders einzelne Szenen, die ihm nicht mehr aus dem Kopf (und immer häufiger aus den Träumen) gehen wollen.
Aber wie, wenn das Umfeld diese Signale nicht versteht? Fehlt es den Jüngeren nur an Wissen über diese Zeit oder haben sie einfach nicht gelernt, den biographischen Hintergrund zu erkennen, zu verstehen, vor allem aber zu akzeptieren und damit aufzuarbeiten helfen?
Kann man dies aber überhaupt von Laien erwarten? Das hängt sehr von deren Einstellung, Wesensart und Informationsstand ab. (Das Gleiche gilt übrigens von Therapeuten jeglicher Art, also Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern, Pflegern, Seelsorgern in den jeweiligen Institutionen, d. h. Praxen, Kliniken, Altenpflegeeinrichtungen u. a. – Da kann man manchmal recht ernüchternde Überraschungen erleben.)
Prof. H. Radebold hat nun ein Buch auf den Markt gebracht, das den Hilfswilligen konkrete diagnostische und therapeutische Empfehlungen an die Hand gibt, ja in vielen Fällen erst einmal die Augen öffnet. Interessant die Schwerpunkte seines Angebots: Als erstes anstelle eines Vorworts einen Briefwechsel. Das fasziniert und erschüttert zugleich – und motiviert weiter zu lesen, ja den Text sorgfältig zu studieren und nützlich umzusetzen.
Dann Kapitel wie: Müssen wir zeitgeschichtlich denken, wenn wir Älteren professionell begegnen? Was geschah damals noch? Verlust, Gewalterfahrungen, Flucht und Vertreibung. (Und eine Zwischenfrage: Dürfen wir uns als Deutsche mit diesem Teil unserer Geschichte überhaupt befassen?) Danach die nüchterne Statistik (s. Kasten), die uns aber das Fundament liefert: Altersjahrgänge der Betroffenen und ihr Erfahrungshorizont. (Zweite Zwischenfrage: Waren alle Betroffenen traumatisiert?) Dann: Wie reagierten die Betroffenen, ihre Familien und die Gesellschaft damals, aktuell und langfristig?
Schließlich das Hier und Jetzt: Spätfolgen bei über 60-jährigen: Psychische Störungen, Persönlichkeitsveränderungen, Bindungs- und Beziehungsstörungen, Veränderungen der Identität, funktionelle Störungen und körperliche Erkrankungen, unterschiedliche Erscheinungsformen im Zeitablauf, wie entwickelte sich die Trauma-Reaktivierung bzw. gar Re-Traumatisierung (vor allem bei der Frage: nationalsozialistische Erziehung und/oder neurotischer Konflikt). Dann die notwendige Differenzierung nach Jahresgruppen und Geschlecht, nach Entwicklungsphasen u. a. (Dritte Zwischenfrage: Muss man die alten Geschichten wieder aufwühlen?)
Schließlich die Erkenntnisse der Wissenschaft: Welche Erfahrungen wurden an wen weiter gegeben, was wurde an vorläufiger psycho-sozialer Stabilität erreicht (oder: heißt psychisch stabil = auch psychisch gesund?). Dann: Welchen Verlauf nimmt die abnehmende psychische Stabilität im Laufe eines Lebens (schon im mittleren Erwachsenenalter einbrechend oder erst im Rückbildungsalter?). Und wie geht man mit der fehlenden Kindheit oder Pubertät von damals um? Ist damit eine eigene Identität verlorengegangen, die einem dann später schmerzlich fehlte?
Zuletzt das therapeutische Kapitel in konkreten Schritten: Zur Psychotherapie über 60-Jähriger (Kenntnis- und Erfahrungsstand), spezifische Aufgabenstellung und Beziehungskonstellationen, Zugang, Abklärung, die behutsame Neugier des Therapeuten, mögliche Schwierigkeiten, akzeptierendes Einfühlen, vor allem aber immer wieder „Zeit lassen“ und „reflektierend inne halten“.
Schließlich konkret zur Diagnose: Depression oder Trauer, Depression oder Demenz, Trauma oder neurotische Störung? Danach die Hilfestellung: Beratung, allgemeine ärztliche Versorgung, Psychotherapie, konkret: Praxis/Ambulanz, stationär im Krankenhaus, Rehabilitation, häusliche oder institutionelle Pflege, seelsorgerische Bemühungen und Supervision für die Betreuenden vom Arzt bis zum Angehörigen.
Zuletzt kritische Fragen: Warum wissen wir so wenig darüber? Diese Frage geht an die Psychotherapeuten, an die zeitgeschichtliche Forschung, sogar an die Betroffenen selber („Kriegskinder“ mit fehlendem Gruppenbewusstsein?). Und zwei abschließende Überlegungen: Holt uns unsere eigene Geschichte wieder ein? Und für die Jüngeren: Ist das zeitgeschichtliche Denken nur eine Aufgabe für Ältere? (Ironischer Kommentar: Ja, aber dann müssen die Jüngeren auch garantiert jünger bleiben dürfen ...)
Dieses Buch eines durch seinen Praxisalltag geprägten Altersforschers ist nicht das erste, das sich mit diesem Thema befasst (bisher wurden solche Beiträge meist irgendwie übergangen, offenbar war die Zeit dafür noch nicht reif) und es wird nicht das letzte sein. Aber es dürfte in seiner eindringlichen und dabei doch gut lesbaren Schicksalsschilderung einschließlich eindrücklicher Fakten und nützlicher Betreuungs- und Behandlungsanleitungen zum Meilenstein werden, für viele zu spät, für immer noch zahlreiche Betroffene aber vielleicht doch rechtzeitig, um auf mehr Verständnis, Einfühlung und Zuwendung hoffen zu dürfen. Denn, so der Autor abschließend:
„Die Bedeutung dieser Aufgaben kann überhaupt nicht unterschätzt werden: Die heute über 60-Jährigen umfassen ein Drittel der Erwachsenen-Bevölkerung der Bundesrepublik; ein großer Teil von ihnen bringt eine entsprechende Erfahrungsgeschichte mit; wiederum ein deutlicher Teil von diesen leidet an den damaligen beschädigenden bis traumatisierenden Erfahrungen. Daher werden wir ihnen als Professionelle überall begegnen, wenn wir uns für ihre Geschichte und damit gleichzeitig für unsere eigene Geschichte interessieren.
Denn: Unabhängig vom Lebensalter haben wir eine Geschichte, sind wir Geschichte und verkörpern wir Geschichte – für uns selbst und in der familialen Weitergabe“.
Dies zwingt uns zu der Erkenntnis: Das ist keine individuelle, das ist eine kollektive Aufgabe. Denn wie betonte schon der Altmeister der Psychoanalyse, Sigmund Freud bereits vor dem Ersten und Jahrzehnte vor dem noch katastrophaleren Zweiten Weltkrieg in Anlehnung an eine Mahnung aus dem Alten Testament: “dass keine Generation im Stand ist, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen“ (VF).
Traumata mit Langzeitwirkung oder nur historische Statistik?
Verluste, Gewalterfahrung, Flucht und Vertreibung bei den Kriegskindern und ihren Eltern
Im II. Weltkrieg kam jeder achte männliche Deutsche – gerechnet vom Säugling bis zum Greis – ums Leben. Exorbitant hoch waren vor allem die Todesfälle in den Ostgebieten, wo jede fünfte männliche Person starb. Insgesamt wurden elf Prozent der Bevölkerung getötet, also jeder neunte Bürger.
Bis Anfang 1955 wurden registriert: 2,73 Mio. Wehrmachtstote und 1,24 Mio. Vermisste einschließlich der in Kriegsgefangenschaft Gestorbenen.
Eine aktuelle Untersuchung geht von 4,71 Mio. Todesfällen aus. Dabei fielen besonders viele kämpfende Soldaten im heiratsfähigen Alter: Von den 20- bis 25-Jährigen 45%, von den 25- bis 30-Jährigen 56%, von den 30- bis 35-Jährigen 36% und von den 35- bis 40-Jährigen 29%. Die Geburtsjahrgänge ab 1920 (bezogen auf die Rekrutenzahlen) weisen in der Regel Todesquoten von mehr als 30% auf.
Am Ende des II. Weltkrieges waren über 11 Mio. deutsche Soldaten auf 12.000 Kriegsgefangenenlager in 80 Staaten verteilt. In den ersten beiden Nachkriegsjahren kehrten zwischen 9 und 10 Mio. ehemalige Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Im Frühjahr 1947 befanden sich noch 2,3 Mio. Kriegsgefangene in alliierter und knapp 900.000 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. 1947 wurden weitere 350.000 entlassen, 1948 eine halbe Mio., 1949 weitere 280.000.
Zuerst kamen die Kranken und Gebrechlichen aus der Gefangenschaft zurück, so dass 1946 nur 16% der Heimkehrer arbeitsfähig waren. Im Bundesgebiet wurden im November 1950 über 2,01 Mio. „Kriegsbeschädigte“ des I. und II. Weltkrieges registriert. Davon waren etwa 1,5 Mio. zu 30 % und mehr in ihrer Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt.
1950 gab es in der Bundesrepublik insgesamt 1,45 Mio. versorgungsberechtigte „Beschädigte“ (mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit zwischen 30 und 100%, davon 0,76 Mio. über 50-Jährige).
Mehr als zwei Mio. Zivilisten kamen auf der Flucht oder während der Vertreibung ums Leben. Bei weit mehr als der Hälfte handelt es sich um Frauen und Kinder.
Die Bombenangriffe im gesamten deutschen Reichsgebiet führten zu 600.000 bis 800.000 „Ziviltoten“, zumeist Frauen, Kinder und alte Menschen. Nicht weniger als 161 deutsche Städte wurden mit weitreichenden Folgen bombardiert. Brand- und Sprengbomben fielen nahezu auf jede Stadt mit über 50.000 Einwohnern, dazu auf 850 kleinere Orte.
Aus den Gebieten örtlich von Oder und Neiße mussten mehr als sieben Mio. Menschen fliehen bzw. wurden vertrieben. Hinzu kamen etwa fünf Mio. aus den früheren deutschen Siedlungsgebieten im Ausland (Tschechoslowakei, Polen, Jugoslawien, Rumänien, Ungarn, dem Baltikum, Danzig). Es flohen auch die aus dem Westen in die Ostgebiete evakuierten Frauen, nicht nur ansässige Familien.
Wahrscheinlich war mindestens jede achte Frau aus dem deutschen Reichsgebiet von Flucht oder Vertreibung betroffen. Ende 1952 befanden sich in der Bundesrepublik Deutschland 2,58 Mio. deutsche Heimatvertrieben und in der DDR 3,8 Mio. Außerdem wurden zwischen 200.000 und 400.000 Personen verschleppt, von denen etwa 50% umkamen.
Von den insgesamt 18.887.000 Kindern und Jugendlichen bis zum Alter von 25 Jahren waren 3.259.000 Vertriebene, unter ihnen mehr männliche als weibliche.
Die Trennung der Frauen von den Männern, die einrücken mussten war nur ein Teil der Auflösung von Familien. Der Luftkrieg erzwang noch weitere Trennungen: Mütter flohen mit ihren Kindern vor den Bomben, wurden evakuiert. Kinder kamen mit der Kinderlandverschickung (KLV) häufig weit fort. So zerfielen die Familien noch weiter, auch solche, bei denen der Vater noch zu Hause war. Evakuierung und KLV betrafen viele Menschen, überwiegend Frauen. Die Zahlen schwanken zwischen 5 und 10 Mio.
Die Gefallenen hinterließen mehr als 1,7 Mio. Witwen, fast 2,5 Mio. Halbwaisen und etwa 100.000 Vollwaisen. Von diesen Hinterbliebenen hatten 1.250.000 Kinder und Jugendliche ihren Vater durch den Krieg verloren. 250.000 waren Vollwaisen. Insgesamt soll es 1,5 bis 2 Mio. Kriegswitwen gegeben haben. Die Zahl der Witwen und Witwer betrug 1960 noch 1,1 Mio, der Waisen 500.000 und der Eltern, deren Söhne oder Söhne gefallen waren 800.000.
Ungefähr ein Viertel aller deutschen Kinder wuchs nach dem II. Weltkrieg ohne Vater auf, der in der Mehrzahl der Fälle gefallen oder vermisst war. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren war der Prozentsatz auf Grund der Gefangenschaft der Väter noch höher.
Unter den Heimatvertriebenen fanden sich allein über 2 Mio. Kinder und Jugendliche. 1,6 Mio. davon hatten die Eltern oder einen Elternteil verloren. Zahlreiche Kinder waren allein unterwegs. Man schätzt, dass sich allein von den Berliner Kindern bei Kriegsende noch 10.000 bis 20.000 ohne Kontakt zu ihren Angehörigen in mehr oder minder gefährdeten Gebieten ohne ausreichende Nahrung und Begleitung aufhielten oder sich auf den mühseligen Rückweg – meist zu Fuß – mit dem fernen Ziel Berlin machten. Dazu gab es am Ende des Krieges und kurz nach dem Krieg regelrechte Wanderungen von Lehrern und Schülern auf der Suche nach einer vorübergehenden Heimstatt und schließlich nach Hause.
Im Jahre 1951 gab in der Bundesrepublik über 120.000 Pflegekinder und über eine halbe Mio. Minderjährige untere Amtsvormundschaft.
Die Gesamtzahl der Vergewaltigungen wird auf 1,9 Mio. geschätzt: 1,4 Mio. in ehemaligen deutschen Ostgebieten und während der Flucht oder Vertreibung sowie 500.000 in der späteren sowjetischen Besatzungszone. In Berlin wurden mindestens 100.000 Mädchen und Frauen vergewaltigt (40% mehrmals oder vielmals), von denen etwa 10.000 die Vergewaltigung mit dem Leben oder einer bleibenden gesundheitlichen Schädigung bezahlt haben. Etwa 20% der vergewaltigten Frauen wurden schwanger; etwa 90% dieser Frauen haben abgetrieben.
Somit lassen sich drei Bereiche beschädigender bis traumatisierender zeitgeschichtlicher Erfahrungen benennen:
- Verlust von zentralen Bezugspersonen, insbesondere von Vätern und Partnern, aber auch von Müttern, Partnerinnen, Geschwistern sowie Eltern und Großeltern
- Verlust von Heimat, Sicherheit und Geborgenheit
- Gewalterfahrungen: aktive und passive Kriegsteilnahme, Tieffliegerangriffe oder Zerstörungen durch Bomben sowie Verletzungen, Vergewaltigungen oder vielfachen Mord an Zivilisten.
Zit. aus Hartmut Radebold: Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit. Klett-Cotta, 2005
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