W. Oelsner:
FEST DER SEHNSÜCHTE
Warum Menschen Karneval brauchen?
Psychologie, Kultur und Unkultur des Narrenfestes
Marzellen-Verlag, Köln 2004, 344 S., € 19,95. ISBN. 3-9806-384-6-4
Fasnacht, Fasnet, Fasching, Karneval: Für die einen die 5. Jahreszeit, unverzichtbar, Höhepunkt, Läuterung, Therapie, Rehabilitation und Prävention zugleich, und zwar für ein langes, mühseliges und oft frustrierendes Jahr. Für die anderen durchaus nicht zwingend, ja "unnötig wie ein Kropf", ärgerlich, "Freilos für alle möglichen Auswüchse", überwiegend albern, statt humorvoll, am besten "nicht mal ignorieren" ... An der Mehr-zahl der Bevölkerung, besonders im Norden und Osten, gehen die "tollen Tage" aller-dings fast unberührt vorbei. Sicher gibt es da und dort, und in letzter Zeit sogar zuneh-mend, "Keimzellen organisierten Humors". Für Einheimische, die die Lokalpolitik, die kleinen Skandale, Misserfolge und Peinlichkeiten kennen bisweilen sogar eine Quelle der Genugtuung, die man aber bestenfalls bejahend abnickt. Sonst bewegt sich wenig in der Republik, wo Fasnacht, Fasching oder Karneval nicht historisch verwurzelt sind (wie das vor allem gegeben ist im Rheinland, in Rheinland-Pfalz, in Süddeutschland und im deutschsprachigen Ausland, insbesondere im Stadt-Kanton Basel).
Leider, wenn auch nachvollziehbar, hängt das Urteil über die Fasnachts-Bräuche vor allem von dem ab, was man in der Zeitung liest, im Radio hört und insbesondere im Fernsehen sieht. Und das stößt nicht selten an seine Grenzen - und damit steht das Meinungsbild, unverbrüchlich. Was nicht ausreichend fundiert rüberkommt, ist die Fas-nacht "im inneren", gleichsam die "innerseelischen tollen Tage", die durchaus nur einen begrenzten Kreis von Gleichgesinnten einzuschließen pflegen. Und wenig "Tam-Tam" nach außen, eher gewachsene Fröhlichkeit nach innen und z. T. sogar strenge Regeln und Rituale (schmunzelnde Kritik: "Die Fasnet ist alles andere als lustig...)".
Und natürlich muss man unterscheiden zwischen der "frei flottierenden Freude am Un-sinnigen" und dem "Vereins-Gehabe" mancher Funktionäre. In der Tat: Wenn man manche alt gedienten Aktivisten von früher hört, was sie so über die Vereins-Politik und manche ihrer Funktionäre zu erzählen haben, wundert man sich, dass sie noch so herz-erfrischende Beiträge liefern konnten.
Die Fasnacht psychologisch gesehen
Nun ist die Fasnacht, der Karneval oder wie man es auch regional bezeichnen mag, ursprünglich ja ein (kirchen-)politisches Instrument. Der Grundgedanke war ganz ein-fach, nämlich das zeitlich begrenzte Ventil. Wer sich einige Tage straflos austoben konnte, war hoffentlich für den Rest des Jahres ruhig gestellt. Kein Wunder, dass die Fasnacht nicht überall gelitten, erlaubt und schon gar nicht gefördert wurde (z. B. auch nicht nach Ende des II. Weltkrieges von den Siegermächten in ihren Besatzungszonen). Aber so richtig und konsequent unterdrücken ließ sich dieser Brauch eigentlich nie. Und heute ist er etabliert, wird - wie erwähnt - eher mehr, ist in ständigem Wandel begriffen (einiges geht unter, "neue Blüten aber erknospen"), droht da und dort auch mal auszu-ufern (von den verantwortungsbewussten Fasnachts-Vereinen allerdings konsequent diszipliniert), ist aber insgesamt eine erfreuliche Komponente unserer Zeit und Gesell-schaft. So bleibt eigentlich nur die Frage: Was steckt letztlich hinter der Fasnacht, und zwar psychologisch gesehen?
Wenn man den Begriff "psychologisch" als im weitesten Sinn "verstehend" interpretiert, insbesondere was die seelischen und psychosozialen Abläufe anbelangt, dann gibt es über die Fasnacht zwar keine überbordende, aber letztlich doch erstaunlich reichliche Literatur. Eine Auswahl davon findet sich in dem Buch von Wolfgang Oelsner: Fest der Sehnsüchte - warum Menschen Karneval brauchen: Psychologie, Kultur und Kultur des Narrenfestes.
Wolfgang Oelsner leitet die Schule für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität zu Köln. Nebenberuflich betreibt er seit über zwanzig Jahren eine Praxis als Kinderanalyti-ker (weshalb er auch Bücher über Schulangst, Adoption u. a. geschrieben hat). Als Köl-ner aber fühlte er sich glücklicherweise auch verpflichtet, ein Buch über den Karneval zu verfassen. Und das ist lesenswert, auch außerhalb der "tollen Tage".
Rein stilistisch ist es gekennzeichnet durch einen freundlich-liebenswürdig gehaltenen Plauderstil, der auch einen karnevalistischen Nicht-Enthusiasten letztlich die notwendige Toleranz, wenn nicht gar begrenzte Zustimmung entlockt. Vor allem verfängt es sich auch nicht in überschwänglicher Fan-Argumentation, sondern beleuchtet sehr kritisch und detailliert die einzelnen, man möchte sagen bevölkerungs-psychologischen Aspekte der Fasnacht, des Karnevals. Das mögen einige Kapitel-Titel illustrieren: Sehnsucht nach Ausgelassenheit, Melancholie, Grenzüberschreitung, nach dem Bewahren, dem Rollentausch, nach Beziehung und Nähe, nach Erotik, Kindsein, Heimat, Exotik, nach Bedeutung, Rausch, nach Vulgärem und Obszönem, aber auch nach Frieden und Har-monie, ja nach Spiritualität und Religion. Da staunt der Unbeteiligte, was es hier alles zu berücksichtigen gilt bzw. was die "tollen Tage" aus dem Menschen und für den Men-schen machen (können).
Wie sieht der Psychologe W. Oelsner gleichsam zusammenfassend (wie er es auch in entsprechenden Interviews getan hat) die Fasnacht, den Karneval, die Fasnet, den Fa-sching u. a. aus seiner Sicht?
"Löblich wird ein tolles Streben..."
Der Mensch braucht die "tollen Tage", weil er dann Gelegenheit hat, sich einmal anders mit der Welt zu unterhalten. Denn das konkret Ausgesprochene ist die Grundlage seeli-scher Stabilität, fachlich Psychohygiene genannt, was schon der alte Hippokrates vor 2500 Jahren mit dem Satz umschrieb: Für was ich Worte habe, darüber bin ich schon hinweg.
Das Problem dabei ist die häufig falsche Dosierung, das Fest wird oft missbraucht. Es ist eben ein schmaler Grat zwischen der Lust am Flirt und der Grabscherei, der Lust an der Ausgelassenheit und Aggression und Gewalt. Wer mal wieder wie ein Kind sein will, muss nicht kindisch enden und wer sich einmal etwas Heiterkeit antrinkt, muss nicht im Suff ausrasten. Es liegt eben alles nahe beieinander und im Gedächtnis verbleibt dann meist das Negative.
Deshalb - so Oelsner - ist Fasching dann gerettet, wenn Rituale und Brauchtum ge-pflegt, respektiert und notfalls auch konsequent durchgesetzt werden. Das ist mit vielen anderen Bereichen nicht anders, nur dort wird es eher akzeptiert. Für diejenigen, für die Fasnacht aber nur ungebändigte Triebhaftigkeit und Hemmungslosigkeit bedeutet, muss es eben noch einmal deutlich gesagt und im Fasnachts-Alltag freundlich, aber beharrlich durchgesetzt werden.
Denn mit der Fasnacht ist auch die Heimat nicht nur eng verbunden, sie ist geradezu die notwendige Basis. Heimatliebe ist etwas, was die Daheimgebliebenen weniger be-wegt, wohl aber diejenigen, die ihre Heimat verlassen haben, mit oder ohne Zwang. Früher waren es die Heimatvertriebenen, aber auch die aktiven Pioniere, heute ist es die Globalisierung, die einen von jetzt auf jetzt vom heimischen Schreibtisch in die fernsten Länder versetzt (freiwillig, aber unerbittlich, will man etwas werden). Diese Heimatliebe ist übrigens etwas, was man nicht zuletzt an Fasnacht beobachten kann, wenn die Auswärtigen für ein paar Tage zurückkommen und genießen, was sie am fer-nen Berufsort nicht mehr haben. Und wenn sie nicht heimkommen können, dann den-ken sie wehen Herzen an die "schöne Zeit" zurück. Und man sollte sich nicht täuschen, dass auch knallharte Manager plötzlich feuchte Augen bekommen und zu schlucken anfangen. In einigen Regionen gibt es sogar feste Begriffe dafür (z. B. "Heimweh-Basler", die auch im Fernen Osten aktiv dem frühmorgendlichen "Zapfenstreich" gedenken).
Fasnacht ist aber auch das Fest der "verkehrten Welt". Die Großen steigen ab, die Klei-nen erklettern die höchsten Ränge - und alles wird akzeptiert. Das hat übrigens histori-sche Wurzeln, die in früheren politischen Systemen allen Ernstes respektiert, ja gepflegt wurden. Und natürlich beginnt es bereits in der Kindheit; wann ist man schon mal eine Prinzessin oder ein knallharter Cowboy.
Und selbstredend ist Fasnacht auch die Zeit der Erotik, des Flirtens, der (theoretischen) Grenzüberschreitung - und damit des entsprechenden Kostüms. Auf die Frage, in wel-chen Kostümen der Flirt-Faktor besonders hoch sei, antwortet der "Karnevals-Psychologe und Fachmann für die saisonale Ekstase" (Journalisten-Terminologie): "Ja, es gibt Kostüme, die sagen: Ich bin bereit. Das ist bei Kätzchen der Fall, bei neckischen Indianerinnen, Mehrjungfrauen oder Bauchtänzerinnen. Auch unter Nonnengewändern verstecken sich eher sündhafte Damen. Bei den Männerkostümen sind es vor allem Musketiere und Eishockeyspieler."
Manche Kostüme aber fördern einfach die Kommunikation. Man kann sich denken, was ein Mann im Schottenrock den ganzen Abend gefragt wird (Gipfel des Kommunikations-Angebotes ist natürlich die kühne Antwort: "Schauen Sie doch selber..."). Ein Clown hin-gegen ist ein eher asexuelles Kostüm, meint der Psychologe, ähnlich wie Schornstein-feger oder Koch.
Das kleine, liebevoll aufgemachte Buch über das Fest der Sehnsüchte ist ein ideales Geschenk für jene, die Freude an der Fastnacht haben, sich aber etwas tiefer einlesen wollen. Und es ist ein freundliches Corrigens für alle Fasnachts-Skeptiker oder gar -Muffel. Dabei will es niemand überreden, es will nur informierend unterhalten. Und das ist gelungen.
Ob der Polyhistor Wolfgang Johann von Goethe den Fasnachts-Bräuchen sehr zugetan war, ist eher zu bezweifeln. Er war aber auch ein Meister der Sozialpsychologie und brachte es jeweils mit wenigen Sätzen auf den Punkt. Deshalb sei auch hier mit ihm geendet, teils mahnend, teils positiv registrierend:
- Löblich wird ein tolles Streben, wenn es kurz ist und mit Sinn.
- Der Karneval ist ein Fest, das dem Volk nicht gegeben wird, sondern das sich das Volk selbst gibt.
- Ohne Fasnachtstanz und Mummenspiel ist am Februar nicht viel.
Wie wahr. Karneval ist ein Fest im halluzinatorischen Raum, schließt der Psychologe W. Oelsner seine Überlegungen. Was halluzinieren die Narren? Sie wähnen sich im Para-dies. Glücklicherweise ist diese Halluzination psychiatrisch völlig unbedenklich. Spätes-tens am Aschermittwoch kehrt die Alltags-Nüchternheit wieder zurück. Dafür gibt es ei-nen Hoffnungsschimmer: die nächste Fasnacht (VF).
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