Start Psychiatrie heute Seelisch Kranke Impressum

H. Remschmidt (Hrsg.):
KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE
Eine praktische Einführung
Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 2005. 527 S., 85 Abb., 177 Tab., € 49,95
ISBN 3-13-576604-7

Wenn man den Medien-Berichten glauben schenken darf, will oder muss (je nach Einstellung), dann mehren sich die Verhaltensauffälligkeiten in allen Altersstufen (Verkehrsdelikte beispielsweise sind nicht mehr ausschließlich "Jugendsünden"). Andererseits will man aber auch wissen, was in Kindheit und Jugend in unserer Zeit und Gesellschaft nun besonders "aus dem Ruder läuft". Und hier hätte man gerne Klarheit, was zwar Verhaltensauffälligkeiten sind, aber kein krankhaftes Fehlverhalten, weil alterstypisch, habituell (gewohnheitsmäßig - s. u.).

Auch hier gibt es natürlich unterschiedliche Lehrmeinungen, von den individuellen Einstellungen ganz zu schweigen. Deshalb ist es interessant, die Fachleute zu hören, in diesem Falle also die Kinder- und Jugendpsychiater. Diese psychiatrische Disziplin im Rahmen der Medizin war vor etwa einem halben Jahrhundert als Problemlöser durchaus gefragt, als eigenständiges Fach allerdings noch in der eigenen Entwicklungsstufe, den berühmten "Kinderschuhen". Das hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich geändert und schlägt sich beispielsweise in einer Flut von Publikationen, Fachbüchern, ja sogar mehreren Lehrbüchern nieder, allein in deutscher Sprache.

Einer der Klassiker in dieser Hinsicht ist "der Remschmidt", d. h. die Kinder- und Jugendpsychiatrie von Prof. Dr. Dr. Helmut Remschmidt, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Marburg, erstmals im Jahre 1979 erschienen und inzwischen unter Mitwirkung von zwei weiteren Herausgebern und mehr als ein Dutzend Experten in 5. Auflage erschienen. Und aus diesem "Klassiker" versuchen wir uns in dem Kapitel alterstypische, habituelle Verhaltensauffälligkeiten einige wissenschaftlich objektivierbare und damit "ent-dramatisierende" Erkenntnisse herauszulesen.

Störungsmuster mit Gewohnheitsbildung

Unter der Bezeichnung "alterstypische, habituelle Verhaltensauffälligkeiten" verstehen die Kinder-Psychiater Störungsmuster, bei denen der führende psychologische Mechanismus die Gewohnheitsbildung ist. D. h. entsprechende Handlungen sind den Betroffenen durchaus bewusst und könnten willkürlich auch jederzeit unterbrochen werden, sind also dem eigenen Willen unterworfen, bringen aber in einigen Fällen sogar offensichtlich einen Lustgewinn und werden deshalb entgegen aller Vernunft fortgeführt.

Damit treten habituelle Verhaltensweisen oft als Ersatzbefriedigung auf, und zwar entweder bei aggressiven oder regressiven Empfindungen (also einer Art Entwicklungs-Rückschritt in frühere Verhaltensweisen). Und deshalb kommen sie meist in Frustrations-Situationen vor (vom lat.: frustra = vergebens). Und sie häufen sich bei jenen Kindern, die nicht die Möglichkeit zu einer alters-entsprechenden Betätigung haben.

Das ist allerdings nicht die einzige Ursache. Es gibt auch Kinder, die aus durchaus harmonischen Familien-Verhältnissen stammen und dennoch bestimmte Verhaltensauffälligkeiten zeigen.

Was gehört nun dazu?

  • Daumenlutschen

Das Daumenlutschen ist jedem geläufig. Exzessives Daumenlutschen ist allerdings krankhaft und hat durchaus Folgen (z. B. Kiefer-Verbiegungen, Zahnstellungs-Anomalien, ja sogar den bekannten "Lutschfinger" mit unschönen Deformationen). Nicht auszuschließen sind auch Folgen für das ganze Gebiss, und zwar durchaus für den Rest des Lebens, was dann mit hohem Zeit- und Kostenaufwand wieder korrigiert werden muss.

Gelegentliches Daumenlutschen ist aber kein Problem, z. B. vor dem Einschlafen oder in Entbehrungs-Situationen. Anders ist es allerdings, wenn es gehäuft auftritt und vor allem der altersgemäßen Entwicklung des Kindes nicht mehr entspricht.

Ursprünglich ein natürliches Saugbedürfnis des Kindes und sinnvoll für das Training zur Nahrungs-Aufnahme, wird es also erst krankhaft, wenn es über das 3. Lebensjahr hinaus reicht und/oder gar in seiner Intensität zunimmt. Die Gründe sind schon angeklungen: Ersatzbefriedigung in Mangel-Situationen, fortdauernde Gewohnheitsbildung als Ausdruck einer Regression (s. o.) u. a.

Der Therapie sollte eine genaue Analyse des Einzelfalles vorausgehen. Daraus ergibt sich dann die Behandlungs-Strategie. Ist es beispielsweise nur Teil eines umfassenderen Beschwerdebildes oder eine mehr oder weniger isolierte Störung?

Strafen oder einschränkende Maßnahmen (bis hin zur Fixierung des Daumens oder einem Handschuh) bzw. das scheinbar "humanere" Bestreichen des Daumens mit übelriechenden Substanzen haben sich nicht bewährt. Im Allgemeinen legt sich das Daumenlutschen wieder. Es gibt allerdings auch Kinder, die bis in das Jugendalter hinein ihren Daumen "missbrauchen" und dann nicht selten die Zigarette als Ersatz einsetzen; dieser Verdacht ist also in der Tat nicht von der Hand zu weisen...

  • Nägelbeißen

Das Nägelbeißen (Fachbegriff: Onychophagie) tritt gewöhnlich nicht vor dem 4. bis 5. Lebensjahr auf. Dann aber kann es massive Ausmaße annehmen, wobei die Nägel bisweilen bis zur Nagelsohle abgebissen werden, mitunter auch die Haut um den Nagel oder gar die Haut der Fingerkuppen. Manche Kinder spucken die abgebissenen Nagel- oder Hautstücke wieder aus, andere zerkauen und schlucken sie auch.

In Stress-, Angst- und Konfliktsituationen kann man Nägelbeißen verstärkt beobachten. Dort kann es sogar zu ernsteren und schmerzhaften Verletzungen kommen, die aber trotzdem nicht von weiterem Nägelbeißen abhalten.

Psychologisch gesehen verbindet man das Nägelbeißen auf Grund seines "gewaltsamen Charakters" mit einer Neigung zu aggressiven Durchbrüchen, die sich (erst einmal) gegen den eigenen Körper richten, weil sie nicht auf andere Weise "abgeführt" werden können. Das ist nicht selten, man spricht bei den Acht- bis Zehnjährigen von bis zu jedem fünften Kind beiderlei Geschlechts.

Die Ursachen ranken sich also überwiegend um eine aggressive Basis, wobei man allerdings die eigentlichen Hintergründe nicht übersehen sollte. Beispiele: einengende oder gar unterdrückende Erziehung, Einengung der Bewegungsfreiheit im weitesten Sinne, Verhinderung aggressiven Verhaltens (was auch durchaus sinnvoll sein kann, nur eben kanalisiert werden muss), oder ein soziales Umfeld, das die Kinder einem gemütsmäßigen Mangelzustand aussetzt.

Natürlich tritt das Nägelbeißen auch bei erhöhten Spannungszuständen auf und gilt deshalb als "Affekt-Abfuhr", wenn auch inadäquat. Oder auf Deutsch: eine Entlastung in gemütsmäßiger Hinsicht, wenn auch nicht gerade auf üblichem Wege. Und es kann eine Art Ersatz-Befriedigung darstellen.

So findet man das Nägelbeißen vor allem bei

- Kindern, die eine Bewegungs-Unruhe zeigen, wenn nicht gar hyperaktiv und leicht erregbar sind (und im Übrigen auch andere Verhaltensauffälligkeiten zeigen) sowie

- bei überängstlichen Kindern, deren Entfaltungsmöglichkeiten vor allem im Bewegungs- und Gemüts-Bereich eingeengt sind.

Manche Experten bezeichnen das Nägelbeißen auch als eine Art "Selbst-Bestrafung", worüber wissenschaftlich zwar kontrovers diskutiert wird, doch mag dies in Einzelfällen durchaus seine Richtigkeit haben.

Bei der Therapie liegen die Dinge ähnlich wie beim Daumenlutschen: rein äußerlich lässt sich hier schwer etwas erzwingen. Günstiger ist eine so genannte Bedingungs-Analyse, d. h. was liegt dem Nägelbeißen nun wirklich zugrunde. Und daran schließt sich dann die entsprechende Behandlung an: alternative Verhaltensweisen (zur Abfuhr aggressiven Verhaltens oder Milderung ängstlicher Reaktionen), Entspannungsmethoden (vor allem zur Reduktion von Angst und innerer Unruhe), sportliche Aktivitäten (besonders bei Hyperaktivität und Impulsivität) u. a. Manchmal sind auch verhaltenstherapeutische Maßnahmen angezeigt, was sich vor allem im Erwachsenenalter anbietet (denn das Nägelbeißen muss nicht unbedingt in der Kindheit und Jugend aufhören). Bei den Erwachsenen gelten übrigens die gleichen Ursachen/Bedingungen, denn letztlich unterscheiden sich die Alters-Stufen kaum voneinander, wenn es sich um Verhaltensauffälligkeiten mit Gewohnheitscharakter handelt.

  • Haare-Ausreißen

Das Haare-Ausreißen (Fachbegriff: Trichotillomanie), d. h. Drehen, Zupfen oder Ausreißen von Haaren ist oft ein Anzeichen umfassender und durchaus schwer-wiegender psychischer Störungen. Es kommt sowohl bei retardierten, d. h. in ihrer Entwicklung verzögerten und geistig behinderten Kindern als auch bei altersentsprechend normal entwickelten Kindern vor, dann allerdings mit besonderer psychischer Problematik.

Oft sind die Kinder depressiv verstimmt und zeigen auch andere Stereotypien (krankhafte ständige Wiederholung von Bewegungen oder Wörtern) sowie habituelle Verhaltensweisen (z. B. Daumenlutschen, Nägelbeißen, genitale Manipulationen u. a.).

Manche Kinder, insbesondere die geistig behinderten, schlucken ihre ausgerissenen Haare sogar, so dass es zur Bildung von so genannten Trichobezoaren kommen kann.

Vom Trichobezoar bis zum Rapunzel-Syndrom

- Ein Trichobezoar ist ein Haarbalg, d. h. ein Knäuel aus verschluckten Haaren im Magen oder Darm.

Betroffen sind meist junge Mädchen mit langen Haaren. Die psychodynamischen Hintergründe sind mehrschichtig, meist aber auf einer intellektuellen Minderbegabung basierend und oft auch noch zusätzlich mit einer dauerhaften Verstimmung oder Angststörung verbunden.

Das Beschwerdebild durch einen solchen verschluckten Haarknäuel entwickelt sich nur langsam; lange merken die Betroffenen überhaupt nichts, bis der Haarbalg eine zum Teil unglaubliche Größe erreicht hat. Dann kommt es zu unspezifischen Magen-Darm-Beschwerden und schließlich zu Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, Erbrechen nach dem Essen sowie zunehmend krampfartigen Bauchschmerzen. Ggf. können weitere Symptome hinzutreten wie Blutung, Magengeschwür, Bauchspeichelentzündung u. a.

- Wenn sich der Haarbalg vom Magen "schwanzartig" in den Dünndarm fortsetzt und gelegentlich sogar den Dickdarm erreicht, spricht man von einem "Rapunzel-Syndrom", nach der Märchengestalt eines Mädchens mit ungewöhnlich langem Haar-Zopf.

Meist muss der Betreffende operiert werden, anders lassen sich die zum Teil auch noch verhärteten bis fast "versteinerten" Fremdkörper aus eigenem Haar im Magen kaum mehr entfernen. Danach allerdings gilt es den Patienten kinderpsychologisch engmaschig weiter zu betreuen, sonst kann sich das Ganze wiederholen.

In schweren Fällen kann das Haare-Ausreißen nicht nur zu kahlen Stellen, sondern auch zur Kahlköpfigkeit führen.

Die Häufigkeit dieser Störung wird mit zwei bis fünf Prozent bei 7- bis 11-jährigen Schulkindern angegeben.

Von manchen Kindern wird das Ausreißen der Haare als lustvoll empfunden, ja, kann zuweilen Suchtcharakter annehmen. Einige Experten meinen, dass sich die Kinder damit ihres Körpers "bewusster" werden möchten. Andere glauben, dass das ungewöhnliche Zufügen von Schmerzen einen Zustand stärkerer Aktivität nach sich zieht.

Psychodynamisch spricht man von "verdrängten aggressiven Impulsen". Tatsächlich befinden sich viele dieser Kinder in einem für sie unlösbaren Konflikt-Zustand, der sie in starke und nach außen gerichtete aggressive Durchbrüche zieht, die sie aber dann doch nicht realisieren können. Also wenden sich die aggressiven Impulse nach innen, gegen den eigenen Körper. Dann hätten die erlittenen Schmerzen die Funktion, die auftretenden Schuldgefühle zu mildern. Von einigen Fachleuten wird angenommen, dass Kinder mit Trichotillomanie unter einem ungewöhnlichen Zärtlichkeits- und Anlehnungsbedürfnis leiden, leiden deshalb, weil das von der Umgebung nicht erfüllt wird. Bei vielen aber gewinnt das Symptom des Haare-Ausreißens einfach den Charakter einer eingefahrenen Gewohnheit, die sie nur schwer wieder rückgängig machen können.

Die Therapie besteht vor allem - und hier überwiegend verhaltenstherapeutisch orientiert - in der Behandlung gemütsmäßiger Fehlentwicklungen. Oft muss auch die Eltern-Beziehung näher unter die Lupe genommen und dann normalisiert werden (mit der Konsequenz, dass die Eltern ihre pädagogische Einstellung verändern). Handelt es sich um Kinder mit hirnorganischen Störungen, kommt man auch um eine medikamentöse Behandlung, meist mit Neuroleptika nicht herum.

Im Allgemeinen nimmt das Haare-Ausreißen nach der Pubertät ab, kann in einzelnen Fällen aber fortbestehen und spricht dann für eine (schwere?) neurotische Fehlentwicklung. Das bedarf dann einer längerfristigen Psychotherapie

  • Stereotype rhythmische Einschlaf-Bewegungen

Stereotype, rhythmische Bewegungen, hauptsächlich vor dem Einschlafen oder beim Alleinsein nennt man in der Fachsprache Jaktationen. Sie sind für das Kind meist lust-betont.

Man unterscheidet verschiedene Formen: die häufigste ist das Kopf-Schaukeln (jactatio capitis) und das Oberkörper-Schaukeln, manchmal auch das Schaukeln des ganzen Körpers (jactatio corporis).

Dieses rhythmische Schaukeln ist möglich in Rücken- oder Bauchlage, im Sitzen, manchmal sogar in Knie-Ellenbogen-Lage. Es kann so heftig werden, dass Kopf oder Oberkörper gegen die Wand schlagen (in Wohnungen oder Mehrfamilien-Häusern gibt es dann Probleme, man kann es sich denken, zumal diese Kinder dies nicht zuletzt beim Alleinsein praktizieren). Das gehäufte Vorkommen beim Einschlafen hängt mit dem so genannten hypnoiden Zustand zusammen (hypnoid = schlafähnlich, leichte Bewusstseinsveränderung beim Einschlafen oder auch als oberflächlicher Hypnose-Grad bei Fremd- oder Selbst-Hypnose). Dieser Zustand begünstigt auch andere stereotype Bewegung.

Typisch für solche Kinder ist ihre Abkapselung von der Umwelt, ihre Selbstbezogenheit, die allerdings durch entsprechende Reize unterbrochen werden kann. Jaktationen finden sich etwa bei vier Prozent der 10- bis 11-jährigen Kinder, Jungen doppelt so häufig wie Mädchen. Besonders verbreitet sind sie in Heimen und bei gemütsmäßig vernachlässigten Kindern. Sie sind aber keinesfalls immer typisch für Vernachlässigung oder mangelnde gemütsmäßige Zuwendung.

Gehäuft kommen sie bei Kindern mit Gehirnschäden und Intelligenzminderung vor und solchen, bei denen Bewegungs- und Sprach-Verzögerungen diagnostiziert werden. Sie sind aber auch bei normal intelligenten und nicht vorgeschädigten Kindern zu finden. Es handelt sich eben um eine lust-betonte Reaktion, die nach Wiederholung verlangt. Das kann hirnorganisch, neurotisch oder "normal" sein.

Die Behandlung richtet sich nach der Ursache: Vernachlässigung (mehr Zuwendung), hirnorganische Schädigung (heilpädagogische oder verhaltenstherapeutische Maßnahmen) oder einfach so (günstig ist auch die Spieltherapie und motorische Bewegungs-Entfaltungsmöglichkeiten). Notfalls muss man zu Medikamenten greifen, vor allem Neuroleptika oder Antidepressiva.

  • Bewegungs-Stereotypien

Bewegungs- oder motorische Stereotypien sind verschiedene Bewegungs-Abläufe, die durch gleichförmiges Auftreten, Wiederholungs-Neigung und Fehlen eines sinnvollen Handlungs-Ziels charakterisiert sind. Oft sind sie auch Verlegenheits-Gesten.

Bewegungs-Stereotypien äußern sich in rhythmischen Fingerbewegungen, Schaukeln mit den Armen oder dem Oberkörper, rhythmisches Hirn- und Herbewegen der gespreizten Hand vor den Augen, Auf- und Abbewegen des Kopfes bei gleichzeitigem Schnüffeln, Kreisbewegungen mit der Hand (mit oder ohne Gegenständen), Zehenspitzen- oder Hackengang, Knirschen mit den Zähnen, abnorme Mundbewegungen, stereotype Wortwiederholungen, stereotypes Ausstoßen von Lauten oder Worten u. a. Im Säuglings- und frühen Kindesalter sind sie häufig, rund 15 bis 20%. Nach dem dritten Lebensjahr werden sie seltener und oft durch Manipulationen am eigenen Körper ersetzt (Erkundungs-Bewegungen).

Fortdauernd oder noch gehäuft findet man sie bei blinden, psychotischen (geisteskranken) und überhaupt geistig behinderten Kindern sowie bei solchen mit einer seelischen Vernachlässigung oder Hirnschädigung. Bei psychotischen und autistischen Kindern mit krankhafter Selbstbezogenheit können Stereotypien bisweilen geradezu bizarre Formen annehmen.

So sind auch die Ursachen vielfältig: Unter-Stimulation, Über-Stimulation, neurologische Störungen, selbst-stimulierende Verhaltensweisen u. a. Bisher gibt es kein einheitliches Erklärungsmuster.

Bei gesunden Kindern gehen sie - wie erwähnt - zurück. Schwierig wird es bei geistig behinderten, hirngeschädigten, autistischen und psychotischen Kindern. Hier hilft eine Verhaltenstherapie bzw. der Aufbau alternativer Verhaltensweisen (z. B. andere Reize anbieten, das Interesse auf sich ziehen). Die Heilungsaussichten hängen vom Gesundheitszustand (s. o.) und vor allem Intelligenzniveau ab.

  • Selbstverletzendes Verhalten

Unter selbstverletzendem Verhalten (Fachbegriff: Automutilation) versteht man verschiedene seelische Auffälligkeiten, deren gemeinsame Grundlage die selbst herbei geführte Beschädigung des eigenen Körpers ist: z. B. Kopfschlagen, Beißen, Kratzen. Bedeutungsgleich sind auch selbst-destruktives, selbst-bestrafendes, auto-aggressives Verhalten sowie Selbstverstümmelung.

Die häufigsten Formen sind das erwähnte Beißen, Kratzen, Kopfschlagen und das Verletzen mit Hilfe von Messern, spitzen Gegenständen usw. selbst-verletzendes Verhalten hat so manche Parallele mit suizidalem Verhalten (Selbsttötungs-Absichten). Der Unterschied liegt aber darin, dass es nicht auf die Beendigung des eigenen Lebens abzielt. Allerdings droht eine ständige Wiederholungs-Gefahr. Einzelheiten zu diesem komplexen Problem siehe die entsprechende Fachliteratur, auch in diesem Lehrbuch.

Schlafstörungen

Auch Schlafstörungen (Fachbegriff: Insomnie) sind nicht nur insgesamt ein häufiges Phänomen, sondern zeigen auch eine typische Altersbindung. Im Vorschulalter sind sie im ersten Lebensdrittel am häufigsten. Zu den Schlafstörungen zählt man auch das "Schlafwandeln" (Fachbegriff: Somnambulismus) und häufig auch das nächtliche Aufschrecken (Pavor nocturnus), was aber eigentlich keine Schlaf- sondern Angststörung ist.

Das Schlafbedürfnis von Kindern variiert zwischen rund 16 Stunden gegen Ende des 1. Lebensjahres bis zu zehn bis zwölf Stunden um die Einschulung herum.

- Einschlafstörungen sind die häufigsten Schlafstörungen im Vorschulalter und hängen oft mit Angstzuständen zusammen. Dies lässt sich nebenbei sehr gut mit einem durchgehenden Einschlaf-Ritual vermeiden (z. B. "Schlafbär", Schlaflied u. a.). Zumeist hängen Einschlafstörungen mit den Ereignissen des Tages zusammen, können aber auch durch einen zu langen Nachtschlaf bedingt sein.

- Durchschlafstörungen sind eine Art "zerhackter Schlaf", ebenfalls häufig ein Angst-Symptom mit meist unangenehmen Träumen.

- Das nächtliche Aufschrecken (s. o.) ist auf jeden Fall ein Angst-Hinweis, der sich meist vor Mitternacht äußert und für den die Kinder völlige Erinnerungslosigkeit angeben.

Die Behandlung aller Schlafstörungen hängt von der vermuteten Ursache ab, meist also Konflikte mit Eltern, Geschwistern u. a. Liegt eine depressions-bedingte Schlafstörung vor, kommt man um eine antidepressive medikamentöse Behandlung nicht herum, des gleichen bei starken Angstzuständen mit einem Anxiolytikum (einem Angst lösenden Arzneimittel). Wichtig ist aber die Aufklärung der Eltern und ihr entsprechend modifiziertes Verhalten.

- Beim Schlafwandeln kommt es in den Stadien des Tief- und Traumschlafs zu zwar geordnet erscheinenden Handlungsabläufen, an die sich die Kinder aber nicht mehr erinnern. Meist stehen sie aus ihrem Bett auf, laufen in der Wohnung umher, machen "unsinnige Handlungen (z. B. Schrank ausräumen, Blumen abbrechen), können aber auch auf die Straße gehen (Selbstgefährdung!). Die Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. Nicht selten leiden sie auch unter Albträumen und Angstzuständen.

Meist bildet sich das Schlafwandeln im Laufe der Zeit wieder von selber zurück. In hartnäckigen Fällen braucht es eine ärztliche Untersuchung (und oft auch ein antidepressives Arzneimittel zur Behandlung, was in der Regel erfolgreich ist).

Schlussfolgerung

Alterstypische, habituelle Verhaltensauffälligkeiten sind also nicht selten, können die Betroffenen und vor allem ihr Umfeld z. T. erheblich irritieren, sollten dann fachärztlich, d. h. durch einen Kinder- und Jugendpsychiater abgeklärt und ggf. gezielt behandelt werden. Manchmal aber reicht auch schon der Hinweis, dass es sich hier um ein vorübergehendes Geschehen handelt, das zwar beobachtet werden sollte, zumindest eine Zeit lang, aber keine gezielte Behandlung notwendig hat, sofern es sich schließlich wieder verflüchtigt.

Sinnvoller ist es aber auf jeden Fall, nicht allzu lange zu warten (d. h. das "Prinzip Hoffnung" nicht unnötig zu strapazieren), sondern durch eine entsprechende Arzt-Konsultation Klarheit, zumindest aber eine fachärztlich begründete Sicherheit zu erlangen.

Die wenigen Zeilen zu diesem Thema aus dem Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie von H. Remschmidt und Mitarbeitern zeigt, wie vielschichtig inzwischen die Kinder- und Jugendpsychiatrie geworden ist und vor allem eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit und Gesellschaft wahrzunehmen hat: die Gesundheit unseres Nachwuchses (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).