Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
H. Remschmidt (Hrsg.):
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Vom Trichobezoar bis zum Rapunzel-Syndrom - Ein Trichobezoar ist ein Haarbalg, d. h. ein Knäuel aus verschluckten Haaren im Magen oder Darm. Betroffen sind meist junge Mädchen mit langen Haaren. Die psychodynamischen Hintergründe sind mehrschichtig, meist aber auf einer intellektuellen Minderbegabung basierend und oft auch noch zusätzlich mit einer dauerhaften Verstimmung oder Angststörung verbunden. Das Beschwerdebild durch einen solchen verschluckten Haarknäuel entwickelt sich nur langsam; lange merken die Betroffenen überhaupt nichts, bis der Haarbalg eine zum Teil unglaubliche Größe erreicht hat. Dann kommt es zu unspezifischen Magen-Darm-Beschwerden und schließlich zu Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, Erbrechen nach dem Essen sowie zunehmend krampfartigen Bauchschmerzen. Ggf. können weitere Symptome hinzutreten wie Blutung, Magengeschwür, Bauchspeichelentzündung u. a. - Wenn sich der Haarbalg vom Magen "schwanzartig" in den Dünndarm fortsetzt und gelegentlich sogar den Dickdarm erreicht, spricht man von einem "Rapunzel-Syndrom", nach der Märchengestalt eines Mädchens mit ungewöhnlich langem Haar-Zopf. Meist muss der Betreffende operiert werden, anders lassen sich die zum Teil auch noch verhärteten bis fast "versteinerten" Fremdkörper aus eigenem Haar im Magen kaum mehr entfernen. Danach allerdings gilt es den Patienten kinderpsychologisch engmaschig weiter zu betreuen, sonst kann sich das Ganze wiederholen. |
In schweren Fällen kann das Haare-Ausreißen nicht nur zu kahlen Stellen, sondern auch zur Kahlköpfigkeit führen.
Die Häufigkeit dieser Störung wird mit zwei bis fünf Prozent bei 7- bis 11-jährigen Schulkindern angegeben.
Von manchen Kindern wird das Ausreißen der Haare als lustvoll empfunden, ja, kann zuweilen Suchtcharakter annehmen. Einige Experten meinen, dass sich die Kinder damit ihres Körpers "bewusster" werden möchten. Andere glauben, dass das ungewöhnliche Zufügen von Schmerzen einen Zustand stärkerer Aktivität nach sich zieht.
Psychodynamisch spricht man von "verdrängten aggressiven Impulsen". Tatsächlich befinden sich viele dieser Kinder in einem für sie unlösbaren Konflikt-Zustand, der sie in starke und nach außen gerichtete aggressive Durchbrüche zieht, die sie aber dann doch nicht realisieren können. Also wenden sich die aggressiven Impulse nach innen, gegen den eigenen Körper. Dann hätten die erlittenen Schmerzen die Funktion, die auftretenden Schuldgefühle zu mildern. Von einigen Fachleuten wird angenommen, dass Kinder mit Trichotillomanie unter einem ungewöhnlichen Zärtlichkeits- und Anlehnungsbedürfnis leiden, leiden deshalb, weil das von der Umgebung nicht erfüllt wird. Bei vielen aber gewinnt das Symptom des Haare-Ausreißens einfach den Charakter einer eingefahrenen Gewohnheit, die sie nur schwer wieder rückgängig machen können.
Die Therapie besteht vor allem - und hier überwiegend verhaltenstherapeutisch orientiert - in der Behandlung gemütsmäßiger Fehlentwicklungen. Oft muss auch die Eltern-Beziehung näher unter die Lupe genommen und dann normalisiert werden (mit der Konsequenz, dass die Eltern ihre pädagogische Einstellung verändern). Handelt es sich um Kinder mit hirnorganischen Störungen, kommt man auch um eine medikamentöse Behandlung, meist mit Neuroleptika nicht herum.
Im Allgemeinen nimmt das Haare-Ausreißen nach der Pubertät ab, kann in einzelnen Fällen aber fortbestehen und spricht dann für eine (schwere?) neurotische Fehlentwicklung. Das bedarf dann einer längerfristigen Psychotherapie
Stereotype, rhythmische Bewegungen, hauptsächlich vor dem Einschlafen oder beim Alleinsein nennt man in der Fachsprache Jaktationen. Sie sind für das Kind meist lust-betont.
Man unterscheidet verschiedene Formen: die häufigste ist das Kopf-Schaukeln (jactatio capitis) und das Oberkörper-Schaukeln, manchmal auch das Schaukeln des ganzen Körpers (jactatio corporis).
Dieses rhythmische Schaukeln ist möglich in Rücken- oder Bauchlage, im Sitzen, manchmal sogar in Knie-Ellenbogen-Lage. Es kann so heftig werden, dass Kopf oder Oberkörper gegen die Wand schlagen (in Wohnungen oder Mehrfamilien-Häusern gibt es dann Probleme, man kann es sich denken, zumal diese Kinder dies nicht zuletzt beim Alleinsein praktizieren). Das gehäufte Vorkommen beim Einschlafen hängt mit dem so genannten hypnoiden Zustand zusammen (hypnoid = schlafähnlich, leichte Bewusstseinsveränderung beim Einschlafen oder auch als oberflächlicher Hypnose-Grad bei Fremd- oder Selbst-Hypnose). Dieser Zustand begünstigt auch andere stereotype Bewegung.
Typisch für solche Kinder ist ihre Abkapselung von der Umwelt, ihre Selbstbezogenheit, die allerdings durch entsprechende Reize unterbrochen werden kann. Jaktationen finden sich etwa bei vier Prozent der 10- bis 11-jährigen Kinder, Jungen doppelt so häufig wie Mädchen. Besonders verbreitet sind sie in Heimen und bei gemütsmäßig vernachlässigten Kindern. Sie sind aber keinesfalls immer typisch für Vernachlässigung oder mangelnde gemütsmäßige Zuwendung.
Gehäuft kommen sie bei Kindern mit Gehirnschäden und Intelligenzminderung vor und solchen, bei denen Bewegungs- und Sprach-Verzögerungen diagnostiziert werden. Sie sind aber auch bei normal intelligenten und nicht vorgeschädigten Kindern zu finden. Es handelt sich eben um eine lust-betonte Reaktion, die nach Wiederholung verlangt. Das kann hirnorganisch, neurotisch oder "normal" sein.
Die Behandlung richtet sich nach der Ursache: Vernachlässigung (mehr Zuwendung), hirnorganische Schädigung (heilpädagogische oder verhaltenstherapeutische Maßnahmen) oder einfach so (günstig ist auch die Spieltherapie und motorische Bewegungs-Entfaltungsmöglichkeiten). Notfalls muss man zu Medikamenten greifen, vor allem Neuroleptika oder Antidepressiva.
Bewegungs- oder motorische Stereotypien sind verschiedene Bewegungs-Abläufe, die durch gleichförmiges Auftreten, Wiederholungs-Neigung und Fehlen eines sinnvollen Handlungs-Ziels charakterisiert sind. Oft sind sie auch Verlegenheits-Gesten.
Bewegungs-Stereotypien äußern sich in rhythmischen Fingerbewegungen, Schaukeln mit den Armen oder dem Oberkörper, rhythmisches Hirn- und Herbewegen der gespreizten Hand vor den Augen, Auf- und Abbewegen des Kopfes bei gleichzeitigem Schnüffeln, Kreisbewegungen mit der Hand (mit oder ohne Gegenständen), Zehenspitzen- oder Hackengang, Knirschen mit den Zähnen, abnorme Mundbewegungen, stereotype Wortwiederholungen, stereotypes Ausstoßen von Lauten oder Worten u. a. Im Säuglings- und frühen Kindesalter sind sie häufig, rund 15 bis 20%. Nach dem dritten Lebensjahr werden sie seltener und oft durch Manipulationen am eigenen Körper ersetzt (Erkundungs-Bewegungen).
Fortdauernd oder noch gehäuft findet man sie bei blinden, psychotischen (geisteskranken) und überhaupt geistig behinderten Kindern sowie bei solchen mit einer seelischen Vernachlässigung oder Hirnschädigung. Bei psychotischen und autistischen Kindern mit krankhafter Selbstbezogenheit können Stereotypien bisweilen geradezu bizarre Formen annehmen.
So sind auch die Ursachen vielfältig: Unter-Stimulation, Über-Stimulation, neurologische Störungen, selbst-stimulierende Verhaltensweisen u. a. Bisher gibt es kein einheitliches Erklärungsmuster.
Bei gesunden Kindern gehen sie - wie erwähnt - zurück. Schwierig wird es bei geistig behinderten, hirngeschädigten, autistischen und psychotischen Kindern. Hier hilft eine Verhaltenstherapie bzw. der Aufbau alternativer Verhaltensweisen (z. B. andere Reize anbieten, das Interesse auf sich ziehen). Die Heilungsaussichten hängen vom Gesundheitszustand (s. o.) und vor allem Intelligenzniveau ab.
Unter selbstverletzendem Verhalten (Fachbegriff: Automutilation) versteht man verschiedene seelische Auffälligkeiten, deren gemeinsame Grundlage die selbst herbei geführte Beschädigung des eigenen Körpers ist: z. B. Kopfschlagen, Beißen, Kratzen. Bedeutungsgleich sind auch selbst-destruktives, selbst-bestrafendes, auto-aggressives Verhalten sowie Selbstverstümmelung.
Die häufigsten Formen sind das erwähnte Beißen, Kratzen, Kopfschlagen und das Verletzen mit Hilfe von Messern, spitzen Gegenständen usw. selbst-verletzendes Verhalten hat so manche Parallele mit suizidalem Verhalten (Selbsttötungs-Absichten). Der Unterschied liegt aber darin, dass es nicht auf die Beendigung des eigenen Lebens abzielt. Allerdings droht eine ständige Wiederholungs-Gefahr. Einzelheiten zu diesem komplexen Problem siehe die entsprechende Fachliteratur, auch in diesem Lehrbuch.
SchlafstörungenAuch Schlafstörungen (Fachbegriff: Insomnie) sind nicht nur insgesamt ein häufiges Phänomen, sondern zeigen auch eine typische Altersbindung. Im Vorschulalter sind sie im ersten Lebensdrittel am häufigsten. Zu den Schlafstörungen zählt man auch das "Schlafwandeln" (Fachbegriff: Somnambulismus) und häufig auch das nächtliche Aufschrecken (Pavor nocturnus), was aber eigentlich keine Schlaf- sondern Angststörung ist.
Das Schlafbedürfnis von Kindern variiert zwischen rund 16 Stunden gegen Ende des 1. Lebensjahres bis zu zehn bis zwölf Stunden um die Einschulung herum.
- Einschlafstörungen sind die häufigsten Schlafstörungen im Vorschulalter und hängen oft mit Angstzuständen zusammen. Dies lässt sich nebenbei sehr gut mit einem durchgehenden Einschlaf-Ritual vermeiden (z. B. "Schlafbär", Schlaflied u. a.). Zumeist hängen Einschlafstörungen mit den Ereignissen des Tages zusammen, können aber auch durch einen zu langen Nachtschlaf bedingt sein.
- Durchschlafstörungen sind eine Art "zerhackter Schlaf", ebenfalls häufig ein Angst-Symptom mit meist unangenehmen Träumen.
- Das nächtliche Aufschrecken (s. o.) ist auf jeden Fall ein Angst-Hinweis, der sich meist vor Mitternacht äußert und für den die Kinder völlige Erinnerungslosigkeit angeben.
Die Behandlung aller Schlafstörungen hängt von der vermuteten Ursache ab, meist also Konflikte mit Eltern, Geschwistern u. a. Liegt eine depressions-bedingte Schlafstörung vor, kommt man um eine antidepressive medikamentöse Behandlung nicht herum, des gleichen bei starken Angstzuständen mit einem Anxiolytikum (einem Angst lösenden Arzneimittel). Wichtig ist aber die Aufklärung der Eltern und ihr entsprechend modifiziertes Verhalten.
- Beim Schlafwandeln kommt es in den Stadien des Tief- und Traumschlafs zu zwar geordnet erscheinenden Handlungsabläufen, an die sich die Kinder aber nicht mehr erinnern. Meist stehen sie aus ihrem Bett auf, laufen in der Wohnung umher, machen "unsinnige Handlungen (z. B. Schrank ausräumen, Blumen abbrechen), können aber auch auf die Straße gehen (Selbstgefährdung!). Die Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. Nicht selten leiden sie auch unter Albträumen und Angstzuständen.
Meist bildet sich das Schlafwandeln im Laufe der Zeit wieder von selber zurück. In hartnäckigen Fällen braucht es eine ärztliche Untersuchung (und oft auch ein antidepressives Arzneimittel zur Behandlung, was in der Regel erfolgreich ist).
Schlussfolgerung
Alterstypische, habituelle Verhaltensauffälligkeiten sind also nicht selten, können die Betroffenen und vor allem ihr Umfeld z. T. erheblich irritieren, sollten dann fachärztlich, d. h. durch einen Kinder- und Jugendpsychiater abgeklärt und ggf. gezielt behandelt werden. Manchmal aber reicht auch schon der Hinweis, dass es sich hier um ein vorübergehendes Geschehen handelt, das zwar beobachtet werden sollte, zumindest eine Zeit lang, aber keine gezielte Behandlung notwendig hat, sofern es sich schließlich wieder verflüchtigt.
Sinnvoller ist es aber auf jeden Fall, nicht allzu lange zu warten (d. h. das "Prinzip Hoffnung" nicht unnötig zu strapazieren), sondern durch eine entsprechende Arzt-Konsultation Klarheit, zumindest aber eine fachärztlich begründete Sicherheit zu erlangen.
Die wenigen Zeilen zu diesem Thema aus dem Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie von H. Remschmidt und Mitarbeitern zeigt, wie vielschichtig inzwischen die Kinder- und Jugendpsychiatrie geworden ist und vor allem eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit und Gesellschaft wahrzunehmen hat: die Gesundheit unseres Nachwuchses (VF).
Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
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