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H.-J. Seidel:
KLINISCHE UMWELTMEDIZIN
Kurzlehrbuch für angehende und praktizierende Ärzte
Shaker-Verlag, Aachen 2005. 195 S., € 29,80. ISBN 3-8322-4254-6

Dass die Umwelt ein Großteil unserer Zukunft ausmacht, ist uns erst bewusst geworden, seit wir sie so nachhaltig geschädigt haben, dass jetzt folgenschwere Konsequenzen drohen - in vielen Fällen unumkehrbar. International ist dies ein ungelöstes Problem, nicht weil arme Nationen nicht den Willen und vor allem die Möglichkeiten zur Umweltschonung haben, sondern weil die führenden eine gnadenlose Politik der Ausbeutung und damit langfristig Schädigung unseres Globus betreiben. In den meisten Nationen Europas bemüht man sich schon einige Jahre um eine Korrektur, zumindest Milderung der unseligen Lage, denn wir sägen natürlich an dem Ast, auf dem wir sitzen.

Hier ist vor allem die Medizin gefordert, denn mit der bedrohten Gesundheit lassen sich dann auch gelegentlich hartherzige wirtschaftliche Interessen korrigieren. Reagiert hat die Ärzteschaft allerdings erst, als so manche nicht-ärztliche Institutionen die Gunst der Stunde nutzten, ihr eigenes Süppchen zu kochen. Deshalb hat die Ärzteschaft vor rund 15 Jahren schließlich Stellung bezogen und mit ihrer professionellen Kompetenz für Umwelt und menschliche Gesundheit in Gegenstandskatalogen (Kursbuch Umweltmedizin), inhaltlichen Definitionen und schließlich der Zusatzbezeichnung Umweltmedizin und der Gebietsbezeichnung (Facharzt) Hygiene und Umweltmedizin Flagge gezeigt.

Bisher haben etwa 5000 Ärzte in Deutschland diese Zusatzbezeichnung erworben und sind damit in der Lage, Patienten und besorgten Bürgern auf konkrete Fragen zu antworten und ggf. umwelt-bedingte Quellen der Beschwerden zu finden. Prävention und Therapie folgen der Diagnose.

Der Boom der Umweltmedizin hat aber inzwischen nachgelassen. Trotzdem gibt es immer wieder regelrechte Nachfrage-Wellen, besonders wenn ein Schadstoff die Schlagzeilen der Medien beherrscht und damit für Unruhe sorgt.

Im Rahmen der medizinischen Fachdisziplin wird die Umweltmedizin einerseits von der Hygiene und andererseits von der Arbeitsmedizin repräsentiert. Unter hygienischen Gesichtspunkten geht es um die Belastungen von Luft, Boden, Nahrung, Wasser und Gebrauchsgegenständen und deren Gesundheitsverträglichkeit. Die Arbeitsmedizin kümmert sich um die daraus resultierenden Beschränkungen was die Arbeitsplatzbedingungen anbelangt.

Unter Umweltmedizin versteht man das interdisziplinäre Fachgebiet, das sich mit der Erforschung, der Erkennung, Behandlung und Prävention umweltbedingter Gesundheitsstörungen befasst. Zentraler Fachgegenstand sind anthropogene Umweltbelastungen und deren gesundheitliche Folgen. Man unterscheidet zwischen einer mehr bevölkerungs- und präventiv-medizinischen Komponente und einer individual-medizinischen Ausrichtung: ambulante oder klinische Umweltmedizin.

Der Deutsche Ärztetag definierte die Umweltmedizin als medizinische Betreuung von Einzelpersonen mit gesundheitlichen Beschwerden oder auffälligen Untersuchungsbefunden, die von ihnen selbst oder ärztlicherseits mit Umweltfaktoren in Verbindung gebracht werden.

Eines der Probleme, mit der sich die Umweltmedizin auseinander setzen muss, ist der Teil-Satz: "... die von ihnen (also den Einzelpersonen) selbst (...) mit Umweltfaktoren in Verbindung gebracht werden". Das eröffnet natürlich ungeahnte Weiten des individuellen Kausalitätsbedürfnisses - und macht wissenschaftlich fundierte Arbeit nicht gerade einfach. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist die "multiple chemical sensitivity" (siehe Kasten).

Beim Allgemeinmediziner geht es aber zumeist um Allergie-Diagnosen und beim Öffentlichen Gesundheitsdienst um entsprechende Sorgen um Luftverschmutzung, Trinkwasserqualität u. ä. Die spezielle Gruppierung der klinischen Umweltmedizin oder klinischen Ökologie wird vor allem von jenen Patienten genutzt, die sich im konventionellen Feld der klinischen Medizin nicht ausreichend verstanden und versorgt sehen.

Ein von vielen als "End-Zeit-Problem" betrachtetes Phänomen sind die Umweltbelastungen und Umweltkatastrophen, die von Menschenhand ausgelöst und unterhalten werden. Dazu gibt es seit einem halben Jahrhundert beunruhigende Beispiele und mahnende Stimmen, in Buchform mit bezeichnenden Titeln versehen: "Stummer Frühling", "Seveso ist überall - die tödlichen Risiken der Chemie", "die gestohlene Zukunft" u. a. Schwerpunkt sind meist die Trinkwasser-Ressourcen, der kranke Wald, die Klimaveränderungen u. a.

Moderne Lebens- und Wirtschaftsformen werden uns auch in Zukunft mit Risiken und Gesundheitsgefahren konfrontieren, teils direkt, teils indirekt und dann mit Langzeitwirkung. Ist es ein "Donnerschlag" wie Tschernobyl 1986, dann erschrickt die ganze Welt und es bewegt sich selbst dort etwas, wo ansonsten Egoismus oder Gleichgültigkeit dominieren. Fast noch riskanter aber sind die heimlichen Risiken, z. B. Viren-Ausbreitungen über Futter-Verseuchung, Touristen-Infektionen u. a. Kurz: Der Umweltmedizin gehört die Zukunft, möchte man meinen, und gleichzeitig froh sein, dass es so etwas gibt. In unserem Umfeld beginnend mit dem Umweltbundesamt (UBA), weiteren Institutionen wie Robert-Koch-Institut, Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, Bundesinstitut für Risikobewertung usw. Die Bundesländer selber betreiben in aller Regel Landesämter für Umweltschutz bis hin zu Landesgesundheitsämtern oder Landesinstituten für den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Die Landesärztekammern haben eigene Ausschüsse für Umwelt- und Arbeitsmedizin gegründet, die Öffentlichen Gesundheitsämter separate Bereiche für Umweltmedizin eingerichtet, d. h. reguläre Anlaufstellen bei Fragen zur Umweltbelastung bis hin zu umweltmedizinischen Beratungsstellen bzw. Ambulanzen usw.

Bei der individuellen Informationsbeschaffung helfen wissenschaftliche Zeitschriften, Handbücher, Lehrbücher und Monographien, umwelt-medizinische Informations-Foren und -Dienste, ferner wissenschaftliche Fachgesellschaften, Berufsverbände, Beratungsdienste, Betroffenenvereinigungen und Selbsthilfegruppen, Verbraucherzentralen und nicht zuletzt Internet-Informationen in jeglicher Form.

Das alles ist zwar gut und recht, kann aber rasch überfordern. Wer sich deshalb einen komprimierten Überblick verschaffen will, dem sei das Kurzlehrbuch für angehende und praktizierende Ärzte empfohlen, die Klinische Umweltmedizin von Prof. Dr. Hans Joachim Seidel, dem ehemaligen Leiter des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Ulm.

Natürlich ist es ein Komprimat, das höchste Konzentration und auch Basis-Fachkenntnisse erfordert, keine einfache Lektüre, schon gar nicht für den Laien. Trotzdem ist es eine gute Übersicht, ein hilfreiches Nachschlagewerk (das ausführliche Inhaltsverzeichnis ersetzt halbwegs das fehlende Sachwortverzeichnis) mit vielen Definitionen, Erläuterungen, Abbildungen und Tabellen. Und mehr als eine erste Information ist auch von den meisten nicht gewünscht. Und hier helfen die fast 200 Seiten zielgerichtet weiter zu Themen wie Außenluft-Verunreinigung, Innenraumbelastung, Wohnmedizin, Nahrungsmittel, Trinkwasser, Getränke, Badegewässer, Abwasser, Abfall, Altlasten-Problematik; und nicht zuletzt so heiße "Themen wie elektromagnetische Felder, UV-Strahlung, ionisierende Strahlen, Lärm und Erschütterungen, Wetter und Klima (vor allem Klimawandel), Ökobilanzen u. a. Interessant auch das Kapitel über umwelt-medizinische Aspekte ausgewählter Krankheitsgruppen aus den Bereichen verschiedener Organsysteme (VF).

UMWELTASSOZIIERTE SYNDROME AM BEISPIEL DER MULTIPLEN CHEMIKALEN-EMPFINDLICHKEIT (MCS)

Umwelt-bezogene Beschwerdebilder gab es seit jeher (z. B. die frühere Chlorose, von der heute niemand mehr spricht). Der Bezug zur Umwelt ist vor allem durch die individuelle Sichtweise des Patienten gegeben, daher der Begriff "umwelt-assoziiertes Syndrom". Am häufigsten finden sich derzeit die Multiple Chemikalien-Empfindlichkeit (MCS), das Chronische Müdigkeits-Syndrom (CFS), die Fibromyalgie sowie das Sick-Building-Syndrom. Gelegentlich damit in Verbindung gebracht auch das Burn out-Syndrom.

- Bei der Multiplen Chemikalien-Empfindlichkeit (MCS) fühlen sich die Betroffenen von Gerüchen und anderen Innenraumluft-Komponenten beeinträchtigt, z. B. in Kaufhäusern, aber auch zu Hause oder am Arbeitsplatz. Dabei berichten sie über Befindlichkeits- und Gesundheitsstörungen, während andere im gleichen Umfeld keine Besonderheiten registrieren. Das Phänomen hat viele Dimensionen und wird deshalb auch kontrovers diskutiert. Die einen wollen dabei konkrete Chemikalien-Expositionen und ihre nachweisbaren (?) Konsequenzen berücksichtigt sehen, die anderen sprechen von Befindlichkeitsstörungen, wie sie ohnehin in der Bevölkerung am häufigsten anzutreffen sind.

Bisher sind folgende Klassifikations-Vorschläge gemacht worden:

Beschwerdebilder, die durch (wiederholte chemische) Exposition reproduzierbar folgende Krankheitszeichen auslösen:

- neurologische Symptome wie Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel, Konzentrations- und Schlafstörungen,
- seelische Symptome wie Reizbarkeit, Depressionen, Angst, Verwirrtheit und Gedächtnisstörungen,
- Haut- und Schleimhautsymptome wie Juckreiz, Hautbrennen, Augenreizungen und Husten sowie
- allgemeine Beschwerden wie Durchfall, Verstopfung, Übelkeit, Herzschmerzen, Angst- und Beklemmungsgefühle, Atemnot und grippale Beschwerden.

Das Beschwerdebild muss chronisch (dauerhaft) sein und die Symptome sollen durch schon geringe Konzentrationen der entsprechenden Agenzien ausgelöst werden (was bei anderen Menschen keinerlei Reaktionen auszulösen pflegt). Beispiele: Industrie-Chemikalien, Nahrungsmittel-Additive, Pestizide, Arzneimittel, Innenraum-Luftschadstoffe, Lösungsmittel, Alkohole, Parfum, Kosmetika, Kleidung, Plastik, Chlor, Amalgam, Kfz-Abgase, Ozon, Benzin, ionisierende und elektromagnetische Strahlen.

Wird der (subjektive oder objektivierbare) Schädigungs-Bereich gemieden, kommt es zur Besserung oder vollständigen Genesung.

Man schätzt, dass die Multiple Chemikalien-Empfindlichkeit (MCS) etwa 0,2 bis 4% der Erwachsenen betrifft. Auf Deutschland bezogen wären das etwa 300.000 Personen.

Die Ursachen und Hintergründe sind ein weites Feld. Beispiele: unentdeckte traditionelle Krankheiten (Vergiftungen, Immundefekte), eine allgemeine vegetativ-nervöse Übererregbarkeit, die Fehlverarbeitung traumatischer Erlebnisse, seelische Störungen mit hypochondrischen, hysterischen und zwanghaft-phobischen Zügen, psychosomatische Störungen, chronische Vergiftungen durch Lösungsmittel, Pestizide u. a. Ferner Hormon- und Stoffwechselstörungen, Reizung der Atemwege mit entsprechender Immun-Reaktion, Fehlregulation nervlich ausgelöster Entzündungen, Rückwirkung auf das Zentrale Nervensystem, Fehlregulation des Abwehrsystems, die Erhöhung der Erregbarkeit bestimmter Gehirnzentren (z. B das limbische System) u. a.

Die Wissenschaftler, die sich damit beschäftigen, favorisieren unterschiedliche Organ-Systeme vom Metabolismus (Stoffwechsel) bis zu neurohormonellen Veränderungen im Gehirn. Die bisher vorliegenden wenigen kontrollierten Studien mit MCS-Patienten zeigen aber auch, dass die meisten in den entsprechenden Untersuchungen nicht (!) zwischen Placebo-Exposition und Noxen-Exposition unterscheiden können, d. h. ob nur eine harmlose Schein-Belastung oder eine echte Belastung vorliegt. Ob ein genetischer Hintergrund existiert ist bisher fraglich (Empfindlichkeits-Vererbung, entweder real-organisch oder rein seelisch als eingebildete Überempfindlichkeit).

Die in Deutschland gesammelten MCS-Fälle gehen meist auf Schadstoffe in der Wohnung, auf Nahrungsmittel bzw. Nahrungsmittel-Rückstände, auf Schadstoffe im Wohnungsumfeld und am Arbeitsplatz zurück sowie auf Medikamente, Dental-Materialien (die vom Zahnarzt verwendet werden) sowie Trinkwasser.

Wenn man MCS-Patienten psychologisch untersucht, dann gibt es schon Unterschiede zum Gesunden, besonders in den Bereichen Somatisierung ("Verkörperlichung von unverarbeiteten seelischen und psychosozialen Problemen"), Zwanghaftigkeit, Depressivität und Ängstlichkeit.

Andererseits aber müssen alle damit befassten Ärzte zugeben: Es gibt diese Patienten - und sie leiden! Sie sind aber auch eine schwierige Klientel, denn wenn sie einmal auf ihre (subjektive Laien-)Diagnose fixiert sind, wird die Situation bald ausweglos, da sich bedrohliche Stoffe tagtäglich und überall auftun.

So geraten viele dieser Patienten in eine bedauernswerte soziale Isolation, verlieren ihren Arbeitsplatz und bringen ihre zwischenmenschlichen, vor allem partnerschaftlichen und familiären Beziehungen in Gefahr.

Deshalb gibt es inzwischen Selbsthilfegruppen und als Einzel-Behandlung vor allem die Verhaltenstherapie.

Zusammenfassende Übersicht aus H.-J. Seidel: Klinische Umweltmedizin, 2005

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).