St. Weinmann:
EVIDENZBASIERTE PSYCHIATRIE
Methoden und Anwendung
Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2007. 163 S., € 39,00.
ISBN 3-17-018855-0
Wenn etwas evident ist, dann ist es wie der lateinische Begriff evidens ausdrückt, augenscheinlich, einleuchtend, klar, offenbar, auf der Hand liegend. Evidens ist also Einsichtigkeit, Gewissheit. Wem das in einer Sache oder Fragestellung gegeben ist, der kann sich glücklich schätzen. Wenn dies in einem so wichtigen Punkt wie der Gesundheit (oder halt auch Krankheit) der Fall ist, dann kommt man der Lösung des Problems schon ein großes Stück näher. Die Medizin kann also evidens gebrauchen, wahrhaftig. Und die Psychiatrie ganz besonders, wurde sie doch früher als eher "weiches Fach" abgetan, und hat auch heute noch ihr liebe Not, sich der naturwissenschaftlichen Basis anderer medizinischer Disziplinen problemlos anzuschließen. Doch sie ist auf dem besten Weg, wobei selbst ironische Kritiker eingestehen müssen, dass die "Biologie der Seele" ungleich schwerer zu erfassen ist als Herz-Kreislauf, Wirbelsäule und Gelenke, Stoffwechsel, Sinnesorgane u.a. Kurz: Eine evidenzbasierte Psychiatrie tut Not, ist gefordert, akzeptiert und bereits auf dem besten Weg, heilsame Früchte zu tragen.
Aber gerade die "besten Wege" sind steinig. Und deshalb ist auch die Psychiatrie in dieser Hinsicht mit besonders vielen Schwierigkeiten konfrontiert. Es führt aber kein Weg an einer wissenschaftlich fundierten Medizin vorbei, die sich der methodischen Grundlagen der Informationsgewinnung selbstkritisch bewusst ist. In älteren Lehrbüchern ist noch nicht einmal der Begriff zu finden, in modernen Lehrbüchern, vor allem in den neuen Auflagen der Standardwerke spielt die Evidenz-Basierung eine immer wichtigere Rolle. Es geht darum, die grundlegenden Aussagen mit so genannten Evidenz-Leveln zu versehen, die zeigen sollen, ob systematische Übersichtsarbeiten, randomisierte Studien oder andere Untersuchungen zum jeweiligen Thema vorliegen. Oder kurz und auf Deutsch: sind Diagnose und Therapie "bewiesen"?
Wer sich nun mit Fragen der evidenz-basierten Psychiatrie beschäftigen will, sieht sich unabhängig von der Schwierigkeit der Materie erst einmal mit Fachbegriffen konfrontiert, die - so gut wie ausschließlich englischsprachig - ihm nur nichts konkret vermitteln, sondern auch noch für inneren Unwillen, ja heimlichen Widerstand sorgen. Auf jeden Fall gehen "control event rate, drop out, forest oder funnel plot, weighted mean difference, number needed to treat, odds ratio, performance bias u. a. nur schwer über die Lippen und auch unter Kohorten-Studien, Qualitätsindikator, absoluter Risikoreduktion usw. kann sich nicht jeder etwas vorstellen. Was tun?
Man muss sich informieren, aber wo?
Der Gedanke, sich von einem ausgewiesenen ("jungen") Experten derlei erklären lassen zu sollen, nichts, aber auch gar nichts zu verstehen, trotzdem aber gute Miene zum bösen Spiel machen und am Schluss mit dem Eindruck kämpfen zu müssen, man sei als "auslaufendes Modell", für die neue Zeit halt nicht mehr geeignet, dieser Gedanke erfreut natürlich wenig. Gibt es also kein Buch, das sich der Mehrzahl der Informationsbedürftigen mit guten Fachkenntnissen in psychiatrischen Alltagsfragen, aber begrenztem Verständnis für eine neue Welt des Wissenschafts-Verständnisses annimmt?
Es gibt es, allerdings in deutscher Sprache erst seit 2007. Es ist das Buch des Gesundheitswissenschaftlers Dr. Dr. Stefan Weinmann von der Abteilung II der Universität Ulm im BKK Günzburg, dessen Forschungsschwerpunkte die Leitlinien, systematischen Reviews, das Qualitätsmanagement und die Versorgungsforschung sind. Er kommt zwar auch nicht an den schwer verdaulichen nomenklatorischen Fakten vorbei, aber er gibt sich alle Mühe, seine willigen Leser in eine Materie einzuführen, die vermutlich unsere Zukunft bestimmt, aber leider auch einen großen Teil unserer Zeit und Kraft absorbieren wird.
Ist das bedauerlich? Wenn man sich etwas einliest, offenbar nicht. Denn die Menge an verfügbaren Therapie-Angeboten war in der alten "Seelenheilkunde" überschaubar, in der modernen Psychiatrie ist nicht mehr daran zu denken. Damit erhöht sich aber auch die Komplexität der klinischen Entscheidungs-Kriterien und -Situationen. Man muss sich also unter Evidenz-Kriterien einzuarbeiten versuchen. Hier hilft dieses Buch.
Die schwierige Aufgabe gelingt dem Autor vor allem anhand typischer Beispiele aus der psychiatrischen Literatur. Dabei wird manches deutlich, was der fachliche Text in der Welt der hohen Wissenschaft nicht rüberbringt. Zudem kommt man der Frage näher, ob alles, was uns in Wort und Schrift geboten (bzw. oft genug zugemutet) wird, auch die ganze Wahrheit ist. Dass sich der wissenschaftliche Kenntnisstand im Laufe des mühsam erarbeiteten Fortschritts ändert, kann jeder akzeptieren; vor allem hat jeder, der schon einige Jahrzehnte in Klinik und Praxis hinter sich gebracht hat, dafür einige, zum Teil sogar bestürzende Beispiele. Dass aber auch ein Beschönigungs-Trend für insbesondere pharmakotherapeutische Studien-Ergebnisse eingerechnet werden muss, ist zwar seit jeher bekannt, aber in seinem Bedeutungsgehalt auch schwer einzuschätzen. Hier gibt die evidenzbasierte Medizin im Allgemeinen und evidenzbasierte Psychiatrie im Speziellen nun doch eine Reihe von Informationen, ja Werkzeuge an die Hand, die die nackte Skepsis mit etwas mehr nachweisbarer Klarheit unterstützen, eben im Sinne von Evidenz, wissenschaftlich unabhängig untermauert.
Das Buch von St. Weinmann bleibt trotzdem eine "schwere Kost", was bei der Komplexität des Themas nicht verwundert. Es war aber überfällig, ist angesichts der Schwierigkeiten der Materie erfreulich eingängig, wird sicher nicht jeden Interessenten zum Kauf animieren (der Preis signalisiert, dass man das auch nicht erwartet), gehört aber in jede Fach-Bibliothek. Und sicher wird sich auch mancher Kliniker oder Praxis-Inhaber dafür entscheiden, um über neue terminologische Hürden hinweg die Qualität und Anwendbarkeit therapie-bezogenen psychiatrischen Wissens zu beurteilen (VF).
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