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ZUM THEMA: HAUT UND SEELISCHE STÖRUNG
Dermatosen durch unbewusste Selbstverletzungen und Simulations-Versuche

W. Harth, U. Gieler:
Psychosomatische Dermatologie
Springer Medizin Verlag, Heidelberg 2006. 310 S. 95 Abb., 46 Tab. € 79,95
ISBN-10: 3-540-24890-0

Die Haut war schon immer ein Thema. Im positiven Falle ein Pluspunkt des äußeren Erscheinungsbildes, wenn auch im Laufe des Lebens altersbedingt an Attraktivität verlierend. In vielen, meist verschämt geheim gehaltenen Fällen aber auch ein Schwachpunkt, wenn nicht gar eine schicksalhafte Belastung. Das hat überwiegend körperliche Ursachen, aber auch seelische, psychosoziale, zumindest mehrschichtige. Die beginnen offensichtlich zunehmend zum Problem zu werden. Stichwort: Dermatosen, also krankhafte Hautveränderungen jeglicher Art.

Dabei zeigt sich, dass durch die medizinischen Fortschritte der letzten Zeit viele organische Ursachen aufgeklärt werden konnten, was auch positive Konsequenzen für Diagnose, Therapie, Vorbeugung und Rückfallverhütung bedeutet. Es zeigte sich aber auch, dass individuelle seelische, psychosoziale bzw. sozio-kulturelle Einflussfaktoren einen immer größeren Anteil an Entstehung, Auslösung und vor allem chronischem Verlauf haben (s. u.). Und das heißt: Man muss sich auch den psychosomatischen Aspekten widmen, vermehrt und gezielt, beispielsweise in dem "neuen" Fachgebiet der Psychosomatischen Dermatologie. Sie beschäftigt sich mit Hautkrankheiten, bei denen seelische Ursachen, Folgen oder Begleitumstände einen wesentlichen und therapeutisch bedeutsamen Einfluss haben. Dabei werden die Dermatosen unter einem bio-psycho-sozialen Modell interpretiert, oder kurz und auf Deutsch: ganzheitlich gesehen.

Das war längst überfällig, denn psychische Störungen liegen in der Dermatologie (also jener medizinischen Disziplin, die sich mit den Hautkrankheiten beschäftigt) bei etwa einem Drittel aller(!) Patienten vor. Dazu kommen belastende Einflüsse bei der Krankheitsbewältigung, auch wenn das Hautleiden ursprünglich rein organischen Ursprungs war. Warum? Man kann es sich denken. Keine, vor allem negative Veränderung ist so auffällig und allen Blicken ausgesetzt wie die Haut, selbst wenn man das meiste zu verhüllen versucht. So spielt insbesondere bei chronischen, besonders therapie-resistenten Dermatosen die sich durch nichts bessern wollen, die Krankheitsbewältigung eine dominierende Rolle, vor allem in negativer Hinsicht, eben ein Teufelskreis.

Zu den häufigsten Problemfeldern in der psychosomatischen Dermatologie gehören deshalb psychosomatische Hautkrankheiten (also seelische Störungen, die sich - unverarbeitet - im körperlichen Bereich, hier in der Haut äußern), ferner so genannte artifizielle Hauterkrankungen, psychiatrische Leiden mit Hautbezug, somatoforme und sexuelle Störungen u. a. Dabei unterscheidet man

- Dermatosen mit vor allem seelischen Ursprung (psychosoziale und psychiatrische Störungen),

- Dermatosen mit multifaktorieller Grundlage (mehrschichtig), deren Verlauf seelischen und psychosozialen Einflüssen unterliegt (die früher so genannten psychosomatischen Krankheitsbilder),

- sekundär-psychische Störungen infolge von schweren oder entstellenden Dermatosen, so genannte somato-psychische Krankheitsbilder, oder kurz: die entstellte Haut zieht seelische und psychosoziale Beeinträchtigungen nach sich.

WIE HÄUFIG SIND PROBLEME IN ZUSAMMENHANG VON HAUT UND SEELISCHER STÖRUNG?

Krankheiten sind im Gegensatz zu "harten Daten" beispielsweise aus Technik, Natur u. a. nur schwer konkret zu erfassen. Das gilt für organische Leiden (z. B. Herz-Kreislauf, Magen-Darm, Wirbelsäule und Gelenke), vor allem aber seelische Störungen (Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, Suchtkrankheiten, Demenz usw.). Denn es gehen ja auch viele Betroffene (auf jeden Fall mehr als man denkt) nicht zum Arzt - und damit auch nicht in die Statistik ein. Deshalb sind es überwiegend Schätzdaten oder Hochrechnungen. Und die besagen:

Die Häufigkeit psychischer Störungen liegt beispielsweise in der Praxis eines Allgemeinarztes bei rund einem Drittel aller Patienten, in der dermatologischen (Hautarzt-) Praxis genau so. Im stationären Bereich (Klinikaufenthalt) streuen die Daten allerdings breiter, je nach Spezial-Aufgabe und damit Schwerpunkt-Klientel.

Eines aber scheint doch auffällig: Gegenüber körperlich gesunden Kontroll-Kollektiven sind psychosomatische Störungen bei dermatologischen Patienten etwa drei Mal so häufig anzutreffen. Das ist sogar etwas häufiger als in kardiologisch (Herz-Kreislauf), onkologisch (Krebs) und sogar neurologisch kranken Kollektiven.

In der Allgemeinbevölkerung sollen Haut-Symptome generell ohnehin überraschend häufig sein: Mehr als jeder Zweite geringgradig, etwa jeder Vierte mittelmäßig bis stark. Frauen öfter und stärker ausgeprägt als Männer (was aber auch dadurch entstehen kann, dass Frauen besser auf ihre Gesundheit achten).

Natürlich sind das zumeist keine schwerwiegenden Beeinträchtigungen, außerdem oft alters-abhängig. So nehmen Probleme mit fettiger Haut, Mitesser und Pickel mit dem Alter deutlich ab, während Hautrötung, Kribbeln u. a. eher zunehmen. Auch betreffen die häufigsten Beeinträchtigungen eher kosmetische Aspekte (z. B. Kopfschuppen, Körpergeruch, Akne u. a.). Und natürlich der Juckreiz (wieder vor allem auf der Kopfhaut).

Inwieweit in der Allgemeinheit psychosomatische Aspekte von Bedeutung sind, ist hingegen schwerer zu erfassen. Hier muss man sich vor allem auf die Statistik von Klinik und Ambulanz bzw. Poliklinik verlassen. Und dort heißt es:

In einer dermatologischen Universitäts-Ambulanz finden sich etwa ein Viertel aller behandelten Patienten mit psychosomatischen Haut-Problemen belastet. Hier spielt nebenbei der (psychosomatisch ausgelöste oder zumindest intensivierte) Juckreiz eine ebenfalls nicht geringe Rolle. Große diagnostische und vor allem therapeutische Probleme bieten auch Patienten mit somatoformen Beschwerden und Depressionen.

Auf jeden Fall muss man sich in der ursprünglich "rein organischen" Fachrichtung Dermatologie vermehrt mit seelischen und psychosozialen Problemen beschäftigen, d. h. Ursachen, Auslösern, zu chronischem Verlauf beitragend, rückfallgefährdet - und vor allem mit Alltags-Beeinträchtigungen belastend. Wenn man früher nur vom Gesicht oder gar den Augen als "Spiegel der Seele" sprach, so ist es letztendlich und vor allem am schnellsten und eindrücklichsten auffallend die Haut generell - und die Gesichtshaut im Speziellen. Es gilt also vermehrt darauf zu achten. Und das tun auch die Dermatologen (sowie eine Reihe anderer medizinischer Disziplinen, man denke nur an Internisten, Orthopäden, ja HNO- und sogar Augenärzte u. a.).

EIN LEHRBUCH DER PSYCHOSOMATISCHEN DERMATOLOGIE

Deshalb gibt es immer häufiger entsprechende wissenschaftliche Untersuchungen und interessante Publikationen zu diesem Thema und inzwischen ein Lehrbuch in deutscher Sprache, das seelische und psychosoziale Problemfälle in der Dermatologie erstmals umfassend darstellt, gleichsam eine Brücke zwischen klinischen Befunden und psychischen Störungen. Es ist - erfreulich und leider nicht mehr die Regel - von "nur" zwei Spezialisten verfasst und damit "aus einem Guss". Es handelt sich um Privat-Dozent Dr. Wolfgang Harth von der Klinik für Dermatologie und Phlebologie, Vivantes-Klinikum, Berlin sowie um Prof. Dr. Uwe Gieler vom Zentrum für Psychosomatische Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen.

In ihrer Psychosomatischen Dermatologie werden die wichtigsten Dermatosen unter psychosomatischen Gesichtspunkten zusammengefasst und kurz und treffend erläutert, einschließlich eindrucksvollen Bildmaterials, testpsychologischer Hinweise, psycho-, sozio- und pharmakotherapeutischer Therapieempfehlungen, Präventions-Vorschläge (nicht zuletzt zur Lösung schwieriger Behandlungssituationen, die gibt es gerade in diesem Bereich nicht selten) und neuer ambulanter und stationärer Therapiekonzepte.

Das Buch - man darf es nicht verschweigen - ist Lehrbuch und Bildatlas für Haut- und Allgemeinärzte, wobei auch Kinder- und Nervenärzte, Internisten, Psychologen und eine Reihe weiterer Disziplinen angesprochen werden, die sich mit solchen - meist unglücklichen - Patienten beschäftigen müssen. Es ist also ein Fachbuch. Wer sich allerdings mit Hilfe eines medizinischen Lexikons auch als Laie hier kundig machen will (ein kleines Glossar für einige psychologische und psychiatrische Fachbegriffe ist ebenfalls verfügbar), der hat vor allem einen Vorteil: alles (oder zumindest das meiste) in einem Band. Denn das ist der Vorteil dieses Werkes, während Einzel-Aspekte oder Spezial-Kapitel schon überall zu finden, aber recht mühsam zusammen zu tragen sind. Kurz: Ein empfehlenswertes Buch für die erwähnten Fachbereiche und ein interessantes Angebot für Nicht-Experten, wenn sie sich bewusst sind, dass hier zwar "alles auf einen Blick" (d.h. zwischen zwei Buchdeckeln), aber eben fachlich beschrieben wird.

Da es sich hier aber um eine erweiterte Rezension handelt, bei der bestimmte Themen oder Fragestellungen besonders hervorgehoben werden, folgt eine kurz gefasste Übersicht zu einem der interessantesten Kapitel dieses Werkes, nämlich spezifische Krankheitsbilder wie Dermatosen primär psychischer Genese, multifaktorielle Dermatosen und sekundäre psychische Störungen und Ko-Morbiditäten. Was heißt das im Einzelnen (wobei wir uns überwiegend an die Fachbegriffe zumindest anlehnen müssen):

BIO-PSYCHO-SOZIALE STÖRUNGEN IN DER DERMATOLOGIE

Jeder weiß es aus dem Alltag: Das Leben ist vielschichtig. Und seine Störungen und Krankheiten auch. Während man das früher etwas einseitig (und damit sicher nicht ausreichend) gesehen, eingestuft, diagnostiziert und behandelt hat, versucht man heute der "Breite des Lebens" besser Rechnung zu tragen. Und daher der Begriff "bio-psycho-sozial" (meist zusammengeschrieben und deshalb auf den ersten Blick etwas schwer entzifferbar). Was heißt das? "Bio" steht für die Biologie, dem organischen, körperlichen Teil des gesamten Systems; "psycho" repräsentiert den seelischen Aspekt und "sozial" heißt das Umfeld im weitesten Sinne.

Und so unterteilt auch die Klassifikation bio-psycho-sozialer Störungen in der Dermatologie wie folgt:

1. Dermatosen primär psychischer Genese (also seelische, psychosoziale und psychiatrische Störungen). Beispiele: Artefakte, Trichotillomanie, Dermatozoenwahn, somatoforme Störungen (z. B. Glossodynie), körperdysmorphe Störung (Entstellungs-Syndrom) u. a.

2. Dermatosen mit multifaktorieller Grundlage, deren Verlauf psychischen Einflüssen unterliegen (psychosomatische Krankheitsbilder oder kurz: seelische Störungen, die - unverarbeitet - sich körperlich äußern). Beispiele: Psoriasis, Neurodermitis, Akne, chronische Formen der Urtikaria, Prurigo simplex subacuta, Hyperhidrose u. a.

3. Sekundär psychische Störungen infolge von schweren oder entstellenden Dermatosen (so genannte somato-psychische Krankheitsbilder, d.h. zuerst war das körperliche Leiden und dann die seelischen Folgen). Beispiele: Anpassungsstörung sowie Depression und Angststörung, die den dermatologischen Krankheitsverlauf komplizieren oder gar eine Heilung hinauszögern, wenn nicht verhindern können.

Nachfolgend nun die kurz gefasste Übersicht über die wichtigsten Krankheitsbilder dieser Art.

DERMATOSEN PRIMÄR SEELISCHER URSACHE

Zu den Haut-Krankheiten, die vor allem auf seelische und psychosoziale Ursachen zurück gehen, gehören die oben erwähnten und hier vor allem ein - für die meisten unfassbares - Leiden, nämlich selbst ausgelöst, unterhalten, verstärkt und oft auch noch behandlungs-resistent "gemacht". Es sind die

  • ARTEFAKTE

Artefakte sind das absichtliche Erzeugen oder Vortäuschen körperlicher oder psychischer Symptome an sich selber oder gar anderen (Bezugs-)Personen. In der medizinischen Fachsprache heißen sie artifizielle Störungen (engl.: factitious disorders), also selbstschädigende Handlungen (die aber nicht bis zur Selbsttötung gehen sollen, jedenfalls nicht primär intendiert).

Man unterscheidet

1.) Artefakte im engeren Sinne als unbewusste(!) Selbstverletzung.

2.) Para-Artefakte = Störungen der Impulskontrolle. Das heißt oftmals als Manipulation einer vorbestehenden Dermatose, jedoch als eine Art "halb-bewusste" und deshalb mehr oder weniger zugegebene Selbstverletzung. Und

3.) die Simulation: bewusst vorgetäuschte Verletzungen und Erkrankungen, um bestimmte Vorteile zu erlangen.

Die artifiziellen Störungen sind vor allem als Münchhausen-Syndrom (an sich selber oder gar anderen, z. B. hilflosen Kindern) bekannt geworden, obgleich dieser Begriff eine ganz spezifische Untergruppe meint.

In diesem Zusammenhang soll nebenbei auf verschiedene Kapitel in dieser Serie hingewiesen werden, z. B. "Haut und seelische Störung", "Haar und seelische Störung", "selbstinduzierte Krankheiten" u. ä. Dort auch weiterführende Erläuterungen.

Die Häufigkeit von Artefakt-Krankheiten wird auf 0,05 bis 0,4 % geschätzt, überwiegend Frauen, nämlich 5 bis 8-mal häufiger. Der Beginn liegt meist in der Pubertät, spätestens im frühen Erwachsenenalter.

Bei der reinen Simulation (hier übrigens mehr Männer) finden sich nicht selten Vortäuschungen im Rahmen von Versicherungsbetrug (z. B. zwecks Erstattung einer Reiserücktrittsversicherung), bei Begutachtungen oder Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen.

Rein technisch handelt es sich bei den Artefakten häufig um mechanische Verletzungen, selbst-beigebrachte Infektionen mit Wundheilungsstörungen und toxische (Vergiftungs-)Schädigungen der Haut. Auch das Stauen von Armen oder Beinen, um beispielsweise Blutungen zu erzeugen und die zusätzliche Einnahme von Arzneimitteln, die Blutungen fördern, ist möglich.

Die häufigsten Maßnahmen betreffen in mechanischer Hinsicht Drücken, Reiben, Stauen, Beißen, Schneiden, Stechen, Verstümmelungen u. a. In toxischer Hinsicht sind es Säuren und Laugen, in thermischer Verbrennungen oder Verbrühungen. Und bei selbst-beigebrachten Infektionen Wundheilungsstörungen und Abszesse, Noch komplizierter wird es durch den Missbrauch von Medikamenten wie Heparin (Hautblutungen) u. a.

Das Problem: Das klinische Erscheinungsbild der Artefakte, fachlich auch als Dermatitis factitia bezeichnet, hängt natürlich von der Art der vielfältig möglichen Selbstmanipulationen ab. Prinzipiell ist jedoch alles imitierbar. Deshalb auch der resignative, in Wirklichkeit aber den Arzt sensibilisierende Satz:

"Bei Artefakten im eigentlichen Sinne ist typisch das Untypische".

Viel wichtiger aber ist die Frage: Was steht hinter solch unfassbaren Maßnahmen für eine Persönlichkeitsstruktur, für ein Schicksal?

Was liegt den Artefakten seelisch zugrunde?

Artefakte im engeren Sinne als unbewusste Selbstverletzung deuten oft auf eine schwere gemütsmäßige Störung hin und zwar in früheren Jahren ausgelöst und später re-aktiviert. Sie sind eine so genannte non-verbale Appell-Funktion.

Die Schädigung geschieht meist im Verborgenen, oft in dissoziativen Zuständen (Einzelheiten siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie), ohne dass es dem Patienten anschließend erinnerlich, schon gar nicht emotional nachvollziehbar sein muss. Häufig sind die Patienten selber erstaunt, über sich, ja sogar die Haut-Veränderungen - und schon gar nicht in der Lage, gezielte Hinweise dazu zu geben, auch was frühere Erlebnisse anbelangt. Interessant die Erkenntnis: Während der Erzählung ihrer Krankengeschichte sind sie emotional auffallend wenig beteiligt, so, als ob sie nicht selbst betroffen wären. Selbst Schmerzen werden irgendwie "weggesteckt". Im Gegensatz dazu ist die beteiligte Familie irritiert, ja wütend und oft anklagend, selbst den Ärzten gegenüber.

Dabei steht hinter allem ein doch meist schweres seelisches Krankheitsbild. Am häufigsten sind es frühe Persönlichkeitsstörungen, emotional instabile Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ, ferner narzisstische, histrionische (hysterische), dissoziale oder abhängige Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen u. a. Einzelheiten dazu siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie.

Zwei Drittel geben traumatisierende (seelisch verwundende) Erlebnisse wie sexuelle und körperliche Misshandlungen an. In leichteren Fällen sind es die üblichen Konflikte während Pubertät und Adoleszenz (Heranwachsende) und auch bei Missbrauch von Alkohol, Medikamenten und Rauschdrogen. Und natürlich - siehe oben - als Ko-Morbidität bei Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, bei schweren Depersonalisations-Zuständen (ich bin nicht mehr ich) u. a. Das heißt: da kommt eines zum anderen.

Psychologisch gesehen besteht hier eine enge Beziehung zwischen Selbst-Verletzung und Suizidalität, weshalb man Artefakte auch als "larvierte" (maskierte) Selbstmordhandlungen bezeichnet hat. Aber auch als "Tranquilizer", also als beruhigendes "Medikament" bzw. als entlastender, spannungslösender Akt. Vor der Selbstbeschädigung starker Druck, danach "befreit".

Artefakte: was könnte es sonst noch sein?

Solche artifiziellen Störungen haben also ihren seelisch kranken Hintergrund (s. o.) und der geht bis in frühe Entwicklungsjahre zurück. Es muss aber auch diesbezüglich nichts Ernsthaftes vorgelegen haben und die selbstbeschädigende Handlung ist die Folge einer aktuellen Krankheit, die nichts mit den ursprünglich psychologisch nachvollziehbaren Belastungen zu tun hat. Solche Selbstverletzungen auslösenden Krankheiten sind vor allem schizophrene Psychosen, schizotype und wahnhafte Störungen, affektive Leiden (Depressionen) mit psychotischen Auswirkungen, der kindliche Autismus, der hypochondrische Wahn, der Dermatozoen-Wahn, akute Intoxikationen (Vergiftungen) mit psychotropen Substanzen (meist Rauschdrogen), auch in der Entzugsphase, ja sogar kulturell-religiöse Handlungen, "perverse" sexuelle Eingriffe und suizidale Absichten. Und schließlich sogar rein organische Leiden, die zu solchen Konsequenzen führen. Beispiele: Schläfenlappen-Epilepsie, Oligophrenie ("Schwachsinn"), Demenzen oder andere hirnorganische Psycho-Syndrome, autistische Störungen (z. B. das Rett-Syndrom) u. a.

Einzelheiten zu einer Reihe dieser Leiden siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie, wo auch zur Therapie Stellung genommen wird (wie übrigens in diesem Lehrbuch auch: gezielt, kurz, fundiert).

  • PARA-ARTEFAKTE

Bei den Para-Artefakten liegt eine Störung der Impulskontrolle vor, konkret: Die Betreffenden können das Manipulieren (an sich) nicht mehr kontrollieren, vor allem nicht mehr lassen. Dadurch wird eine im Grunde "minimale Primär-Effloreszenz exzessiv manipuliert", oder auf Deutsch: eine kleine Hautunreinheit zu einer auffälligen ("unklaren") Hautkrankheit gedrückt, gerieben, gestaut, gestochen usw. Dabei geht es nicht nur um Haut, sondern auch Schleimhaut und Haut-Anhangsgebilde wie Haar und Nägel. Nachfolgend eine Übersicht in Stichworten; zuerst die Definition:

Para-Artefakte sind die wiederholte Unfähigkeit, entsprechenden Impulsen zu widerstehen. Zuerst zunehmendes Spannungsgefühl, dann Erleichterung durch die Handlung mit Entspannung, ja Befriedigung oder gar Vergnügen. Keine ursächliche Beziehung zu anderen körperlichen oder seelischen Erkrankungen, aber selber ein eindeutiges psychisches Leiden.

- Skin-picking-Syndrom: Das Skin-picking-Syndrom wurde früher als neurotische Exkoriation bezeichnet (Exkoriation = tiefere Abschürfungen mit Austritt von Gewebswasser und punktförmigen Blutungen). Dazu gibt es noch eine Reihe eher spezifische Fachbegriffe, die das gleiche bezeichnen, hier aber zu weit führen würden. Am besten trifft für den Laien die Bezeichnung: "nervöse Kratz-Artefakte". Betroffen sind überwiegend Gesicht, Arme und Unterschenkel, gelegentlich auch der ganze Körper. Zu sehen sind alle Verlaufsformen, von der ersten Schürfung bis zur abheilenden Narbe mit Rest-Pigmentierung (dunkle Stellen).

In seelischer Hinsicht handelt es sich um die schon mehrfach erwähnte Störung der Impulskontrolle mit wiederholter Unfähigkeit, diesen Kratz-Impulsen zu wiederstehen. Das Ganze dient der Spannungs-Abfuhr in Konfliktsituationen über die Haut. Daneben finden sich nicht selten depressive und Angststörungen. Einige Experten sprechen auch von einem Orgasmus-Äquivalent, d. h. einem durchaus lustvollem Exprimieren von Körpermaterial, das trotz oder wegen des Schmerzreizes wie beim Orgasmus beendet wird.

- Eine Sonderform ist die Acne excoriée. Sie findet sich nur im Gesicht, und zwar ohne entsprechende Auslöser, d. h. bei keiner oder nur minimalen Akne, die dann aber durch ausgedehntes Quetschen und Drücken, meist mit den Fingernägeln, ausgiebig manipuliert wird. Das Endergebnis sieht sehr unschön aus, die "Tat" an sich führt aber ebenfalls zur Spannungslösung (s. o.).

- Die Morsicatio buccarum sind an sich harmlose strangförmige Mundschleimhautverdickungen und auch Schwielen im Bereich des Zahnschlusses. Sie können durch unbewusstes ständiges Einsaugen und Kauen der Mundschleimhaut entstehen, was dann auch zur Störung der Impulskontrolle zählt. Manchmal sind es auch Zwangsstörungen mit Schwerpunkt im Mundbereich. Bisweilen aber auch die nicht-seelisch bedingte Schleimhautverdickung durch Zahnprothesen.

- Die Cheilitis factitia ist ein zwanghaftes Lecken an und um die Lippen herum mit entsprechender Schädigung der Haut durch mechanische Belastung und Speichel-Einfluss (Leck-Ekzem). Dabei findet sich häufig noch ein zusätzlich schädigendes "Lippen-Kauen".

- Die Pseudo-knuckle-Pads entstehen durch Reiben, Massieren, Kauen, Saugen u. a., meist im Bereich der Fingerknöchel. Dadurch kommt es zu verdickten polsterartig rauen, leicht schuppenden Haut-Veränderungen. "Pseudo-" heißen sie deshalb, weil es auch "echte Hautveränderungen dieser Art geben kann, die nicht auf solche Manipulationen zurückgehen (die oftmals bei geistig retardierten Menschen auftreten).

- Die Onychophagie ist das Nagelbeißen oder Nägelkauen mit Verschlucken der Nagel-Anteile. Auch Daumenlutschen ist damit häufig verbunden. Die Nägel reagieren oft entzündlich, wenn nicht gar bakteriell verstärkt, vor allem mit Blutungen und Fehlbildungen. Ursache sind ungelöste Konflikte oder Anspannungs-Situationen, meist in Kindheit oder Jugend. Das Ganze ist häufig, man spricht von fast jedem zweiten Heranwachsenden, zumindest gelegentlich.

- Die Onychotillomanie ist die ständige Manipulation an den Haut-Anhangsgebilden wie Nagel oder Nagelumfeld. Das kann zu erheblichen (selbst-induzierten) Nagel-Erkrankungen führen. Ähnliches gilt für das zu kurze Abschneiden der Nägel (Fachbegriff: Onychotemnomanie).

- Bei der Trichotillomanie sind - bei etwa 3,5 % insgesamt - vor allem Frauen betroffen, meist in jüngeren Lebensjahren. Das wiederholte Ausreißen des eigenen Haares führt zu deutlichem Haarausfall, meist in einem dreiphasigen Zonenaufbau:

1. lange Haare (regelrechte, nicht betroffene, normale Haare/Haarschnitt),

2. fehlende Haare (frische Alopezie, krankhafte Haarlosigkeit) durch das Ausreißen und

3. Nachwachsen der Haare, aber kürzer und unregelmäßiger als das normale Haarkleid. In den haarlosen Zonen finden sich auch oft blutende Stellen, vor allem im Bereich der frischen Zupfherde.

Der 3-zonige Aufbau ist beweisend für Trichotillomanie.

In der frühen Kindheit ist das noch kein Problem und hört meist von selbst wieder auf. Geht es aber über längere Zeit und bis in das Jugend- oder gar Erwachsenenalter hinein, wird es zum ernsten Krankheitsbild. Wiederum handelt es sich um eine Störung der Impulskontrolle, d. h: sich zunehmend aufbauendes Spannungsgefühl Herauszwirbeln der Haare Entlastung, Entspannung, Befriedigung oder gar Vergnügen. Auch vermehrte Ängstlichkeit, Stress in Belastungssituationen u. ä. können entsprechende Ursachen sein.

Differentialdiagnostisch abzuklären ist noch die Frage: Zwangsstörung mit Trichotillomanie (wobei die wiederholten Handlungen hier auf Grund bestimmter Regeln zwanghaft befolgt werden müssen) sowie stereotypes Haare-Ausreißen im Rahmen konkreter seelischer Störungen mit Haut-Bezug.

- Die Trichotemnomanie ist die seltene Form jener Haarschädigung, bei der die Haare vorsätzlich selbst und rigoros abgeschnitten werden.

- Die Trichoteiromanie ist die physikalische Schädigung der Haare durch Scheuern und Kratzen mit einer Art Pseudo-Alopezie. Meistens sind weißliche Haarspitzen mit ausgefransten Haar-Enden, im Mikroskop pinselartige Haar-Abbrüche zu sehen.

In allen Fällen dieser manipulativen Haar-Beeinträchtigungen handelt es sich um den Versuch, einen sonst nicht zu bewältigbaren Spannungszustand durch Haar-Manipulation abzubauen. Bei schwer Betroffenen liegen allerdings entsprechende psychische Krankheiten vor, oft eine Borderline-Persönlichkeitsstörung.

SIMULATIONEN

Simulationen sind ein absichtliches und bewusstes Erzeugen und Hervorrufen von körperlichen oder psychischen Symptomen. Auch hier stehen mechanische Verletzungen an erster Stelle, nämlich Drücken, Reiben, Beißen, Schneiden, Stechen, Verbrennen oder selbst beigebrachte Infektionen mit Wundheilungsstörungen, Abszessen, Verbrühungen, Verstümmelungen, Verätzungen und weiteren toxischen Schädigungen der Haut. Dazu Abstauen und Erzeugen von Hautblutungen, die Einnahme entsprechender Pharmaka, um eine verstärkte Blutungsneigung zu provozieren u. a.

Schwerpunkte im diagnostischen Bereich sind - wie erwähnt - Begutachtungen von Berufskrankheiten und Berentungsverfahren, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen u. a. Bisweilen geht es aber auch um einen so genannten sekundären Krankheitsgewinn durch vermehrte Zuwendung und Versorgung in der Familie. Nicht zu unterschätzen sind auch die Vermeidung von Strafverfolgung oder Militärdienst sowie das Erlangen von Betäubungsmitteln und finanziellen Vorteilen (höhere Rente, Krankenhaustagegeld, Auszahlung von Reiserücktrittsversicherungen usw.).

Auf jeden Fall wird in diesen Situationen der Arzt absichtlich ausgetrickst, unzureichend oder gar nicht informiert, betrogen und getäuscht.

  • SONDERFORMEN

Als Sonderformen der Artefakte gelten das Gardner-Diamond-Syndrom sowie das Münchhausen-Syndrom.

- Das Gardner-Diamond-Syndrom tritt vorwiegend bei jungen Frauen auf, die über schubhafte schmerzhafte blaue Flecken und zudem vielfältige körperliche Beschwerden klagen, dabei aber auch eine charakteristische psychische Symptomatik zeigen. Einzelheiten zur Dermatologie siehe die entsprechende Fachliteratur. In seelischer Hinsicht findet sich jedenfalls häufig eine Neigung zu Depressivität, Ängstlichkeit, Aggressionshemmung, ja zu Masochismus und Konversionsstörungen (d. h. Seelisches unverarbeitet äußert sich körperlich).

- Das Münchhausen-Syndrom als Teilgebiet ernster selbst induzierter Krankheiten wird ausführlich in einem spezifischen Kapitel dieser Serie behandelt.

  • DERMATOSEN DURCH WAHNERKRANKUNGEN UND HALLUZINATIONEN

Besonders Patienten mit Wahnvorstellungen suchen gerne dermatologische Praxen auf. Sie klagen über unklare körperliche Beschwerden, sind schwer oder gar nicht von der Realität überzeugbar und fallen durch eine Reihe von seelisch krankhaften Zusatz-Symptomen auf, die die richtige Diagnose zwar oft schnell ermöglichen - aber keine gezielte Therapie. Bei ihrem Wahn handelt es sich um eine "eingekapselte Vorstellung", die man heute mit der Diagnose der wahnhaften Störung in der Dermatologie charakterisiert: unvergleichlich hoher subjektiver Gewissheitsgrad des Patienten, Unkorrigierbarkeit der Wahnvorstellungen und ein unmöglicher Wahn-Inhalt.

Die wichtigsten Krankheitsbilder sind der Dermatozoenwahn (zoenästhetischer Wahn, Leib-Halluzinationen), der Eigengeruchswahn (Geruchshalluzinationen), der hypochondrische Wahn (Syphilis-Wahn, Aids-Wahn) sowie der körperdysmorphe Wahn (wahnhafte Dysmorphophobie).

Wahnhafte Störungen sind zwar insgesamt sehr selten, sie kommen höchstens auf 0,05 % in der Allgemeinbevölkerung. Sie können aber nicht nur den Betroffenen, sondern auch sein näheres oder gar weiteres Umfeld erheblich belasten. Einzelheiten siehe das spezielle Kapitel über die wahnhaften Störungen, insbesondere was die Frage anbelangt: Schizophrenie, schizoaffektive Störung, wahnhafte Depression oder reine wahnhafte Störung?

Nachfolgend eine kurze Übersicht, wobei einige Kapitel nur titel-mäßig aufgeführt werden, weil bereits in dieser Serie ausführliche Beiträge nachzulesen sind. Im Einzelnen:

- Dermatozoenwahn

Siehe das ausführliche Kapitel über den Dermatozoenwahn in dieser Serie.

- Eigengeruchswahn (Bromhidrose - Chromhidrose)

Der Eigengeruchswahn wird zwar in der Fachliteratur gerne und oft erörtert, ist aber in der täglichen Praxis doch recht selten.

Die eigentliche Bromhidrose ist eine subjektiv(!) unangenehme Geruchsentwicklung des normalen Körperschweißes. Die Chromhidrose ist sogar die nicht reale Sekretion farbigen Schweißes.

- Hypochondrischer Wahn

Bei hypochondrischem Wahn findet sich eine anhaltende und unkorrigierbare wahnhafte Beschäftigung mit der Angst oder Überzeugung, an einer ernsthaften körperlichen Krankheit zu leiden. Einzelheiten dazu siehe das Kapitel über die Hypochondrie.

- Körperdysmorpher Wahn

Beim körperdysmorphen Wahn oder der Dysmorphophobie findet sich die übermäßige Beschäftigung mit einem unkorrigierbaren eingebildeten Mangel oder einer Entstellung des äußeren Erscheinungsbildes. Das kann schließlich wahnhafte Ausmaße annehmen, mit allen Folgen. Einzelheiten sie das entsprechende Kapitel in dieser Serie.

EIN INTERESSANTES FACHGEBIET - EIN INTERESSANTES BUCH

Die Dermatologie ist - wie nebenbei die Psychiatrie auch - nicht gerade jenes Fachgebiet, das sich besonderer Wertschätzung erfreut. Diese Aussage mag zwar auf Widerspruch stoßen, hat aber ihre Gründe, die wohl überwiegend mit den spezifischen Störungen und ihren (meist psychosozialen) Folgen zu tun hat. Und weil dies in letzter Zeit eher mehr geworden sein dürfte, können beide medizinischen Disziplinen auf verstärktes Interesse zählen - notgedrungen. Und wenn sich beide Fachbereiche auch noch überschneiden, wie das in der Psychosomatischen Dermatologie der Fall ist, dann wird es noch interessanter vom Thema, noch effektiver von Diagnose und Differentialdiagnose (was könnte es sonst noch sein oder gar: wenn ein Leiden zum anderen kommt), vor allem noch wirkungsvoller von den therapeutischen Möglichkeiten her.

Ein Thema, das "unter die Haut" geht, heißt es im Klappentext des Buches im heutigen PR-Jargon, was aber in diesem Falle voll und ganz zutrifft (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).