H.-J. Möller (Hrsg.):
THERAPIE PSYCHISCHER ERKRANKUNGEN
Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 2006. 1.329 S.,159 Abb., € 159,95
ISBN 3-13-117663-6
Ein schwergewichtiges Standard-Werk feiert seine 3. Auflage, nach 1993 und 2000 jetzt 2006 vollständig überarbeitet. Die Therapie psychischer Erkrankungen, herausgegeben von Hans-Jürgen Möller, über drei Dutzend Themen, bearbeitet von mehr als 100 Psychiatern aus dem gesamten deutschsprachigen Bereich. Zielgruppe sind vor allem Nervenärzte, Psychiater, Neurologen, forensisch, psychopharmakologisch, psychotherapeutisch tätige Ärzte und Psychologen und alle anderen interessierten Spezialisten jener Fachgruppen, die sich mit der kranken Seele beschäftigen. Denn diese hat Konjunktur, das hat sich inzwischen herumgesprochen. Die Zukunft gehört der Psychiatrie, einer einstmals "kleinen, misslichen Disziplin", die eine große Aufgabe der Zukunft schultern muss: die seelische und psychosoziale Gesundheit unserer Bevölkerung. Und dies nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, wenn auch bisher mit Schwerpunkt in den so genannten Zivilisationsstaaten, dann aber auch ohne Ausnahme.
Einzelheiten zu diesem gewaltigen Werk, man muss es schon als solches bezeichnen, würden hier zu weit führen, zumal dieser Sammelband schon mehrfach in dieser Serie besprochen wurde. Ein besonderes Augenmerk in der Neuauflage gilt dem empirischen Wirksamkeits- und Verträglichkeitsnachweis und damit der evidenz-gestützten Medizin mit fünf Kriterien (von A bis D bzw. kein Evidenzgrad). Das ist zwar lobenswert, lässt sich aber noch nicht durchgehend praktizieren, wie der Herausgeber einräumen musste. Erste Ansätze sind aber wenigstens gemacht.
Ansonsten fehlt es in diesem "jungen Klassiker" an nichts und man stößt sogar mit einigem Schmunzeln auf das Kapitel Nummer 30, nämlich die Behandlung seltener und schwer klassifizierbarer Syndrome. D. h. das Schmunzeln sollte eigentlich eher interessierter und konstruktiver Neugier weichen, denn im Rahmen der ja stürmischen Globalisierung unserer immer kleiner werdenden Welt bleiben auch nicht die Medizin und die expandierende Psychiatrie verschont. Nachfolgend deshalb eine Kurzfassung dieses Kapitels, zusammengefasst von A. Marneros und weiteren Autoren.
SELTENE UND SCHWER KLASSIFIZIERBARE PSYCHISCHE SYNDROME
Der Titel "seltene psychopathologische Syndrome" stellt erst einmal fest, dass diese Symptom-Konstellationen bestimmter Krankheitszeichen bisher selten registriert, beschrieben und damit auch diagnostisch und klassifikatorisch eingeordnet werden konnten. Ob sie wirklich selten sind, ist eine andere Frage. Auf jeden Fall weiß man nicht genügend darüber. Das könnte sich aber ändern, wie die Entwicklung mancher Krankheitsbilder gezeigt hat, die früher Raritäten waren und heute zum gängigen Alltag gehören.
Außerdem gibt es auch psychopathologische Phänomene im Rahmen anderer medizinischer Disziplinen, z. B. der Neurologie. Dazu gehört beispielsweise das Syndrom der lilliputanischen Halluzinose bei bestimmten Schädigungen der Sehbahnen und -zentren oder der musikalischen Halluzinose beim Akustikus-Neurinom, also einer Nervengeschwulst des Hör-Nerven.
Hier sollen erst einmal eindeutig seelische Störungen kurz erörtert werden wie das Tourette-Syndrom, der Dermatozoenwahn, das Ganser-Syndrom, das de Clérambault-, Capgras-, Cotard-, und Couvades-Syndrom. Aufmerksame Leser merken übrigens, dass eine Reihe dieser Phänomene (einschließlich der neurologischen) in dieser Serie bereits ausführlich beschrieben wurden. Im Einzelnen:
- Tourette-Syndrom
Das Tourette-Syndrom wurde schon vor fast 200 Jahren erwähnt, aber erst 1885 exakt von dem französischen Psychiater Dr. G. Gilles de la Tourette beschrieben. Es ist eine Kombination aus motorischen und vokalen Tics (Bewegung und Lautäußerungen), meist in Form der Koprolalie (einer Art Fäkalien-Sprache). Bedeutungsähnliche Bezeichnungen sind deshalb auch koprolalische Neurose, Tic-Erkrankung, tic convulsif, koprolalische Tic-Erkrankungen oder maladie des tics (impulsifs oder convulsifs). Wichtig ist auf jeden Fall die Kombination von Bewegungs- und Sprach-Tics. Zwischen den ersten Verwunderungen oder gar "abscheu-erregenden" Symptomen und dem vollständigen Beschwerdebild können viele Monate oder einige Jahre, wenn nicht Jahrzehnte liegen. Das erschwert die Diagnose. Es beginnt aber auf jeden Fall vor dem 18. Lebensjahr (gelegentlich aber auch später) und tritt schließlich viele Male am Tag auf, fast jeden Tag, ohne Remission (Rückbildung oder Genesung) - und mit viel Ärger für alle (zumindest anfangs ahnungslosen) Betroffenen (Patient, Angehörige, Freunde, Nachbarn, Mitschüler u. a.).
Meist beginnt es im Gesichtsbereich mit Herausstrecken der Zunge, Wiederkäuen, Schnüffeln, Räuspern, Stottern und Hüpfen auf einem Fuß. Die vokalen Tics rekrutieren sich in der Regel aus Bellen, Grunzen, Schreien, Jaulen, Schnarchen.
Schon vor der eindeutigen Diagnose finden sich häufig motorische Überaktivität in der Kindheit (Bewegungsunruhe), abnorme EEG-Befunde (Elektroenzephalographie, d. h. Messung der Hirnströme), einzelne leichtere neurologische Symptome und auch testpsychologische Befunde, die auf einen organischen Hintergrund hinweisen.
Gerade beim Tourette-Syndrom scheint die Unterordnung unter das Kapitel "seltene" seelische Syndrome aber fragwürdig. Die exakte Häufigkeit ist zwar nicht bekannt (man schätzt 0,5 pro 1.000 Einwohner), wird aber wohl kräftig unterschätzt. Jungen sind auf jeden Fall 2- bis 3-mal öfter betroffen als Mädchen. Das Leiden wird vererbt. Es tritt in allen Kulturen und Rassen auf (dabei seltener bei schwarzen US-Amerikanern und häufiger bei osteuropäischen Askenasi-Juden).
Die Erkrankung dauert in der Regel das ganze Leben, auch wenn ein wellenförmiger Verlauf mitunter zu enttäuschter Hoffnung Anlass gibt. Neben den bekannten - negative Aufmerksamkeit provozierenden Symptomen - irritieren nicht selten noch Zwangsgedanken, Zwangshandlungen, "nervende" Überaktivität, Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität sowie Depressivität - ein hartes Los.
Die Therapie ist schwierig. Allein die Vielzahl der empfohlenen Behandlungsmethoden zeigt die Ratlosigkeit, auch der Experten. Psychotherapie, ob psychoanalytisch oder verhaltenstherapeutisch, ob Hypnose oder was auch immer, bringt wenig, wird aber trotzdem empfohlen. Die medikamentöse Behandlung ist aber auch nicht viel erfolgreicher, auch wenn man bei diesem Leiden ein Ungleichgewicht im dompamin-ergen System annimmt, was ganz konkrete Arzneimittel ins Gespräch bringt. Einzelheiten dazu siehe die Fachliteratur (z. B. im erwähnten Sammelband Therapie psychischer Erkrankungen - s. o.) oder in dieser Serie mit zwei Beiträgen zum Tourette-Syndrom.
Am wichtigsten ist wahrscheinlich die Stützung des sozialen Umfelds und damit des Patienten selber. Dazu gehört im Übrigen die Gruppentherapie mit Patienten gleichen Leidens, auch wenn es wohl nur selten möglich sein wird (z. B. Großstädte). Wichtig ist auch die Behandlung der Begleit-Symptomatik, vor allem der Zwänge und der Depressivität, was sich in der Regel noch am ehesten erfolgreich anlässt. Und wichtig ist die erwähnte Stützung der leidgeprüften Angehörigen (man muss sich das Beschwerdebild einmal vorstellen, insbesondere in der Öffentlichkeit, auf die ja auch Patient und Angehörige ein Recht haben, z. B. Einkaufen, Spazieren-Gehen, Besuch von Kino, Ausstellungen, Vorträgen usw.).
- Dermatozoenwahn
Über den Dermatozoenwahn siehe das ausführliche Kapitel in dieser Serie. Das Syndrom wurde 1938 erstmals als präseniler Dermatozoenwahn beschrieben, später auch als chronische taktile Halluzinose oder als Ungezieferwahn bezeichnet.
Die Betroffenen sind auf jeden Fall der unkorrigierbaren(!) Überzeugung, dass sie auf ihrer Haut Tierchen, z. B. Würmchen oder Ungeziefer ertragen müssen, gelegentlich auch Parasiten im Darm (dann spricht man eher von Enterozoen-Wahn), rund um den After oder in den Genitalien.
Die Wissenschaftlicher diskutieren die Frage: organisch (also biologischer Hintergrund), psychogen (rein seelisch ausgelöst) oder endogen (alter Begriff für eine zentral-nervöse, d. h. letztlich Gehirn-Ursache der Seelenstörung). Auch scheiden sich die Geister bei der Frage: Wahn-Syndrom oder Halluzinose oder vielleicht sogar eine zumindest teilweise illusionäre Missdeutung (also krankhafte Verkennung von durchaus vorhandenen Erscheinungen oder Belastungen). Einen Einfluss auf Diagnose oder Therapie haben diese wissenschaftlichen Dispute allerdings nicht.
Glücklicherweise ist der Dermatozoenwahn selten - scheinbar, wenn man die stationären Aufnahmen in einer (Fach-)Klinik heranzieht (0,5 pro 1.000 Aufnahmen). Doch das ist ein wissenschaftlicher Irrtum. Denn die meisten Patienten wenden sich wahrscheinlich nicht an die dafür zuständige Institution, nämlich die Psychiatrie, sind sie doch in ihren Augen nicht seelisch krank, sondern haben ein hartnäckiges und zermürbendes körperliches Leiden. Also findet man sie vor allem in Hygiene-Instituten, in dermatologischen Kliniken und Ambulanzen und bei den Gesundheitsbehörden, wo sie ihre Klagen nachhaltig, unbeirrbar und vor allem die Institutionen wechselnd vortragen.
Frauen erkranken häufiger als Männer. Dabei ist der früher angenommene Alters-Schwerpunkt nicht mehr zu halten. Ein Dermatozoenwahn kann in jedem Alter auftreten, auch wenn er sich vorwiegend in den mittleren und höheren Lebensjahren äußert.
Die Ursachen sind umstritten. Eine organische Komponente ist nicht auszuschießen, wahrscheinlich vor allem arteriosklerotischer Natur. Mitunter kommen auch endogene Psychosen als krankhafte Grundlage vor (z. B. endogene Depression oder Schizophrenie), bisweilen auch rein psychogene (seelische) Auslöser. Letzteres vor allem bei der so genannten symbiotischen Psychose, bei der der Kranke mit einer echten Psychose den anderen (z. B. seelisch abhängigen Partner) mit seinen Wahn-Befürchtungen "ansteckt". Ähnliches gilt auch für Menschen in sozialer Isolation.
Zur Behandlung siehe wieder die Fachliteratur bzw. das entsprechende Kapitel in dem obigen Sammelband (sowie die Hinweise in dieser Serie). Dabei geht man vor allem auf die arteriosklerotisch bedingte Mangeldurchblutung des Gehirns ein und nutzt darüber hinaus auch antipsychotische Psychopharmaka, wie bei den übrigen Psychosen (Geisteskrankheiten). Die Notwendigkeit einer gezielten und nicht zuletzt medikamentösen Therapie eines Dermatozoenwahns sollte übrigens nicht unterschätzt werden. Die Betroffenen sind überaus gequält, haben einen enormen Leidensdruck und sind deshalb auch hochgradig suizid-gefährdet.
- Ganser-Syndrom
Auch das Ganser-Syndrom nach dem Psychiater Dr. S. J. M. Ganser benannt, wird in dieser Serie ausführlich behandelt. Einzelheiten also siehe das spezielle Kapitel. Dieses Phänomen des Vorbei-Redens und des Daneben-Redens wurde schon vor über 100 Jahren erstmals beschrieben, und zwar bei Strafgefangenen.
Später wurde es auch noch durch so genannte Vorbei-Handlungen erweitert und mit weiteren psychopathologischen Symptomen konkretisiert. Dazu gehört der Zustand einer apathischen Indifferenz (teilnahmslosen Gleichgültigkeit) und ängstlichen Ratlosigkeit. Viele Patienten sind auch zu Ort und Zeit desorientiert und später ohne Erinnerung an das Geschehen.
Früher wurden auch pseudo-neurologische Symptome angegeben, wie man sie aus den damaligen hysterischen Zuständen kannte (z. B. Geh- und Stehstörungen, Empfindungsstörungen, Halbseitenlähmungen u. a.). Allerdings entsprechen sie nicht den neurologischen Verteilungsmustern realer Erkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems (Gehirn und über den ganzen Körper verteilte Nervenbahnen). Auch wird von Halluzinationen (Sinnestäuschungen), vor allem Seh-Trugwahrnehmungen berichtet, die aber auch nicht mit echten Halluzinationen vergleichbar sind.
Ursache und Einteilung sind umstritten. Es kann sich sowohl um rein hysterische Phänomene handeln als auch im Rahmen von schizophrenen oder organischen Psychosen auftreten. Auch unspezifische dissoziative Störungen werden diskutiert, also psychosomatisch interpretierbare Phänomene (unverarbeitete seelische Probleme äußern sich körperlich, aber ohne nachweisbaren Grund).
Die Häufigkeit des Ganser-Syndroms ist nicht bekannt, scheint aber in den letzten Jahrzehnten seltener geworden zu sein.
Die Behandlung hängt von der Grund-Erkrankung ab, sofern man sie zu fassen bekommt. Bei Psychosen sind es die neuroleptisch wirkenden Psychopharmaka. Bei Unruhe, Ängstlichkeit und Selbst- oder gar Fremd-Gefährdung können angstlösende Tranquilizer oder Neuroleptika notwendig werden. Insgesamt aber dauern diese Phänomene nicht so lange und sind meist nicht so dramatisch, dass sich eine längerfristige Behandlung aufdrängt.
- Capgras-Syndrom
Das Capgras-Syndrom, benannt nach dem Nervenarzt Dr. J. Capras, ist ein seltenes Wahn-Phänomen. Einzelheiten siehe auch das Kapitel über die wahnhaften Störungen in dieser Serie.
Konkret ist beim Capgras-Syndrom der Betroffene der wahnhaften Überzeugung, dass eine Person, die in der Regel in enger Beziehung zu ihm steht, mit einer anderen Person, die genauso aussieht, vertauscht wurde. Oder kurz: Eine Doppelgänger-Angst.
Beschrieben wurde dieses Krankheitsbild vor rund 100 Jahren, damals französisch ausgedrückt als "illusion des sosies" (Sosias war in der griechischen Mythologie der Diener von Amphitryon, dessen Gestalt der Gott Merkur annahm, was Sosias in nachvollziehbare Ängste stürzte).
Das Capgras-Syndrom ist selten. Es kann sowohl bei organischen Störungen (z. B. nach Kopfunfall) als auch bei schizophrenen Psychosen oder wahnhaften Depressionen auftreten.
Die Therapie besteht in der Behandlung der Grunderkrankung, in der Regel also durch antipsychotische Neuroleptika bzw. Antidepressiva oder ggf. sogar aus einer Kombination von beiden.
- Cotard-Syndrom
Auch das Cotard-Syndrom, benannt nach dem französischen Nervenarzt Dr. J. C. Cotard (damals als délire de négation benannt), ist ein seltenes psychopathologische Phänomen. Dabei entwickelt der Betroffene schwerwiegende nihilistische Ideen (vom lat.: nihil = nichts), die bis zur Negation (Verneinung) der eigenen Existenz oder der Existenz der Außenwelt reichen (nihilistischer Wahn).
Konkret heißt das, dass der Patient der (wahnhaften) Überzeugung ist, dass er seine Kräfte, seinen Verstand, seine Gefühle oder bestimmte Organe (vorwiegend Magen, Darm und Gehirn) verloren hat. Die schwerste Form enthält die Verneinung der eigenen Existenz oder der ganzen Welt (s. o.).
Das Cotard-Syndrom kann bei (früher endogen genannten) depressiven Störungen sowie bei organischen und schizophrenen Psychosen auftreten. Besonders häufig ist es wohl bei den Involutionsdepressionen im Rückbildungsalter (siehe das entsprechende Kapitel über "Depressionen einst und heute" in dieser Serie) im Rückbildungsalter. Und bei organischen depressiven Syndromen durch eine körperliche Grundkrankheit mit depressivem Leidensbild. Letzteres ist auch heute noch am ehesten zu finden, wenngleich trotz allem insgesamt selten (oder kaum einem Arzt vorgetragen und damit statistisch verwertbar).
Die Therapie richtet sich - wie bei den meisten dieser Phänomene - nach dem Grundleiden. In der Regel sind es antipsychotisch wirkende Neuroleptika, aber auch Antidepressiva bei depressivem Schwerpunkt. Eine Elektrokrampfbehandlung (früher Elektroschock, heute Durchflutungstherapie) scheint ebenfalls hilfreich, vor allem bei organischen und damit chronisch verlaufenden Leidensbildern. Denn diese sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Die Suizidgefahr ist nicht gering, auch wenn sich manche Betroffene bereits schon für tot halten.
- Couvades-Syndrom
Das Couvades-Syndrom (vom französischen couvade = "Männerkindbett"; die symbolische Teilnahme am Gebären eines eigenen Kindes) ist zwar interessant, vielleicht sogar nicht einmal so selten, aber glücklicherweise nur von kurzer Dauer und in der Regel ohne ernste Konsequenzen. Es betrifft Ehemänner oder Partner von schwangeren Frauen, die selber komplett oder zumindest teilweise die Zeichen einer Schwangerschaft entwickeln (Fachbegriff: Pseudocyisis).
Die Häufigkeit, besonders in milderer Ausprägung, ist nicht bekannt. Manche Experten mutmaßen, es könne eher mehr als weniger werden, gemäß einem gesellschaftlichen Trend, den auch die Medien mitzutragen scheinen.
Auf jeden Fall verschwindet das Couvades-Syndrom in der Regel mit dem Ende der Gravidität der echten Schwangeren. Und natürlich kann man im Falle eines solchen Phänomens auch nicht nur lästern oder wenigstens schmunzeln, denn die Betroffenen sind durchaus verunsichert, ratlos und von einer Reihe von Befürchtungen gequält, die zwar nicht sehr einleuchtend klingen, aber trotzdem für zusätzliche Unruhe sorgen (was vor allem auch eine Schwangere nicht brauchen kann).
Also ist das wichtigste Instrument eine rasche und intensive Aufklärung des Ehemanns. Danach pflegen sich die Symptome in der Regel zurückzubilden um - wie erwähnt - spätestens nach der Geburt zu verschwinden. Bisweilen kann auch eine medikamentöse Angstlösung durch niedrig-dosierter Tranquilizer (Beruhigungsmittel) sinnvoll sein.
- Othello-Syndrom
Othello ist in der Tragödie von William Shakespeare der "Mohr von Venedig", ein dunkelhäutiger General, den durch geschickte Intrigen das "Gift des Misstrauens" gegenüber seiner treuen und geliebten Frau Desdemona eingeflößt wird - bis zu ihrem Tod durch Othellos Hand. Soweit geht es beim üblichen Othello-Syndrom, dem Eifersuchtswahn, in der Regel nicht. Es ist trotzdem "Fegfeuer" oder "Hölle" für die Beteiligten. Denn der Eifersuchtswahn gehört zu den so genannten klinisch relevanten Wahnsyndromen, also jenen wahnhaften Störungen, die im Alltag eine bedeutende Rolle spielen, und zwar sowohl nach Zahl als auch dramatischer Intensität. Einzelheiten siehe das spezielle Kapitel über die wahnhaften Störungen und dort insbesondere den Eifersuchtswahn in dieser Serie.
Natürlich sind eindeutige Eifersuchts-Wahnsyndrome meist durch hirn-organische Störungen oder endogene Psychosen (biologisch fundierte Geisteskrankheiten) ausgelöst. Außerhalb dieser Ursache sind sie selten. Früher scheint dies anders gewesen zu sein, nicht zuletzt durch die in bestimmten Epochen herrschenden gesellschaftlichen Ansichten, Moden, Gewohnheiten und Zwänge.
Wichtig ist auf jeden Fall die Erkenntnis, dass Menschen, die an einem isolierten Eifersuchtswahn leiden, in der Regel in ihren übrigen sozialen Aktivitäten unauffällig bleiben. Die Partnerschaft ist aber schwer beeinträchtigt und oft nicht mehr zu retten, es sei denn, der Patient lässt sich nicht zuletzt medikamentös behandeln (in der Regel Psychopharmaka vom Typ der antipsychotisch wirkenden Neuroleptika).
Juristisch bzw. forensisch kann der Eifersuchtswahn in Form von Stalking Bedeutung erlangen, d. h. dem wiederholten Verfolgen und Belästigen, wenn nicht gar Terrorisieren einer Person (Einzelheiten siehe die verschiedenen Kapitel über Stalking in dieser Serie).
- de Clérambault-Syndrom
Prof. Dr. G. G. de Clérambault war ein bedeutender französischer Psychiater mit vielfältigen, auch nicht-medizinischen Interessen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der vor allem über halluzinatorische Psychosen, Autismus und nicht zuletzt die Erotomanie forschte. Deshalb ist der Liebeswahn auch mit seinem Namen verknüpft.
Die Erotomanie kann aber genauso wie andere Wahn-Phänomene im Rahmen verschiedener Psychosen auftreten, vor allem schizophrener, manischer oder organischer Psychosen. Ein reines wahnhaftes erotomanes Syndrom ist selten. Und wenn, dann findet man ihn vor allem bei ledigen Frauen mittleren Alters, sagen die Experten.
Grund sei nicht zuletzt die Verzweiflung der Betroffenen darüber, ohne irgendeine erotische Beziehung älter zu werden und in diesem Zustand dann auch das Leben beschließen zu müssen. Trotzdem sind die Heilungsaussichten in der Regel letztlich gut, auch wenn zuvor bisweilen unnötige Auseinandersetzungen drohten, bis hin zu forensischen bzw. juristischen Konsequenzen (etwa durch Angriffe auf einen "Liebhaber" bzw. seine Familie, die möglicherweise noch gar nichts von ihrem "Glück" wissen). Auch das Stalking, das ja nicht nur auf männliche Täter begrenzt ist, kann beim Liebeswahn eine Rolle spielen (siehe die entsprechenden Stalking-Beiträge in dieser Serie).
Die Behandlung richtet sich wie stets nach dem Grundleiden bzw. der entsprechenden psychosozialen Situation und enthält sowohl psychotherapeutische, als auch ggf. medikamentöse Versuche (teils antidepressiv, teils neuroleptisch, falls notwendig).
Schlussfolgerung
Das Kapitel "Behandlung seltener und schwer klassifizierbarer Syndrome" in der 3. Auflage des Sammelbandes "Therapie psychischer Erkrankungen" ist eine erste Übersicht einer ohnehin schwierigen Materie. Einzelheiten dazu finden sich in spezifischen Beiträgen (meist englischsprachig, früher vor allem aber französisch und deutsch). "Schwer klassifizierbar" stimmt auf jeden Fall, "seltener" hängt wahrscheinlich mit der seltenen Erfassung dieser Phänomene zusammen. Das schlägt sich natürlich in der Statistik nieder, die dann von einer hohen Dunkelziffer geprägt ist und sich überwiegend auf Einzelfall-Darstellungen berufen muss.
Trotzdem sind diese Leidensbilder (auch wenn sie nicht eindeutig als Krankheitsbilder klassifiziert und anerkannt werden) von alltags-relevanter Bedeutung. Das äußert sich beispielsweise in dem wachsenden Stalking-Problem, wie es erst in letzter Zeit wieder gehäuft zur Diskussion steht und sogar juristische bzw. gesetzgeberische Konsequenzen nach sich zieht.
Aber auch die weniger grenzwertigen bis kriminell gefährdeten Erkrankungen sollten die notwendige Aufmerksamkeit und Hilfe bekommen. Man denke nur an das Leid im Rahmen des Tourette-Syndroms (nicht zuletzt für die Angehörigen), die Qual eines Dermatozoenwahns, die Ratlosigkeit, nicht zuletzt der Behörden beim Ganser-Syndrom und die zermürbenden Konsequenzen im Rahmen von Capgras, Cotard, Couvades, wenn auch möglicherweise wirklich selten, vom Othello-Eifersuchtswahn und der Erotomanie ganz zu schweigen.
Die Psychiatrie ist im Kommen, hieß es einleitend. Die 1.329 Seiten des Standardwerks Therapie psychischer Erkrankungen sind übervoll mit psychischen Phänomenen, die es ernst zu nehmen, rechtzeitig zu diagnostizieren und gezielt zu behandeln gilt. Dieser Band hilft den Experten dabei. Doch das Wissen um solche Nöte muss noch gezielter verbreitet werden, und zwar in der Allgemeinheit. Denn nur dort regt sich die erste Ahnung nebst konkreter Empfehlung, rechtzeitig den dafür zuständigen Facharzt aufzusuchen (VF).
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