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Th. R. Müller, B. Mitzscherlich (Hrsg.):
PSYCHIATRIE IN DER DDR
Erzählungen von Zeitzeugen
Mabuse-Verlag, Frankfurt, 2006. 245 S., € 23,90.
ISBN 978-3-938304-46-4

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Dass die Psychiatrie, mehr als jede andere medizinische Disziplin oder Fachrichtung jeglicher Art, in ständiger Gefahr stand und steht, von den jeweiligen Machthabern oder – neutraler ausgedrückt – Machtverhältnissen instrumentalisiert, ja missbraucht zu werden, ist eine alte Erkenntnis. Ein Beispiel, das wohl kaum einer kennt, trotzdem recht bezeichnend ist, liefert der bekannte Marquis de Sade, nach dem der Sadismus benannt ist. Ein nebenbei hochbegabter, wenn auch zwiespältiger Charakter, der einen Großteil seines Lebens im Gefängnis oder im Irrenhaus verbracht hat (wo er auch starb). Warum? Zum einen, weil er keinen Hehl aus seinen in der Tat sadistischen Sexualpraktiken machte (was aber damals in der Oberschicht nicht selten war), zum anderen, weil er alles, was er an Gesellschaftskritischem sah, beschreiben, veröffentlichen, auf jeden Fall anprangern musste (was ihn zu einer Reihe von erfolgreichen, für ihn aber verhängnisvollen Skandalromanen veranlasste).

Warum dieser einleitende Exkurs? Während er sich gegen die adeligen, ja königlichen Machthaber seiner Zeit halbwegs durchzusetzen wusste, sperrte ihn Napoleon, an die Macht gekommen und selber reichlich Anlass gebend, kurzerhand in das Irrenhaus von Charenton ein, wo er mit 74 Jahren an Herzversagen starb. Wenn wir also unsere Zeit und Gesellschaft, auch die gerade überwundene (z. B. die DDR) beklagen, dann kann uns das Studium der Geschichte wieder nachdenklich machen, auf jeden Fall kritisch und aufmerksam geworden weiterhelfen.

Wie war nun die Psychiatrie in der DDR? Nach der Wende gab es eine ganze Reihe journalistischer Beiträge, die in leider oft wenig fundierten, eher skandalisierender Form die Miss-Stände in der DDR-Psychiatrie anprangerten. Deshalb sah sich Ende 1990 die Bundesregierung gezwungen, eine Expertenkommission (meist Psychiater und Juristen) mit der Aufarbeitung solcher Vorwürfe zu beauftragen, um daraus konkrete Empfehlungen für die Umstrukturierung abzuleiten. Das ist geschehen und fand dann in den Medien relativ wenig Echo, zum einen weil es keinen „News-Wert“ mehr zu haben schien, anderes lockte mehr, zum anderen weil es nüchtern und so objektiv wie möglich untersucht und publiziert wurde; letztlich aber auch weil man daraus nicht jene Skandal-Anklagen erzwingen konnte, wie sich manche Journalisten erwartet hatten. Das heißt allerdings nicht, dass es grenzwertige Geschehen, ja unverzeihbare Übergriffe gab, die den Missbrauchs-Vorwurf am glimmen hielten. Die öffentliche Wahrnehmung aber hat das nicht mehr berührt. Vor allem die sich daran anschießenden Fach-Diskussionen bezüglich Behandlungsansätze, Entwicklungsphasen und Reformprozesse innerhalb und nach der DDR sind natürlich kein Thema von allgemeinem Interesse mehr (es sei denn, man ist direkt betroffen).

Und hier setzt das Buch von Thomas R. Müller, Leiter des Sächsischen Psychiatrie-Museums und Professor Beate Mitzscherlich, Diplom-Psychologin und Professorin für Pflegeforschung am Fachbereich Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Westsächsischen Hochschule Zwickau an. Sie haben sich zur Aufgabe gemacht, die Betroffenen zu befragen, in erster Linie die psychisch Kranken selber, aber auch die MitarbeiterInnen, die auf verschiedenen und auch den damals eher unteren Hierarchie-Ebenen mit dem psychiatrischen Behandlungssystem der DDR in Berührung gekommen sind. Den Schwerpunkt bilden Interviews mit 9 Frauen und 10 Männern, die zwischen 1948 und 1990 als Patienten Erfahrungen mit der DDR-Psychiatrie sammeln mussten und aus ihrer Perspektive berichten. Das betrifft nicht nur die Behandlung selber und deren Auswirkungen, sondern auch – und hier wird es interessant – die Beziehungen zu Ärzten, Pflegekräften und Mitpatienten. Und nicht zuletzt die gesellschaftliche Re-Integration oder Stigmatisierung als Endzustand eines psychisch Kranken.

Gewiss ist die Auswahl der Gesprächspartner nicht systematisch oder gar repräsentativ, ging es doch vor allem um Zeitzeugen aus verschiedenen Generationen und Berufssparten und vor allem handelt es sich überwiegend um die Region des heutigen Bundeslandes Sachsen. Doch kann man davon ausgehen, dass es sich hier um keine einseitige, sondern durchaus dem Gesamt-Überblick dienliche Untersuchung handelt, die dem besseren Verständnis und einer differenzierteren Auseinandersetzung mit der Psychiatrie-Geschichte „im anderen Teil Deutschlands“ dienen kann.

Hilfreich war dabei der Verein Durchblick e.V., einer Psychiatrie-Betroffenen-Initiative, die 1990 in Leipzig gegründet wurde und auch Träger des Sächsischen Psychiatrie-Museums ist. Die Interviews stammen aus dem Jahr 2005, geführt von entsprechend geschulten Mitarbeitern anhand eines Interview-Leitfadens. Sie sind nicht nur fachlich hoch interessant, sondern oft genug auch menschlich anrührend, was nicht nur unter den besonderen DDR-Bedingungen, sondern generell im Rahmen einer seelischen Erkrankung nachvollziehbar ist.

Vor allem aber – so die eigene Einschätzung der Autoren – vermitteln diese subjektiven Erinnerungen, zu Monologen verdichtet, einen vielschichtigen Einblick in die bisher tabuisierte Alltags-Geschichte der Psychiatrie in der DDR. Man kann daraus viel lernen, und zwar nicht nur aus historischer, sondern generell psychiatrischer und vor allem allgemein-menschlicher Sicht. Ein dankenswerter Beitrag zur Seelenheilkunde aller Epochen und Gesellschaften (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
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