B. Bandelow, O. Gruber, P. Falkai:
KURZLEHRBUCH PSYCHIATRIE
Steinkopff-Verlag von Springer Science + Business Media, Heidelberg 2008. 318 S., 9 Abb., € 24,95.
ISBN: 978-3-7985-1835-3
Download als PDF
In dem derzeit geradezu erstaunlich wachsenden Angebot psychiatrischer Lehrbücher (man vermutet inzwischen, dass für das an sich kleine Fach der Psychiatrie mehr Lehrbücher zur Verfügung stehen als für jede andere medizinische Disziplin) kann man bei Interesse einige interessante Entwicklungen ausmachen:
Zum einen scheint das alte Prinzip: ein Autor = ein Werk historisch zu werden. Bei zwei und mehr Autoren, die alles selber verfassen, kann man inzwischen wieder fündig werden. Dann gibt es das heutige Standard-Konzept, nämlich ein oder meist mehrere Herausgeber mit einer überschaubaren oder gar großen Zahl von Spezialisten für die entsprechenden Kapitel (das muss bei 100 MitarbeiterInnen noch lange nicht aufhören). Schließlich existieren „Misch-Konzepte“ mit mehreren Haupt-Autoren und Mitarbeitern, was dann wenigstens einen einheitlichen Stil mit durchgehend gleicher Lesbarkeit garantiert.
Zu einem anderen Feld gehört die Frage: Wie baue ich ein Lehrbuch auf, was erachte ich derzeit für wichtig, was für vernachlässigbar. Hier gibt es Lehrbücher, die sich mehr oder weniger eng an die vorgegebenen internationalen Klassifikationen von ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und DSM-IV-TR der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) anlehnen. Das hat den Vorteil, dass man nichts falsch machen kann (obgleich es bei der nächsten Überarbeitung dieser Klassifikationen schon ganz anders aussehen kann), wirkt aber mitunter steril, regt inhaltlich wenig an und von übertriebener Lesefreundlichkeit darf auch nicht ausgegangen werden. Nun kann man sagen: Ein Lehrbuch ist kein Feuilleton (obgleich feuilletonistisch getönte Fach-Informationen inzwischen auch bei uns mehr goutiert und wissenschaftlich akzeptiert werden, in den angelsächsischen Nationen ist das schon längst der Fall), aber auch ein strenger fachlicher Informations-Text darf gelegentlich die karge Kost etwas mehr gewürzt darbieten. Gleichwohl: Diese Art von Lehrbuch-Konzept hat in den letzten Jahren an Terrain gewonnen.
Andere Lehrbücher wieder bemühen sich um das, was früher die Regel war: lebens-nahe Fach-Informationen von Lehrendem zu Lernenden, so wie man sich früher das Verhältnis von Stations- oder Oberarzt (seltener auch vom Chef selber) zum jungen Assistenten vorstellte, am besten nach der Visite auf dem Gang, da bleibt nach dem direkten gemeinsamen Kontakt mit dem Patienten am meisten hängen.
Natürlich ist dies heute nur noch selten zu erhoffen (und war auch früher – man muss es zugestehen – eher ein Glücksfall). Der administrative Wust, der alles erstickt, lässt hier kaum mehr freie Valenzen zu Wort kommen. Und die Spezialisierung tut das ihre. Es darf aber trotzdem in dem einen oder anderen Lehrbuch etwas von diesem (früheren) anregenden Fluidum herüberwehen, schließlich findet es jeder wichtig und manchmal findet es ja auch noch statt.
Um nun endlich zur Buchbesprechung zu kommen: Das vorliegende Kurzlehrbuch Psychiatrie der Professoren Dr. B. Bandelow, O. Gruber und P. Falkai von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Göttingen mit ihren 6 MitarbeiterInnen, zumeist aus dem gleichen Haus, atmet noch ein wenig von dieser einstigen Lehr-Atmosphäre. Natürlich muss das notwendige Wissen (vor allem für Medizin-Studenten und Ärzte bei der Vorbereitung auf die Facharztprüfung sowie interessierte Pflegeberufe) möglichst kompakt und knapp dargestellt werden. Daneben aber lesen wir im Vorwort, dass es auch detail-genau abzubilden sei, um die im klinischen Alltag notwendigen praktischen(!) Kenntnisse zu vermitteln, die nicht nur in der Prüfung, sondern auch am Krankenbett notwendig sind. Diese Autoren-Intention ist geglückt.
Zum einen findet man zwar auch hier eine extreme Dichte von Informationen, die von den erkannten Leitlinien des Faches geprägt sind. Zum anderen aber auch realitäts-nahe Fallberichte, die durch ihre durchaus lebendige Schilderung ein wenig Luft holen lassen und das gerade gelesene Fachwissen mit Leben füllen. Was erfreut, sind bei der erwähnten Menge an Hinweisen auf Symptomatik, Ätiologie (Ursache), Pathogenese (Verlauf), Diagnose und Differentialdiagnose (was könnte es sonst noch sein?), Psycho-, Sozio- und Pharmakotherapie, Rehabilitation, Prävention u. a. die Feststellung, dass kaum etwas vergessen, übergangen oder zu nebensächlich erwähnt wurde, was im Alltag von Klinik und Praxis nun wirklich Bedeutung hat, einschließlich Merksätze, Ermahnungen zur Vorsicht (Warnungen genannt), kurze Zusammenfassungen und in thematischer Hinsicht rechtliche Fragen und forensische Probleme, z. B. freiheitsbeschränkende Maßnahmen, Betreuung Volljähriger, Geschäftsfähigkeit, Fahrtüchtigkeit, Schuldfähigkeit, Maßregelvollzug u. a. Und statt der Augenwischerei mit ungelesen übernommenen englisch-sprachigen Fachartikeln aus aller Welt ein umfangreiches Sachverzeichnis. Ebenfalls hilfreich eine sehr detaillierte und praxis-bezogene Anleitung zur psychiatrischen Krankengeschichte.
Wir haben es also hier mit einem guten Kompromiss zu tun zwischen dem, was heute gängig ist (oder als solches von überwiegend wissenschaftlich orientierten Autoren empfunden wird) und dem, was seit jeher im Patienten-Alltag notwendig wird. Und da der Fortschritt in der Tat so voranschreitet, dass am Schluss vielleicht nur noch die internet-gestützten Angebote auf dem neuesten Stand sein werden (von denen man inzwischen behaupten darf, dass sie – wenn sie aus guter Quelle stammen – unbestreitbar ihre Vorteile haben), haben es sich die Autoren zum Ziel gesetzt, dieses Kompakt-Lehrbuch 2-jährlich in revidierter Fassung herauszugeben. Das ist eine große Aufgabe, das ist löblich (und im Rahmen einer Klinikmannschaft wohl noch am ehesten zu realisieren) und steckt den Rahmen ab, wie wir uns ein „Lehrbuch der Zukunft“ vorstellen (VF).
|