Yesim Erim (Hrsg.):
KLINISCHE INTERKULTURELLE PSYCHOTHERAPIE
Ein Lehr- und Praxisbuch
Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2009. 324 S., € 48,00.
ISBN 978-3-17-020849-0
Download als PDF
Im Jahr 2007 lebten in Deutschland fast 7 Millionen ausländische Staatsangehörige. Den größten Anteil haben Türken mit etwa 25%. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer beträgt fast 18 Jahre. Mehr als ein Drittel leben über 20 Jahre, rund 70% mindestens 8 Jahre hierzulande. Damit haben sie die notwendige Aufenthaltsdauer für eine Einbürgerung.
Dazu kommen Menschen mit so genanntem Migrations-Hintergrund, d. h. die seit 1950 zugewandert sind. Und natürlich deren Nachkommen. Viele davon haben inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit. Diese gesellschaftliche Gruppe, auch Migranten genannt, ist auf über 15 Millionen Menschen angewachsen.
Das ist die Realität, die statistische. Die Alltags-Realität hat ihre eigenen Entwicklungen, Auswirkungen, Ursachen, Regeln, ja Gesetzmäßigkeiten. Doch numerische Fakten sind das eine, der Alltag das andere. Und im Alltag spielt die Gesundheit eine immer größere Rolle. Und hier vor allem die seelische mit ihren psychosozialen Konsequenzen, von den äußerlichen und innerseelischen kulturellen Differenzen ganz zu schweigen. Das kann in der reinen Organ-Medizin schon zu erheblichen Problemen führen und scheint im seelischen Bereich fast unüberwindbar. Denn dort ist die Grundlage die sprachliche Ausdrucksfähigkeit, von tieferen sensiblen Bereichen ganz zu schweigen. Und doch wächst auch die Zahl jener, die seelische Hilfe suchen, aber nicht finden. Nicht einmal dort, wo sich die therapeutische Seite große Mühe gibt.
Als Erstes braucht man deshalb Experten, die sowohl von der Materie als auch von diesem interkulturellen Problem etwas verstehen, also der Psychotherapie in Zeiten multikultureller Gemeinschaften. Das findet sich beispielsweise in der Herausgeberin dieses Buches, nämlich Privatdozentin Dr. Yesim Erim, Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytikerin und leitende Oberärztin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Essen. Ihr Ziel war und ist es, einheimische und bilingual-ethnische Therapeuten für die Arbeit mit Migranten zu befähigen und ihre diesbezügliche Kompetenz zu steigern. Gewonnen hat sie eine stattliche Reihe von Experten, die seit vielen Jahren in der psychotherapeutischen Versorgung von Migranten tätig und erfahren sind. Was bietet nun dieser – in deutscher Sprache bisher sicher einmalige – Sammelband zur Klinischen Interkulturellen Psychotherapie?
Der thematische Bogen ist weit: Er spannt sich von historischen Überblicken über Sprach- und Verständnisprobleme, die interkulturelle Diagnostik (siehe Muttersprache, Besonderheiten der biographischen Anamnese bei Migranten) und die interkulturelle Beziehungs-Dynamik bis zu entsprechenden therapeutischen Empfehlungen.
Interessant die psychischen Störungsbilder, die sich im Rahmen der Migration ergeben oder verstärken. Dazu gehören Somatisierungsstörungen (z. B. Symbolgehalt der Schmerzsymptome bei türkisch-stämmigen Migranten), Posttraumatische Belastungsstörungen (ethnisch-kulturelle Unterschiede), Gewalt, Resilienz, Flucht, Prä-Migrationserfahrungen u. a.
Konkrete Hilfestellung bieten die Beiträge über Sozialarbeit (Sprache, Recht, Familie, soziale Situation), Gesundheitsdienste u. a. Spezifisch, aber wichtig die Kopftuch-Debatte (kulturell, religiös, politisch, ja sogar psychiatrisch). Besonders problematisch die Folter-Opfer. Das wachsende Problem der Kinder und Jugendlichen mit Zuwanderungs-Hintergrund (migrations-spezifische Risikofaktoren für psychische Erkrankungen bei Jugendlichen). Und nicht zuletzt die kasuistischen Einblicke in die Lebenswelten der Migranten: Religiosität, vor allem türkischer Islam und Laizismus, ethno-soziokulturelle Hinweise (Polen, jugendliche Migranten aus den ehemaligen GUS-Staaten, also der zerfallenen Sowjetunion) und nicht zuletzt die Frage des Geschlechts, nämlich Psychotherapie mit Männern (z. B. aus der Türkei). Am Schluss Methoden zur Entwicklung kulturspezifischer psychometrischer Messverfahren zur transkulturellen Adaption.
In der Tat ein bisher einmaliges Lehr- und Praxisbuch mit einem eindrucksvollen Erfahrungs-Angebot. Das ist auch nötig, angesichts der Probleme, die sich aus der Globalisierung ergaben – und noch intensiver, wenn nicht folgenschwerer ergeben werden. Es muss ja auch nicht gleich eine fundierte Psychotherapie sein, die bei entsprechenden Problemfällen hilfreich eingreift. Das ist – rein zahlenmäßig – schon bei den deutschen Mitbürgern begrenzt genug. Es dürfte in vielen Fällen auch ein Minimum an Verständnis reichen, auch im Praxis-Alltag des gestressten Allgemeinmediziners (der bei fallender Kollegenzahl für täglich 50 bis 100 und mehr Patienten verfügbar sein muss). Deshalb ist dieses Buch auch – zumindest stellenweise – hilfreich für Ärzte, Psychologen und Pflegekräfte, die nicht gezielt psychotherapeutisch tätig sind. Vielleicht ergibt sich aus der Feder der Herausgeberin oder eines Autoren-Teams auf der Grundlage dieses Buches ein um Allgemeinverständlichkeit bemühtes und den „Niederungen des Alltags“ verpflichtetes Sachbuch, was das bereits vorliegende Fachbuch verdienstvoll ergänzen würde (VF).
|