E. Kasten:
SOMATOPSYCHOLOGIE
Körperliche Ursachen psychischer Störungen von A bis Z
Ernst Reinhardt-Verlag, München-Basel 2010. 244 S., € 24.90. 61 Abb., 17 Tab.
ISBN 978-3-497-02120-8
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Seelische Störungen und ihre psychosozialen Konsequenzen gehen nicht nur auf psychische Krankheiten zurück. Dort wird man sie zwar am ehesten suchen und finden, aber es ist nur ein Teil des Ursachen-Spektrums, möglicherweise sogar der kleinere. Denn es sind nicht zuletzt (oder sogar vor allem?) körperliche Funktionsstörungen und Erkrankungen, die praktisch alle seelischen Symptome auslösen können, die die Psychopathologie, Neurosenlehre, Psychosomatik u. a. bereit hält, und zwar wiederum als seelische, körperliche und psychosoziale Belastung. In vielen Fällen ein Teufelskreis – und zwar unerkannt.
Warum? Weil zum einen die wachsende Zahl psychiatrischer Aspekte, sprich Symptome, Syndrome, Funktionsstörungen und Krankheiten schon für sich nicht allgemeines Erkenntnisgut sind. Und die seelischen Folgen körperlicher Leiden ohnehin nicht. Dabei ist letzteres wahrscheinlich noch ergiebiger oder konkret: zumindest zahlenmäßig belastender als rein psychische Krankheiten – weil noch weniger bekannt, diagnostiziert, therapeutisch zumindest berücksichtigt und in Zukunft verhütet und zumindest abgemildert.
Zum Thema körperliche Ursachen psychischer Störungen gab es schon früher fundierte Übersichten, teils zu spezifischen Fragen entsprechende Fachartikel, teils Taschenbücher oder gar dickleibige Folianten, mitunter sogar mehrbändig. Da es sich hier um eine Fleiß-Arbeit handelt, müssen doch hunderte von Krankheitsbildern mit ihrer bisweilen ausufernden Symptomatik ätiopathogenetisch sortiert und meist auf mehreren Ebenen zugeordnet werden, waren es meist Arbeitsgruppen unter der Leitung eines Herausgebers, die sich dieser Mühe unterzogen, kaum ein einzelner Autor. Letzteres wird ohnehin immer seltener, kann doch schon der Spezialist sein eigenes Fachgebiet nicht mehr lückenlos überblicken.
Umso erfreulicher der Umstand, dass es immer noch „wissenschaftliche Einzelkämpfer mit Autoren-Engagement“ gibt, eine eher rar gewordene Spezies, wenn man die letzten Jahrzehnte überblickt. Das mag Nachteile haben, die jeder kennt, aber auch Vorteile, die nicht zu unterschätzen sind. (Wobei die Nachteile durch die heutigen technischen Erfassungs-Möglichkeiten wirkungsvoller reduziert werden als die Nachteile, die sich aus Arbeitsgruppen mit verschiedenen Experten ergeben können, da fällt jedem Herausgeber sein eigener Leidensweg ein ...)
Die Somatopsychologie vom Reinhardt-Verlag geht nun auf den Sammel- und Ordnungs-Fleiß eines einzelnen Autors zurück, nämlich dem Dipl.-Psychologen, Neuropsychologen und Psychotherapeuten vom Institut für Medizinische Psychologie des Universitäts-Klinikum Schleswig-Holstein in Lübeck, Prof. Dr. Erich Kasten. Er hat im gleichen Verlag schon eine Reihe von teils breiteren Wissens-Angeboten (Einführung Neuropsychologie, 2007), teils spezifischen Fragestellungen veröffentlicht (z. B. Body-Modification, 2006 und Die irreale Welt in unserem Kopf – Halluzinationen, Visionen, Träume, 2008) und legt nun eine sorgfältig erarbeitete, gut redigierte und nicht nur aufzählende, sondern erläuternde Informations-Quelle vor, deren Kenntnis viel Leid verhindern oder zumindest mildern könnte.
Denn Körper und Seele bilden eine biologische Einheit, weshalb es nicht verwundern sollte, dass eine Fülle organischer Erkrankungen erhebliche Auswirkungen auf seelische, geistige und psychosomatisch interpretierbare Störungen hat. Die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) versucht dies in ihrem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen – DSM-IV-TR schon zunehmend zu berücksichtigen, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit ihrer Internationalen Klassifikation psychischer Störungen – ICD-10 (ausbaufähig) ähnlich. Was aber bisher fehlt ist eine stichwortartige Übersicht auf dem neuesten Stand (hier ist natürlich wissenschaftlich ständig etwas in Bewegung). Und das möglichst handlich (frühere Werke taten sich da schwerer, und zwar sowohl physikalisch, sprich vom Buch-Gewicht her wie preislich).
Professor E. Kasten bietet im Teil 1 eine Einteilung nach Symptom-Gruppen und im alphabetisch gegliederten Teil 2 sämtliche Erkrankungen, Drogen, Medikamente und andere externe Faktoren, die psychische Veränderungen nach sich ziehen können. Natürlich würde eine angestrebte Vollständigkeit jeden Rahmen sprengen, was auch nicht beabsichtigt ist (und beispielsweise bei den Medikamenten entsprechenden Fach-Informationen entnommen werden kann). Interessant aber der Versuch, eine Hierarchie der aufgelisteten Symptome nach ansteigender Krankheitsschwere zu bieten, beginnend mit den leichteren Initial-Symptomen bis hin zu Koma oder Tod bei unbehandeltem oder desolatem Verlauf.
Wie sieht nun derlei aus? Der stichwortartig aufgebaute Teil 1 gliedert sich in Veränderungen des Aktivitäts-Niveaus mit einer Reihe von Unterteilungen (z. B. Leistungsminderung, Antriebsmangel, amotivationales Syndrom, sozialer Rückzug, erhöhte Kontaktbereitschaft u. a.), emotionale Veränderungen (von der Stimmungslabilität bis zur Depression, oder Panik, Aggressionen, Euphorie, Distanzlosigkeit u. a.), ferner neuropsychologische Defizite (Aufmerksamkeits- und Vigilanzstörungen, Gedächtnis- und Lernstörungen, Sprach- und Sprechstörungen, Orientierungsstörungen u. a.), dazu Intelligenzminderung (geistige Behinderung, Entwicklungsverzögerungen, Lese-, Schreib-, Rechenstörungen, Denkstörungen, Demenz), außerdem Bewusstseinsstörungen (Müdigkeit, Somnolenz, Albträume, Verwirrtheit, Delir) bis zu psychose-ähnlichen Syndromen (Wahn, Halluzinationen, Zoenästhesien u. a.). Schließlich Kapitel, in denen sexuelle Abweichungen (Libidoverlust, Impotenz), Veränderungen der Persönlichkeit und Identität sowie die mehrschichtigen Leidens-Themen Schmerzen, Schwindel, Wahrnehmungs- und Schlafstörungen durchgesprochen werden.
Was man dort alles wissen und in Vorbeugung, Diagnose, Therapie und Rehabilitation umsetzen müsste, könnte einen leicht zur Resignation verleiten. Aber genau gegen dieses – an sich nachvollziehbare – Phänomen ist dieses Buch konzipiert, ein Nachschlagewerk, in dem man schnell fündig wird, und zwar über das Ausgangs-Symptom zur potentiellen körperlichen Ursache.
Wer nun beklagt, dass er jetzt ein Lehr- oder Fachbuch wälzen müsste, das die Ursache breiter darstellt und gezielte Handlungs-Anweisungen vermittelt, der blättere – wie erwähnt – bis zu Teil 2, um dort von A bis Z die wichtigsten körperlichen Ursachen psychischer Symptome noch einmal aufgelistet zu finden – stichwortartig. Damit hat er zwei (Fach-)Bücher in einem und eigentlich das, was ihm den möglichen Informations- und Handlungs-Kompromiss erlaubt.
Soweit für den Arzt. Gewinnbringend aber auch über weiterführendes Einlesen entsprechender Literatur für therapeutisch tätige Psychologen, Pflegekräfte, Sozialarbeiter, Physio- und Ergotherapeuten – zumindest was das Verständnis anbelangt, auch wenn die Behandlung dann wieder vom Arzt übernommen werden muss. Und es kann sogar für Laien hilfreich sein, zumindest mit der fachlichen Anleitung der erwähnten Medizinalpersonen im weitesten Sinne oder mit Hilfe eines um Allgemeinverständlichkeit bemühten Fachbuches oder Wörterbuches.
So gesehen ein Gewinn an Erkenntnis und Handlungs-Konsequenzen in erfreulicher Breite. Empfehlenswert (VF).
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