SEHBEHINDERUNG UND BLINDHEIT

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Kurzfassung über seelische und psychosoziale Folgen

Blindheit gehört zu den härtesten Schicksalsschlägen, denn das Sehen ist unser wichtigster Sinn. Doch allein in Deutschland schätzt man rund eine Million seh-behinderter Mitbürger und über 160.000 blinde Menschen. Dabei unterscheidet man in Blind-Geborene, Früh-Erblindete und Spät-Erblindete sowie Altersblinde. Und hier wieder ob Voll-Blindheit besteht oder noch ein Seh-Rest vorhanden ist. Bedeutsam für die psychosozialen Folgen sind auch Erblindungs-Zeitraum, Persönlichkeitsstruktur, geistiges Niveau sowie Umfeld, d. h. Partner, Familie, Schule, Arbeitsplatz, Freunde sowie die Nutzung von Blinden-Beratungsstellen, Blinden-Kindergarten, Blinden-Schule, ggf. Blinden-Institut mit ihren Hilfs-Angeboten auf allen Ebenen (technisch, Verhaltenssteuerung, kognitiv usf.). Nachfolgend deshalb eine kurz gefasste Übersicht zu Seh-Behinderung oder gar Blindheit mit den entsprechenden seelischen, geistigen und psychosozialen Folgen.


Erwähnte Fachbegriffe:

Sehbehinderung – Blindheit – Erblindung – Ursachen: alters-abhängige Maku­la-Degeneration, Glaukom, diabetische Retinopathie, Katarakt, Hornhaut-Trü­bungen u. a. – Einteilung der Sehschärfe – Frühblinde – später Erblindete – Altersblinde – Vollblindheit – Sehrest – Erblindungs-Zeitraum – Blind-Gebo­rene – entwicklungs-psychologische Aspekte und Blindheit – blinde Säuglinge und Behinderung – Blind-Geborene und ihre seelischen, geistigen, körperlichen und psychosoziale Folgen – Blinden-Gewohnheiten – Blindheit und Aggression – Ersatz für mangelnde Lichtreize – seelisch-körperliche Blinden-Schablonen – Blinden-Mimik – Blinden-Motorik – Blinden-Stoffwechsel – Blinden-Weltbild – Blind-Geborene und Tastsinn – Blind-Geborene und Wortgedächtnis – Blinden-Gehirnfunktion – Blindheit und psychische Störungen – Blindheit und Verhaltensstörungen – Blindheit und Überangepasstheit – Blind-Geborene und Therapie – Spät-Erblindete – plötzliche Erblindung – Stagnations-Phase nach plötzlicher Erblindung – Nicht-Akzeptieren plötzlicher Erblindung – Verleugnungs-Strategie nach plötzlicher Erblindung – Konfrontations-Phase nach plötzlicher Erblindung – Beschwerdebild nach plötzlicher Erblindung – Verhaltens-Störungen nach plötzlicher Erblindung – Aggressionen nach plötzlicher Erblindung – Depressions-Phase nach plötzlicher Erblindung – Akzeptation der plötzlichen Erblindung – Akzeptanz-Phase nach plötzlicher Erblindung – neue Lebensgestaltung nach plötzlicher Erblindung – Therapie nach plötzlicher Erblindung – Retinopathia pigmentosa und psychosoziale Folgen – Makula-Degeneration und psychosoziale Folgen – Augen-Unfall und psychosoziale Folgen – Augenerkrankung nach juvenilem Diabetes und psychosoziale Folgen – Charles de Bonnet-Syndrom und psychosoziale Folgen – Halluzinationen nach Sehschwäche – Myopie, Glaukom, Katarakt, Optikus-Atrophie u. a. und psychosoziale Folgen – u.a.m.

Das Sehen ist unser wichtigster Sinn. Wahrscheinlich werden zwei Drittel aller für den Menschen wichtigen Informationen durch das Seh-System aufgenommen. Das dürfte sich in unserer heutigen, vor allem visuell ausgerichteten Gesellschaft noch erhöhen.

Nimmt man als Norm für die Sehschärfe 1,0 (= 100%), gilt als sehbehindert, wer trotz Brillen- oder Kontaktlinsen-Korrektion höchstens 0,30, mindestens aber 0,05 erreicht. Liegt der Wert zwischen 0,05, und 0,02, liegt eine hochgradige Sehbehinderung vor. Mit einer Sehschärfe unter 0,02 (praktisch nur noch Hell-/Dunkelwahrnehmung) gilt man als blind.

In Deutschland schätzt man mehr als eine Million seh-behinderter Mitbürger und über 160.000 blinde Menschen. Die Erblindung hat innerhalb der letzten 12 Jahre um 9%, die Seh-Behinderung um 80% zugenommen (je älter, desto mehr).

Die Ursachen für Blindheit in Deutschland (was bei weitem nicht das Gleiche ist wie in bestimmten Regionen dieser Welt, besonders in den Entwicklungsländern) sind in etwa der Hälfte der Fälle eine alters-abhängige Makula-Degeneration, gefolgt von Glaukom und diabetischer Retinopathie (jeweils fast jeder Fünfte) und schließlich Katarakt, Hornhaut-Trübungen, Erblindung in der Kindheit sowie andere Ursachen. Die Ursachen-Verteilung ist allerdings alters-abhängig. Zwei Drittel aller Neu-Erblindungen betreffen Frauen (was nicht nur mit deren höheren Lebenserwartung zusammenhängt). Einzelheiten siehe Fachliteratur.

Auf jeden Fall gehört die Erblindung zu den härtesten Schicksalsschlägen. Sie hat erhebliche seelische, psychosoziale und sogar körperliche Auswirkungen (z. B. Stoffwechsel). Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen jenen Menschen, die niemals sehen konnten und solchen, die erst später ihr Sehvermögen verloren. Bei Letzteren wird wiederum differenziert in plötzliche und allmähliche Erblindung sowie Frühblinde, Späterblindete und Altersblinde. Und hier wieder, ob Vollblindheit besteht oder noch ein Sehrest vorhanden ist. Bedeutsame Faktoren sind auch Erblindungs-Zeitraum, Persönlichkeitsstruktur, geistiges Niveau sowie Umfeld (Partner, Familie, Schule, Arbeitsplatz, Freunde usw.).

Nachfolgend eine Kurzfassung über psychische und psychosoziale Folgen bei Blindheit, basierend auf dem entsprechenden Kapitel in Volker Faust (Hrsg.): Psychiatrie – Ein Lehrbuch für Klinik, Praxis und Beratung. Gustav Fischer-Verlag, Stuttgart-Jena-New York 1995 von Professor Dr. H.-J. Merté und Dr. H. Friedrich, beide ehemals Augenklinik der TU München sowie dem leitenden Psychologen R. Hahmann vom Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte, Veitzhöchheim. Im Einzelnen:

  • Blind-Geborene bzw. Früh-Erblindete

- Entwicklungspsychologische Aspekte: In den ersten Lebenswochen gibt es keinen Unterschied zwischen blinden und sehenden Säuglingen. Erst mit etwa vier Wochen beginnt beim Sehenden die bewusste optische und akustische Wahrnehmung der Umgebung: Hinsehen, Lächeln, Kopfdrehen und Greifen.

Hier fängt die Behinderung für den blinden Säugling an, weil der Bewegungs-Anreiz fehlt. Sie wächst mit der Erweiterung des Lebensraumes: Sitzen, Stehen, Gehen und Laufen erfolgen verspätet, Kriechen überhaupt nicht. Es fehlt der Drang, Unbekanntes zu entdecken. Dies führt zu Furcht vor dem Ungewissen im Raum. Folge: ungenügende Bewegungsmotivation, Teilnahmslosigkeit, Unbeholfenheit und Abhängigkeit. Die Spielgewohnheiten reduzieren sich auf den eigenen Körper.

Außerdem entwickeln sich bestimmte rhythmische und mimische Besonderheiten, so genannte Blinden-Gewohnheiten: Kopfwippen, Kopfdrehen, Rumpfschaukeln, Beugebewegungen, Hüpfbewegungen am Ort, Drehen, Taumeln, Kreisen, Schlenkern (= Ausdruck eines nur teilweise befriedigten Bewegungsdranges und Umsetzung von Bewegungs- und Aggressionsmechanismen).

Ferner Grimassenschneiden und Tics (Entladung des gehemmten seelisch-körperlichen Bewegungsdranges und Wunsch nach vermehrter Zuwendung). Dazu Augenbohren und Augendrücken, Handbewegungen (Anregung von Bewegung und Stoffwechsel, Ersatz für mangelnden Lichtreiz). Folge: seelisch-körperliche Schablonen.

Beispiele: verhaltene, zögernde und reduzierte Bewegungsmuster, gleichförmiger, vorsichtiger und sichernder als bei Sehenden. Gestraffte Gesamtbewegung. Selbst in Ruhe mangelhafte Entspannungsmöglichkeit. Kürzere und flachere Atembewegungen. Oberkörper fast unbewegt, Kopf geradeaus, Armbewegung eingeschränkt, Schultern leicht emporgezogen. Beine höher angehoben, Füße vorsichtiger aufgesetzt. Die Mimik der oberen Gesichtshälfte vermindert, die der unteren gesteigert.

Das Ganze dient der seelischen und sonstigen Sammlung zur raschen Auffassungsbereitschaft mit den noch verbliebenen Sinnesorganen. Das Weltbild der Blinden ist zwar unbewegter, die Welt-Anschauung dagegen verinnerlichter. Blind-Geborene besitzen nicht nur einen besseren Tastsinn (was sich auch diagnostisch nutzen lässt, z. B. bei so genannten „medizinischen Tast-Unter­sucherinnen“, so bei der Brustkrebs-Vorsorge), sondern auch ein besseres Wortgedächtnis (früher dienten Blinde als „wandelnde Datenspeicher“, z. B. für mündliche Überlieferungen von Bibel-Interpretationen). Der Grund: Das Gehirn von Blinden ist sozusagen „umprogrammiert“.

- Psychische Störungen bei Blinden bzw. Früh-Erblindeten: Minderwertigkeitsgefühle (weniger durch die Blindheit, mehr durch das psychologische Phänomen, als Blinder behandelt zu werden). Verhaltensstörungen („Haus-Tyrann“ durch Überbehütung ängstlicher Mütter). Überangepasstheit (durch Überreglementierung der Umgebung). Träumereien, Haltlosigkeit, Verwahrlosungsneigung usw. (zu viel Freiheit).

- Vorbeugung und Therapie: Gehör und Tastsinn sofort aktivieren (freundliches Sprechen, wechselnder Tonfall, Vorsingen von Kinderliedern durch alle Familienangehörigen = Stimmen unterscheiden lernen). Spielzeuge jeglicher Art (Übung des Tastsinnes und des Gehörs). Häufiges Ausführen ins Freie (zusätzliche Gehör-Eindrücke sammeln). Anleitung zum Kriechen auf dem Boden (Entdeckungen anregen). Klopfübungen (Klangunterscheidung). Geruchs-Eindrücke sammeln. Körperliche Übungen (Kräftigung, Stoffwechsel-Förde­rung). Zu Ordnung, Regelmäßigkeit, Sauberkeit und Selbständigkeit anleiten. Blinden-Beratungsstelle, Blinden-Kindergarten, Blinden-Schule, ggf. Blinden-Institut nutzen. Der Internats-Aufenthalt bietet dabei gute Beschulungs-Möglichkeit, entweder als Tagesheimschüler oder als reine Heimbetreuung (je nach Entfernung).

  • Spät-Erblindete

Die Erblindung ist ein ungeheures Trauma. Dies lässt sich in verschiedene Phasen einteilen:

  1. In der Phase der Stagnation, kurz nach der Erblindung (z. B. Unfall) oder zu Beginn des eingeschränkten Sehvermögens (fortschreitende Augenerkrankung) verhält sich der plötzlich Behinderte so, als ob er noch sehen würde. Er macht also auch keine konstruktiven Schritte, sich entsprechend umzustellen. Er beharrt auf dem, was er hat(te). Er will alles so wie früher: Beruf, Verkehrsteilnahme, Freizeit.

    Das führt zu einer hohen Anspannung. Doch die Grenzen der Möglichkeiten werden trotzdem nicht akzeptiert, eher die Phantasie bemüht. Auch wird die Behinderung nicht nur vor sich selber, sondern auch vor anderen nicht eingestanden. Dieses Vermeidungsverhalten hat Folgen. Die Verleugnungs-Strate­gie nimmt sogar langfristige Schädigungen in Kauf (Manipulation nach außen und Verleugnung nach innen).

  2. Die Phase der Konfrontation wird erreicht, wenn man die Verleugnung aufgibt (meist erzwungen durch eine Verschärfung der Situation: Partner, Familie, Arbeitgeber). Mitgefühl oder Mitleid zögern nur die realitätsgerechten Konsequenzen hinaus, sind also auf Dauer von Nachteil.

    Die Konfrontations-Phase äußert sich oft in einem charakteristischen Beschwerdebild: geringe Frustrationstoleranz, Neigung zu Verärgerung bis hin zu Schimpfen, Poltern und Wutanfällen. Schaffung von Tabus und Sündenböcken. Versuch, die Realitätsverdrehung doch noch aufrechtzuerhalten, in dem man die anderen auf Distanz hält oder mit Schuldzuweisungen eindeckt.

    In dieser Phase auch gehäufte Auseinandersetzungen mit Ärzten, Arbeitgeber, Arbeitsämtern, Rententrägern usw. Durch den Aggressions-Druck des Erblindeten kommt es immer wieder zum Einlenken der Umgebung – meist zu seinem Nachteil. Denn irgendwann kommt es zur

  3. Phase der Depression: Der Behinderte hat geleugnet und sich gewehrt, doch die Blindheit ist geblieben. Jetzt wird der Verlust erst bewusst. Die Abwehr wird aufgegeben, der Verlust akzeptiert.

    Folge: Beruhigung, aber auch Ratlosigkeit, Verwirrtheit, Resignation, schließlich Depression bis hin zu Suizidphantasien. Dies äußert sich in seelisch-körperlicher Erstarrung oder (aggressivem) Klagen und Jammern. Meist jedoch ein tiefes Elendigkeitsgefühl aus Kraftlosigkeit, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Einsamkeit oder auch Panik.

  4. Auf die Phasen der Verleugnung, Wut und schließlich Depression folgt die Phase der Akzeptanz: Der Behinderte kommt wieder zu Kräften, seine Energie fließt wieder zielgerichtet, er tut die richtigen Schritte in partnerschaftlicher, familiärer, beruflicher u. a. Hinsicht. Er nimmt die Folgen der Behinderung an und damit die Verantwortung für seine Lebensgestaltung zurück.

Therapeutisch empfehlen sich deshalb folgende Schritte: 1. In der Phase der Stagnation behutsame Konfrontation mit der Realität. 2. In der Phase der verzweifelten Wut Verständnis und Schutz. 3. In der Phase der Depression Zeit lassen, um die depressiven Inhalte entwickeln zu können. 4. In der Phase der Akzeptanz vorsichtige Aktivierung (Blinden-Hilfe wie Punktschrift, Mobilitätstraining, lebenspraktische Übungen u. a.).

Spezielle Augen-Erkrankungen

Auch Augen-Erkrankungen führen zu entsprechenden Folgen, was seelische Verarbeitung und psychosoziale Konsequenzen anbelangt. Beispiele:

- Patienten mit einer Retinopathia pigmentosa (Einzelheiten siehe die Fachliteratur) leiden häufig unter einer überstarken Verleugnungstendenz. Durch den schleichenden bzw. schubweisen Verlauf der Gesichtsfeld-Einschrän­kungen können sie sich aber an den immer größer werdenden Ausfall gewöhnen. Das reduziert auch das Ausmaß der Traumatisierung (seelischen Verwundung). Die Betroffenen fühlen sich subjektiv nicht oder nur gering eingeschränkt und tun alles, um den Ausfall zu kompensieren.

So arbeiten sie an Wochenenden ihre unter der Woche nicht völlig erledigten Arbeiten auf, verlassen bei Dunkelheit nicht das Haus, setzen den Partner als eine Art „Hilfsmittel der Mobilität“ ein u. a. Das macht den Problem-Druck durch die Behinderung erträglicher.

Natürlich kommt ihnen auch die Art des Ausfalls zugute: manchmal können sie mit einer so genannten Gesichtsfeld-Insel noch lesen und empfinden sich dann als sehend. Im zwischenmenschlichen Kontakt müssen sie allerdings das „Bild von ihrer Umwelt“ puzzle-artig zusammensetzen. Und in der Nacht sind sie praktisch blind.

Das vermittelt ihnen verschiedene Stadien des Sehens oder Nicht-Sehens und ebnet den Weg, sich in der Regel an einer Normal-Sichtigkeit zu orientieren, die zwar objektiv nicht mehr vorhanden ist, subjektiv aber hartnäckig verteidigt wird. Das geht soweit, dass selbst Zustände hochgradiger Sehbehinderung oder gar Erblindung beschönigt oder regelrecht ausgeklammert werden. Eine Umstellung der Lebensbedingungen wird kaum oder nur schwer vorgenommen, Anpassungs-Empfehlungen an die Gesichtsfeld-Einschränkung wie z. B. rehabilitative Bemühungen als Stigamtierung empfunden und damit oft vehement abgelehnt. Experten sprechen von einer Einengung der Realitäts-Wahrnehmung, die man gerade bei Patienten mit der Retinopathia pigmentosa oft beobachtet – und therapeutisch nur schwer zu beeinflussen vermag.

- Ähnliche Verarbeitungs-Formen bzw. -Einschränkungen ergeben sich aus einer Makula-Degeneration, vor allem wenn es sich um einen fortschreitenden Erkrankungs-Verlauf handelt.

- Im Gegensatz dazu sind Patienten nach Augen-Unfällen mit einer relativ geringen Verleugnungs-Neigung belastet. Denn diese Unfall-Patienten durchleben den Verarbeitungs-Prozess ihrer Behinderung in eher kurzer Zeit. Das führt natürlich auch zu einem deutlich ausgeprägteren innerseelischen emotionalen Druck im Verhältnis zu anderen, vor allem langsam fortschreitenden Erblindungen. Das Unfall-Opfer – gleichsam überfallartig und komprimiert vor vollendete Tatsachen gestellt –, ist in der Regel mehr oder weniger völlig auf die Hilfe anderer angewiesen.

Natürlich wirkt diese Hilflosigkeit, d. h. hochgradige Seh-Störung oder gar Blindheit erst einmal wie ein Schock. Dadurch ist der Betroffene in den ersten Wochen wie gelähmt. Dafür wird ihm nach einer Zeit tiefster Depression, möglicherweise sogar mit Suizid-Phantasien, nach und nach klar, dass es keine andere Wahl gibt, als die unfall-bedingte Blindheit zu akzeptieren. Er ist gleichsam durch den plötzlichen Wechsel von Normal-Sichtigkeit zur Blindheit innerhalb kürzester Zeit zu diesem Schritt gezwungen („es bleibt mir nichts anderes übrig“).

Deshalb beginnen die Unfall-Blinden in relativ kurzer Zeit mit konstruktiver Einstellung und bisweilen bewundernswerter Geduld mit ihren rehabilitativen Maßnahmen. Zwar kommt es auch – je nach Persönlichkeitsstruktur und sonstigen Umfeld-Bedingungen – auch zur Regression (wörtlich: Rückschritt, d. h. Wiederauftreten von entwicklungsmäßig früheren, ja infantilen Verhaltensweisen). Doch diese pflegen in der Regel bei diesen Patienten nur kurz anzuhalten.

- Insulin-pflichtige juvenile Diabetiker im Stadium III legen hinsichtlich ihrer Erblindung eine gewisse Gelassenheit an den Tag – vordergründig. Selbst beim plötzlichen Verschwinden eines letzten Seh-Restes durch Netzhaut-Einblutungen stehen sie oftmals unter keinem besonderen emotionalen Stress, so scheint es. Dabei haben sie in diesem Stadium bereits eine etwa 10- bis 15-jährige Krankheitsgeschichte hinter sich (wobei sie sich durchaus eine zeitlang nicht nach ärztlichen Verordnungen gerichtet haben, weil sie vor allem die Folgen des Diabetes entweder nicht kannten, akzeptierten oder ernst nahmen, meist in der Pubertät).

So wird auch die Vorstellung, irgendwann erblinden zu können oder zu müssen, im Laufe der Zeit gedanklich zwar zur Kenntnis genommen, gefühlsmäßig aber zur Seite geschoben. Damit verliert zumindest die schließlich unkorrigierbare Seh-Behinderung ihre schockartige Wirkung.

Wenn man allerdings Diabetiker mit den unmittelbaren Auswirkungen ihrer Erkrankung konfrontiert, insbesondere was die ärztlichen Verhaltens-Regelun­gen und deren zuverlässige Einhaltung anbelangt, reagieren sie nicht selten unangemessen zurückweisend, wenn nicht gar aggressiv. Offenbar sind also die Ängste über die Spätfolgen ihrer Erkrankung nur unterdrückt, so die Experten.

Nach außen aber leben nicht wenige seh-behinderte Diabetiker ein eher behinderungs-gerechtes, wenn nicht gar harmonisches Leben, was aber auch von unterschwelliger Auflehnung getragen wird, wenn man sie mit den krankheitsbedingten Regeln vertraut machen will. Bei einigen tritt dann die Aggression offen zutage. Sie reagieren zumindest anfangs eigensinnig und zurückweisend. Andere verstehen sich selber als der einzige, zumindest wichtigste Experte auf diesem leidvollen Gebiet und lehnen deshalb jegliche Anweisung ab. Diabetiker sind ärztlich und psychologisch gesehen eine nicht problem-lose Klientel, wobei manche Experten nicht nur die diabetische Seh-Störung meinen.

- Keine besonderen Auffälligkeiten bezüglich der Verarbeitung einer Seh-Behinderung ergeben sich in der Regel bei den Augenleiden Myopie, Glaukom, Katarakt sowie Optikus-Atrophie.

Aus psychosomatischer Sicht zeigen sich myope (kurzsichtige) Patienten weniger aggressiv und nach außen hin mehr angepasst. Auf unangenehme Situation reagieren sie eher passiv und setzen sich Stress wesentlich länger tatenlos aus, als dem Durchschnitt entspricht.

Auch Glaukom-Patienten haben die Neigung zu eher depressivem, ängstlichem und introvertiertem (nach innen gekehrtem) Verhalten.

Die Katarakt bedeutet für die Betroffenen eine Quelle großer Angst und Verunsicherung. Das wird besonders dann deutlich, wenn eine Katarakt-Extrak­tion bevorsteht, deren ja oftmals nicht vorhersehbares Ergebnis naturgemäß verunsichert.

- Zum Schluss ein Phänomen, das jedoch eher selten und dann zumeist im höheren Lebensalter verunsichert oder gar ängstigt, nämlich Halluzinationen (Sinnestäuschungen, Trugwahrnehmungen) ohne Geistesstörung, wie sie beispielsweise bei einer Alters- oder schizophrenen Psychose möglich ist. Der Fachausdruck lautet Charles de Bonnet-Syndrom nach seinem Erstbeschreiber vor über 150 Jahren und die Ursache ist eine hochgradige Sehschwäche, aus der dann beängstigende Trugbilder erwachsen können. Die therapeutischen Möglichkeiten sind leider begrenzt, da die bei Halluzinationen ansonsten antipsychotisch wirksamen Neuroleptika kaum greifen, zumal die Ursache ja die meist nicht korrigierbare Sehschwäche ist.

Schlussfolgerung

Die seelische Grundstruktur jedes Blinden ist vorgegeben und weicht deshalb nicht von vornherein von denen der Sehenden ab. Andererseits hat der Ausfall eines so wichtigen Sinnes erhebliche Rückwirkungen auf die Lebens-Umstän­de eines Menschen. Dadurch werden auch seine psychischen Empfindungen und Reaktionen in Mitleidenschaft gezogen. Hier gibt es zwar Unterschiede, je nach Zeitpunkt der Sehstörung/Erblindung sowie psychosozialen Aspekten, doch eines ist allen gleich: Neben den nachvollziehbaren Folgen wie Beunruhigung, Entsetzen, Trauer, Schock, Depression bis hin zur Suizidgefahr u. a., etwas ist doch anders als früher: gemeint sind die heutigen Möglichkeiten, damit zumindest in einem bestimmten Rahmen besser fertig zu werden. Das beginnt mit den gesetzlichen Vorgaben (z. B. Blindengeld, Blindenhilfe) und geht über Orientierungs- und Mobilitätsschulungen, technische Unterstützungsmaßnahmen u. a. bis zur Blindenschrift in Zeitschriften und Büchern, besonderen Ausgabe-Geräten für den PC, Hörbüchereien und sprechenden Geräten wie spezielle Uhren u.a.m.

Hochgradige Sehstörung oder Blindheit ist ein hartes Los, wer bezweifelt es. Doch sollten die Betreffenden nicht verzagen, sondern alles nutzen, was – nochmals betont: im Gegensatz zu früher – heute alles als kompensierende, zumindest aber abmildernde Möglichkeiten zur Verfügung steht.

Dazu auch dieser kurz gefasste Beitrag der Experten H.-J. Merté, H. Friedrich und R. Hahmann aus dem Lehrbuch für Psychiatrie des Gustav Fischer-Verlags, Stuttgart 1995

Literatur

Gutes Angebot an wissenschaftlich fundierten Fach- und allgemeinverständlichen Sachbüchern. Vor allem auch entsprechende Hinweise im Internet (s. u.). Nachfolgend eine beschränkte Auswahl auch älterer Beiträge, die besonders das seelische und psychosoziale Problem beleuchten:

Blankennagel, A. : Hilfe für sehgeschädigte Kinder. Ernst Klett-Verlag, Stuttgart 1995

Burk, A., R. Burk : Checkliste Augenheilkunde. Thieme-Verlag, Stuttgart 2005

Heimers, W. : Wie erziehe ich mein blindes Kind? Verein zur Förderung der Blindenbildung e.V., Hannover-Kirchrode 1965

Lang, G. : Augenheilkunde. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 2008

Merté, H.-J., H. Friedrich, R. Hahmann : Psychische und psychosoziale Besonderheiten bei Blindheit. In: V. Faust (Hrsg.): Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Klinik, Praxis und Beratung. Gustav Fischer-Verlag, Stuttgart-Jena-New York 1995

Perls, F.S. : Gestalt, Wachstum, Integration. Pfeiffer-Verlag, Paderborn 1980

Scholtyssek, H. : Späterblindete In: Bücherei des Augenarztes, Heft 19, Enke-Verlag, Stuttgart 1948

Schuchardt, E. : Soziale Integration Behinderter. Klinkhard-Verlag, Braunschweig 1980

Weinleder, H. : Psychologie der Blinden und Sehbehinderten. In: H. Rath, P. Hudelmeyer (Hrsg.): Handbuch der Blindenpädagogik. Karl Marhold-Verlag, Berlin 1985

Online-Informationen:

Online-Informationen des Berufsverbands der Augenärzte Deutschlands e.V. – BVA: www.augeninfo.de

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
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