Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
Seelische Störungen in fremden KulturenKulturspezifische Störungen - kulturgebundene Syndrome - kulturreaktive Syndrome - ethnische Psychosen - exotische Psychosen - u.a.
Seelische Störungen gehören zu den schwierigsten Kapiteln menschlichen Leids. Das betrifft nicht nur Krankheitsbild und psychosoziale Folgen, das betrifft auch das rechtzeitige Erkennen, Verstehen, ja Akzeptieren und schließlich Behandeln und Vorbeugen. Noch schwieriger wird es dann, wenn es sich um sogenannte kulturspezifische Störungen handelt, für die schon rein ethnologisch (völkerkundlich) das notwendige Wissen und damit Verständnis gar nicht gegeben ist, ganz zu schweigen von der "kulturgebundenen Psychopathologie", also der jeweils kulturspezifischen Krankheitslehre. Und doch nimmt das Interesse zu. Zum einen durch die schrumpfenden Entfernungen auf dieser Erde, vor allem aber durch entsprechende Reiseerfahrungen im Rahmen des wachsenden Tourismus und durch Menschen anderer Völker und Rassen, die immer häufiger auch in unseren Regionen Kontakte knüpfen, Besuche machen und Arbeit finden. Was heißt Transkulturelle Psychiatrie? Die medizinische Disziplin, die sich mit solchen "fernen seelischen Störungen" befasst, ist die Transkulturelle Psychiatrie, auch als Ethnopsychiatrie, Anthropologische Psychiatrie oder Vergleichende Psychiatrie, gelegentlich auch als Kulturpsychiatrie, kulturbezogene oder kulturorientierte Psychiatrie bezeichnet. Unter Transkultureller Psychiatrie versteht man jenen Zweig der Sozialpsychiatrie, der sich mit den kulturellen Aspekten der Entstehung, Häufigkeit, Form und Therapie psychischer Störungen in verschiedenen Kulturen befasst. Wichtige Gemeinsamkeiten verbinden die Transkulturelle Psychiatrie mit der Transkulturellen Psychologie sowie bestimmten Sozialwissenschaften wie Anthropologie (Wissenschaft vom Menschen und seiner Entwicklung in natur- und geisteswissenschaftlicher Hinsicht bzw. Geschichte der Menschenrassen), Ethnologie (Völkerkunde - siehe oben) und Soziologie (Wissenschaft, die sich mit dem Ursprung, der Entwicklung und der Struktur der menschlichen Gesellschaft befasst). Dabei geht es besonders um die unverändert aktuellen Probleme wie Migration (Wanderung und Bewegung von Individuen oder Gruppen im geographischen oder sozialen Raum, verbunden mit einem Wechsel des Wohnsitzes) und um einen Kulturwandel. Einzelheiten zu diesem immer bedeutsamer werdenden Themenkreis siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Internet-Serie. Nachfolgend lediglich eine kurz gefasste Übersicht über jene kulturspezifischen Störungen, die auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrer Internationalen Klassifikation psychischer Störungen - ICD-10 aufführt bzw. die in entsprechenden Lehrbuch-Kapiteln und Falldarstellungen erläutert werden. Dabei handelt es sich lediglich um einen kleinen Ausschnitt, um wenigstens anzudeuten, was alles an kulturgebundenen psychischen Krankheitsbildern möglich ist. Welches sind die wichtigsten kulturspezifischen Störungen? Ob wichtig, häufig oder vernachlässigbar bis "exotisch" hängt von vielen Faktoren ab. So sind einige Störungen in der Tat sehr selten, andere vergleichsweise häufig, auch wenn wir wenig darüber erfahren. Viele zeichnen sich durch plötzlichen Ausbruch (Fachbegriff: akut) aus und gehen wieder rasch vorüber (was nebenbei die systematische Erforschung erschwert). Andere belasten mittelfristig oder gar ein Leben lang. Auf jeden Fall kann die Bedeutung solcher kulturspezifischer Störungen, auch wenn sie sich für unser Verständnis noch so "absonderlich" anhören, eigentlich nur für den jeweiligen Kulturkreis ermessen werden. Aus wissenschaftlicher Sicht wird sie meist kontrovers diskutiert. Viele Experten meinen, dass sich solche kulturgebundenen Syndrome (Beschwerdebilder aus typischen Krankheitszeichen) lediglich nach Schweregrad oder Leidensbild von jenen, offensichtlich verwandten seelischen Störungen unterscheiden, die auch in der westlichen Welt anzutreffen sind. Dort werden sie in der Regel als sogenannte Belastungsreaktionen, Angststörungen, Depressionen u.a. bezeichnet. Deshalb - so ihre Anregung - sollte man sie eher als "lokale Variationen" allgemein bekannter seelischer Störungen auffassen. Auch wurde eingewendet, dass es sich nur scheinbar um "kulturgebundene" Phänomene in spezifischen Bevölkerungen handelt, im Grunde findet man die meisten in ganz unterschiedlichen Volksstämmen, Ländern, ja Kontinenten. Auf jeden Fall gibt es einen großen Forschungsbedarf, um Beschwerdebild, Verteilungsmuster, Häufigkeit und Verlauf aufzuklären. Da wir in dieser Welt aber langsam immer mehr "zusammenrücken", geraten auch kulturspezifische Störungen immer häufiger in den Blickpunkt wissenschaftlicher Bemühungen, und zwar multi-disziplinär (fächer-übergreifend). Nachfolgend deshalb erst einmal die erwähnte kurz gefasste Übersicht, gleichsam in Stichworten (nach WHO: Taschenführer zur Klassifikation psychischer Störungen, 2001): Amok Unter Amok - heute leider ein offenbar zunehmendes Gewalt-Phänomen - versteht man eine willkürliche, offenbar nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich zerstörerischen Verhaltens. Danach Amnesie (Erinnerungslosigkeit) und/oder Erschöpfung. Nicht wenige solcher Amok-Attacken gipfeln im Suizid (Selbsttötung). Die meisten Ereignisse treten ohne Vorwarnung auf. Einigen geht für eine gewisse Zeit das Gefühl intensiver Angst, ja Feindseligkeit voraus. Bisher hatte man den Eindruck, dass der Amok-Lauf vor allem dort auftritt, wo sich extreme Aggressions-Durchbrüche und suizidale Tendenzen im Rahmen von Kriegshandlungen schon traditionell einer besonderen Wertschätzung erfreuen. Hier scheint sich einiges zu ändern. Amok-Attacken gab es nach herkömmlicher Erkenntnis bisher vor allem in Hinterindien (Indonesien, Malaysia) sowie in anderen fernöstlichen Kulturbereichen. Beispiele: Neu Guinea (Ahade idzi be genannt), in Südafrika (z. B. Benzi mazurazura bei den Shona und verwandten Gruppen), in Polynesien, in den Andenstaaten Bolivien, Kolumbien, Equador und Peru, auf der koreanischen Halbinsel (Hwa-byung) sowie bei bestimmten Ureinwohnern des Südwestens der USA (Iich'aa). Allerdings ist uns aus dem früheren Schrifttum auch ein skandinavischer Begriff bekannt, nämlich der sogenannte Berseker-Gang. Will man den Amok-Lauf psychiatrisch klassifizieren, dann wird er am ehesten unter die in der westlichen Welt üblichen Diagnosen Persönlichkeitsstörung und Verhaltensstörung eingeordnet. Weitere Einzelheiten zu diesem Thema, insbesondere mit dem Problem, dass vieles, was heute Amok genannt wird, gar nicht mit der ursprünglichen Definition zu tun hat, siehe das spezielle Kapitel in dieser Internet-Serie. Dhat, Dhatu, Jiryan, Shen-k'uei, Shen-kui Unter Dhat u.a. versteht man Angstzustände und körperliche Beschwerden wie Erschöpfung und Muskelschmerzen, was nichts besonderes wäre, stünde es nicht im Zusammenhang mit der Furcht vor Spermaverlust bei Männern (im übrigen auch bei Frauen, nämlich dort, wo man annimmt, dass auch im weiblichen Körper Samenzellen produziert werden). Im Vorfeld einer solchen Erkrankung, die vor allem in Indien, China und Taiwan auftritt, finden sich offenbar eine exzessive Beischlaf-Häufigkeit, Blasenstörungen, Beeinträchtigungen verschiedener Organfunktionen und eine vorangegangene Diät. Das Haupt-Symptom ist ein weißlicher Ausfluss im Urin, der als Sperma-Verlust interpretiert wird. Traditionelle Heilmittel sind vor allem pflanzliche Stärkungsmittel zur Wiederherstellung des Sperma oder der offensichtlich "in Unordnung geratenen Körpersäfte". Dieses Phänomen wird in China auch Koro und in Ägypten Rabt genannt. In westlichen Klassifikationen würde man es unter neurotische Störungen einordnen. Oder unter somatoforme autonome Funktionsstörung des Urogenitalsystems, früher als psychosomatische Störung im Bereich der Geschlechtsorgane bezeichnet. Koro, Jinjin, bemar, Suk yeong, Suo-Yang Bei Koro u.a. handelt es sich um die Furcht oder gar Panik vor einer "Retraktion des Genitales". Was heißt das für die Betroffenen in Südost-Asien, Südchina, Indien oder Ägypten? In schweren Fällen sind die Männer der Überzeugung, dass sich der Penis sofort in den Unterleib zurückziehen wird. Frauen ihrerseits glauben, ihre Brüste, die Vulva (weibliche Scham) oder die Labien (Schamlippen) werden eingezogen. Für die Betroffenen ist das kein Scherz, sie erwarten schreckliche Konsequenzen. In einzelnen Untersuchungen glaubt man, dass vor allem bestimmte Krankheiten, aber auch Kälte und exzessiver Beischlaf als belastende (Zusatz-) Faktoren mitentscheidend sein könnten. Einen noch größeren Einfluss aber dürften zwischenmenschliche Konflikte oder bestimmte soziokulturelle Anforderungen in der jeweiligen Gesellschaft haben. Die Störung beginnt unerwartet, plötzlich und intensiv. Die Reaktionen darauf sind unterschiedlich: Die meisten "Opfer" versuchen ihre äußeren Geschlechtsmerkmale regelrecht festzuhalten, insbesondere den Penis (darüber gibt es in den Lehrbüchern eindrucksvolles Bildmaterial von verzweifelten Betroffenen, das auch das Lächeln ungläubiger Betrachter versiegen lässt). Wie ernst das Ganze genommen wird zeigt die Erfahrung, dass sich auch Familienmitglieder bereit erklären, hier konkrete Hilfestellung zu leisten. Dabei werden sogar Schienen oder Geräte zur Verhinderung dieser "Retraktion" eingesetzt - und natürlich Naturheilmittel, Massage und selbst Fellatio (eigentlich in rein sexueller Hinsicht "Mundverkehr", hier eine Mund-Stimulation des Penis zu therapeutischen Zwecken). Ein ähnliches Phänomen wird in Indien Dhat und in Ägypten Rabt genannt. Im Westen würde man dies als neurotische Störung oder somatoforme autonome Störung des Urogenitalsystems bezeichnen. Latah Unter Latah versteht man eine übertriebene Reaktion auf eine ängstigende Situation oder ein Trauma (z. B. Schicksalsschlag), gefolgt von
Die Fachleute interpretieren solche Fälle, die sich meist in Indonesien oder Malaysia, aber auch in anderen Regionen dieser Erde abspielen, recht unterschiedlich. Die einen als sogenannte neurophysiologische Reaktion (in der also eigentlich normale gehirn- und nerven-bedingte Funktionen ablaufen), die anderen als hypersuggestiblen Zustand, also gleichsam "extrem überbeeinflussbar". Wieder andere schließlich als einen "Psycho-Mechanismus", bei dem ein niedriges Selbstbewusstsein "durchschlägt". Das Umfeld findet solche Episoden mit dem eigenartigen imitierenden (mechanisch nachahmenden) Verhalten meist amüsant. Die Betroffenen dagegen fühlen sich gedemütigt. Eine solche Reaktion auf ängstigende Situationen oder psychosoziale Beeinträchtigungen ist natürlich nicht auf einige wenige Regionen dieser Erde beschränkt. Ähnliches findet man auch in Sibirien (Amurakh), in Thailand (Bah-tsi), bei den Ureinwohnern Japans (Imu), in Kanada (Jumping Frenchmen), in Lappland (Lapp panic), auf den Philippinen (Mali-mali), in Mexiko, Zentral- und Südamerika (Susto) und im früheren Burma (Yaun). In der westlichen Welt bezeichnet man so etwas als neurotische Störung bzw. Konversionsstörung oder dissoziative Störung. Nerfiza, Nerves, Nevra, Nervios Hier zeigt schon der Name, was beeinträchtigt ist: nämlich im übertragenen Sinne die "Nerven". Es handelt sich um eine gar nicht so seltene, oft schließlich sogar chronische Episode ausgeprägten Unglücklichseins. Dazu Ängstlichkeit mit vielfältigen körperlichen Beschwerden wie Kopf- und Muskelschmerzen, Appetitverlust, Übelkeit, Schlafstörungen, Müdigkeit, Unruhe und eine herabgesetzte Reaktionsbereitschaft. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. In entsprechenden Untersuchungen zeigte sich in der Regel ein enger Zusammenhang mit Stress, Ärger, gemütsmäßigen Belastungen und vermindertem Selbstbewusstsein. Die Behandlung umfasst deshalb traditionellerweise Kräutertees, "Nervenpillen", Ruhe, Rückzugsmöglichkeit und familiäre Unterstützung. Dass sich so etwas nicht nur in Ägypten, Nordeuropa, Griechenland, Mexiko, Zentral- und Südamerika abspielen kann, wie obige Fachbegriffe in der jeweiligen Landessprache beweisen, zeigen auch verwandte Beschwerdebilder in anderen Teilen dieser Welt: Nigeria (Brain fag), Mexiko, Zentral- und Südamerika mit den Phänomenen Colerina, Pension oder Bilis, China (Hsieh ping, Xie-bing), Korea (Hwa-byung), Iran (Narahati-e a sab, Maraz-e a sab) sowie bei den Inuits, den Eskimos (Qissaatuq). In den westlichen Klassifikationen fällt dies entweder unter eine depressive Episode mit körperlichem Beschwerdebild oder unter die Neurasthenie (früher einfach "Nervenschwäche" genannt, heute ein Leiden mit halbwegs konkret definiertem Beschwerdebild. Eine mögliche Diagnose ist auch die sogenannte undifferenzierte Somatisierungsstörung. Pa-leng, Frigophobie Unter diesem Phänomen mit Schwerpunkt in Südostasien, China und vor allem Taiwan versteht man einen ausgeprägten Angstzustand mit unverhältnismäßiger Furcht vor Kälte und Wind. Und zwar nicht vor den Folgen dieser meteorologischen Einflüsse, sondern wegen der Überzeugung, Kälte und Wind verursachten Müdigkeit, Impotenz oder Tod. Die Folgen kann man sich denken: Die Betroffenen tragen vorsorglich und fast zwanghaft schwere Kleidung, oft übermäßig viel übereinander. Diese Ängste werden vor allem durch die kulturspezifische Auffassung verstärkt, es handele sich tatsächlich um eine organische Störung. Und diese ist nicht nur auf obige Regionen beschränkt, auch in Mexiko, Zentral- und Südamerika gibt es ähnliche Syndrome mit dem Namen Agua frio, Aire frio oder einfach Frio. Im Westen würde man dies unter die spezifischen Phobien (Zwangsbefürchtungen) einordnen. Pibloktoq, arktische Hysterie Wie schon der Name sagt, handelt es sich um ein dramatisches krankhaftes Geschehen, eine Hysterie aus der arktischen Region, das vor allem Inuits (wie sich die Eskimos selber nennen) betrifft. Es beginnt mit Müdigkeit, Deprimiertheit oder Verwirrtheit. Danach folgt ein "Anfall" mit
Die meisten dieser Anfälle dauern nur wenige Minuten. Anschließend Bewusstseinsverlust mit Amnesie (Erinnerungslosigkeit) und glücklicherweise vollständiger Remission (Gesundung). Verletzungen sind selten. In einigen Untersuchungen meint man, es könne sich um eine hypokalzämische Tetanie handeln (Muskel-Übererregbarkeit durch zu wenig Kalzium im Blut durch Vitamin D-Mangel). Die meisten Wissenschaftler sehen jedoch einen Zusammenhang mit zwischenmenschlichen Ängsten und soziokulturellen Belastungen. Solche hysterischen Zustände sind natürlich nicht nur auf die Arktis beschränkt. Vergleichbares sieht man in Indonesien und Malaysia (Latah und Amok - siehe dieser), im Kongo und in Malawi (Banga, Misala), in Südafrika (Ebenzi), bei den Ureinwohnern von Honduras (Grisi siknis) sowie bei den Ureinwohnern Japans (Imu), auf den Philippinen (Mali-mali) und bei den Bantu, Zulu und verwandten afrikanischen Gruppen (Ufufuyane). Bei den Eskimos kursieren übrigens noch Begriffe, die wahrscheinlich das Gleiche bezeichnen (Nangiarpok, Kayak-Angst und schließlich Quajimaillituq). In westlichen Klassifikationen würde man so etwas eine Konversionsstörung oder gemischte dissoziative Störung nennen. Susto, Espanto Unter Susto versteht man sehr unterschiedliche und meist chronisch werdende Beschwerden, in der Regel nach einem heftigen und oft "übernatürlichen" Schrecken, der zum "Verlust der Seele" führt. In einigen Fällen werden solch traumatische (seelisch verwundende) Ereignisse gar nicht selber erlebt. Manche erkranken auch, wenn andere, meist nahe Verwandte ein entsprechendes Erschrecken überfällt. Das äußert sich in innerer Unruhe, Anspannung, nervöser Hektik (Fachbegriff: Agitiertheit), in Anorexie (Magersucht), Schlafstörungen, Fieber, Diarrhoe (Durchfall), Verwirrtheit, Apathie (Gefühllosigkeit, Teilnahmslosigkeit), in depressiven Verstimmungen, Rückzug und Isolationsneigung. In manchen Studien vermutet man eine organische Ursache, nämlich eine Hypoglykämie (Unterzuckerung), andere sprechen von unspezifischen organischen Erkrankungen, von Stress und generalisierten Angststörungen auf Grund von psychosozialen Konflikten und vermindertem Selbstwertgefühl. Dieses Leiden findet sich vor allem in Mexiko, Zentral- und Südamerika. Doch auch auf den Philippinen (Lanti), in Indonesien und Malaysia (Latah), bei den Ureinwohnern Australiens (Malgri), in Neu-Guinea (Mogo laya), im Iran (Narahati) und im Amazonasgebiet (Saladera) finden sich ähnliche Phänomene beschrieben. Westliche Klassifikationen würden dies als neurotische Störungen oder undifferenzierte Somatisierungsstörungen bezeichnen. Taijin kyofusho, Shinkeishitsu, Anthropophobie Diese Störung, die - wie die zwei japanischen Fachbegriffe nahe legen - vor allem im fernen Osten vorkommt, insbesondere bei jungen (meist männlichen) Erwachsenen, ist durch eine Angst vor sozialen Kontakten gekennzeichnet. Dies betrifft insbesondere Kontaktstörungen mit Freunden. Dazu kommt eine extreme Gehemmtheit, z. B. durch Sorgen wegen der körperlichen Erscheinung, des Körpergeruchs oder wegen beschämenden Errötens. Und die Angst, sich eine Krankheit zuzuziehen. Körperliche Symptome umfassen meist Kopf-, Bauch- und diffuse Körperbeschwerden anderer Art, ferner Müdigkeit und Schlafstörungen. Die Betroffenen sind in der Regel hochintelligent und kreativ, neigen aber zu perfektionistischen bis zwanghaften Tendenzen. Offenbar sind es gerade in Japan bestimmte kulturelle Werte, die eine sogenannte "Übersozialisation" bei einigen Kindern fördern - und damit Gefühle von Unterlegenheit und Angst in entsprechenden Situationen. Möglich ist dies auch in anderen Regionen, z. B. in Nigeria (Itiju) u.a. Westliche Nationen kennen dies als soziale Phobien oder - wenn mehrere krankhafte Ängste zusammen kommen - als sonstige Phobien (Zwangsbefürchtungen). Ufufuyane, Saka Hier handelt es sich um einen spezifischen Angstzustand, der vor allem bei den Bantu, Zulu und verwandten Gruppen, insbesondere in Südafrika und Kenia zu finden ist. Diese Angststörung geht entweder auf Besessenheit zurück oder auf magische Getränke, die von abgewiesenen Geliebten verabreicht worden sein sollen. Typisch sind Schreien, Schluchzen, wiederholte Neologismen (Wortneubildungen), ja Lähmungen, Krämpfe und ein trance-ähnlicher Stupor (seelisch-körperliche Blockierung) oder Bewusstseinsverlust. Die meisten Betroffenen sind junge, unverheiratete Frauen. Einige erleben Albträume mit sexuellen Inhalten oder sogar Episoden vorübergehender Blindheit. Die mitunter Tage oder Wochen anhaltenden Episoden können durch den Anblick von Männern oder Fremden ausgelöst werden. Ähnliche Phänomene findet man auch in Nigeria (Aluro), in Thailand (Phii pob) sowie in Ägypten, Äthiopien und im Sudan (Zar). In der westlichen Welt ordnet man dies in die Kapitel Trance und Besessenheitszustände oder gemischte dissoziative Störungen ein, auch Konversionsstörungen genannt. Uqamairineq Das sind bei den Eskimos (Inuits) plötzliche Lähmungen, verbunden mit Angst, Agitiertheit (innere Unruhe, Nervosität, Fahrigkeit, Anspannung), und zwar vor allem beim Übergang vom Wachen zum Schlafen oder umgekehrt. Und das alles ggf. sogar durch Halluzinationen (Sinnestäuschungen, Trugwahrnehmungen) verstärkt. Die meisten Attacken dauern nur einige Minuten und gehen vollständig zurück. Es gibt aber auch mittelfristige bis chronische Verläufe. Diese Störung scheint ziemlich häufig zu sein. Sie wird traditionellerweise mit dem Verlust der Seele, mit Seelenwanderung oder Besessenheit in Zusammenhang gebracht. Oder als Narkolepsie, interpretiert, einer sonderbaren Schlafstörung aus der Gruppe der Hypersomnien mit Kataplexien (dramatische Muskelschwäche bis zum Hinstürzen) einschließlich Schlaflähmung (totale Bewegungsunfähigkeit). Ähnliches findet man auch in Nigeria (Aluro), in Neufundland (Old hag) und in Thailand (Phii pob). Im Westen bezeichnet man dies als Konversions- oder dissoziative Störungen. Oder als Narkolepsie mit Kataplexie einschließlich Schlaflähmung. Windigo Bei diesem ungewöhnlichen Phänomen (mit verschiedenen Schreibweisen) der Ureinwohner in Nordostamerika handelt es sich um kannibalistische Zwangshandlungen. Traditionellerweise werden die (glücklicherweise seltenen) Fälle als Besessenheit beschrieben, wobei sich die Betroffenen (überwiegend Männer) in "kannibalistische Monster" verwandeln sollen. Das Krankheitsbild umfasst depressive Verstimmungen sowie Suizidgedanken, aber auch Mord-Ideen. Diese werden geleitet von dem wahnhaften und fast zwanghaften Wunsch, Menschenfleisch zu essen. Die meisten Betroffenen werden sozial geächtet oder gar getötet. Frühere Untersuchungen beschrieben solche Episoden als hysterische Psychose (Geisteskrankheit mit hysterischen Zügen), ausgelöst durch chronischen Nahrungsmangel, aber auch kulturelle Mythen (Sagen) von Hunger und sogenannten Windigo-Monstern. Neuere Studien bezweifeln die Existenz dieses Phänomens. Sie behaupten, die Fallgeschichten seien ein Produkt feindlicher Beschuldigungen, erfunden, um die Ächtung oder Tötung der Betroffenen zu rechtfertigen. Falls es überhaupt vergleichbare Syndrome gibt, dann am ehesten in Malaysia (Amok), in China und Taiwan (Hsieh-ping) und in Ägypten, Äthiopien und im Sudan (Zar). In westlichen Klassifikationen würde man dies als extreme Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen bezeichnen. Schlussfolgerung Seelische Störungen hat es zu allen Zeiten, in allen Kulturen und bei allen Völkern gegeben. So finden sich auch die ältesten Überlieferungen im Alten Testament, bei Homer, dem einflussreichsten griechischen Dichter acht Jahrhunderte vor Christi Geburt, und später praktisch in allen Epochen und Kulturen, zuerst in mündlicher und nach der Einführung der Schrift in schriftlicher Überlieferung. Danach wurde aber auch deutlich, vor allem durch die arabischen, indischen, chinesischen und anderen Krankheitsberichte, dass insbesondere seelische Störungen ihre eigenen kulturspezifischen Entwicklungen zu nehmen pflegen. Eindrucksvolle Falldarstellungen gibt es schon seit mehreren hundert Jahren, konkrete medizinische Bemühungen seit Mitte des 19., exakte wissenschaftliche Untersuchungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Freilich stufte man solche Ereignisse in der westlichen (auch wissenschaftlichen) Welt zuerst als exotische Kuriositäten ein. Nach und nach aber wurde klar, dass auch die sogenannten "zivilisatorischen Nationen" nicht die grundsätzliche Unterscheidung gepachtet haben, was als "normal" und "anormal" zu bezeichnen ist. Hier gilt es die speziellen kulturellen Aspekte zu berücksichtigen. Darum bemüht man sich nun seit über hundert Jahren - aber einfacher ist es nicht geworden. Manches geht auch in der "Globalisierung" dieser Welt still und leise unter. Das hat Vor- und Nachteile. Anderes hält sich, manchmal gerade wegen des in manchen Kulturen förmlich im Eilschritt erzwungenen zivilisatorischen Wandels. Und manches taucht auch in der westlichen Welt als umgedeuteter Begriff oder "neues" Phänomen auf, obgleich auf dieser Erde vermutlich nichts völlig neu ist. Auf jeden Fall entwickelt sich ein zunehmendes Interesse an der Transkulturellen Psychiatrie, nicht zuletzt durch die wachsenden Migrationsbewegungen mit Vermischung der Völker, teils durch Krieg, Diktaturen und Vertreibung, teils durch wirtschaftliche Not oder auch nur wechselseitige touristische Kontakte. So kann es nicht schaden, sich zumindest mit einigen seelischen Störungen aus fremden Kulturen vertraut zu machen. Denn es gilt nicht nur der Satz: "Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gestellt". Es gilt auch der Satz: Keine exakte Diagnose ohne Verständnis der zugrunde liegenden seelischen, körperlichen und psychosozialen, vor allem eben auch gesellschaftlichen Bedingungen. Möge das vorliegende Kapitel einen kleinen Beitrag dazu leisten. Literatur Trotz der scheinbaren Besonderheit dieses Themas, zumindest was das Interesse der westlichen Welt im Allgemeinen und auch der Medizin im Speziellen anbelangt, gibt es eine umfangreiche Literatur, wenngleich überwiegend älteren Datums, vor allem was die deutschsprachigen Beiträge anbelangt. Adler, L.: Amok. Belleville-Verlag, München 2000. Didtrich, A., C. Scharfetter (Hrsg.): Ethnopsychiatrie. Enke-Verlag, Stuttgart 1987 Helmchen, H. u. Mitarb. (Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart 1: Grundlagen der Psychiatrie. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 1999 Jilek, W. G., L. Jilek-Aal: Kulturspezifische Psychische Störung. In: H. Helmchen u. Mitarb. (Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart 3: Psychiatrie spezieller Lebenssituationen. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 2000 (mit ausführlichem, meist englisch-sprachigem Literaturverzeichnis) Petrilowitsch, N. (Hrsg.): Beiträge zur vergleichenden Psychiatrie. Band 1 und 2. Karger-Verlag, Basel 1967 Pfeiffer, W. M.: Transkulturelle Psychiatrie. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 1994 (Grundlage vorliegender Ausführungen) Pfeiffer, W. M., W. Schoene (Hrsg.): Psychopathologie im Kulturvergleich. Enke-Verlag, Stuttgart 1980 Uexküll, Th. v. (Hrsg.): Lehrbuch der Psychosomatischen Medizin. Urban & Schwarzenberg, München 1979 WHO: Taschenführer zur Klassifikation psychischer Störungen mit Glossar und Diagnostischen Kriterien - ICD-10: DCR-10. Verlag Hans Huber, Bern-Göttingen-Toronto-Seattle 2001 (Grundlage vorliegender Ausführungen) |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |