Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
GEWALTVERBRECHER
"Was sind das nur für Menschen?" Diese Frage drängte sich bei den meisten auf, ratlos bis empört, wenn man wieder einmal vom Mord, Vergewaltigung, vielleicht sogar von Serienmord und -Vergewaltigung, von erpresserischem Menschenraub, Sprengstoffanschlägen, Terrorismus u. a. hört. Was sind das also für Menschen? Das beschäftigt natürlich auch die Fachleute, nämlich Kriminologen, Psychologen, Psychiater, Soziologen, Kriminalbeamte und am Schluss Staatsanwälte für die Anklage, Rechtsanwälte für die Verteidigung und die Richter. Und wenn es zur Verurteilung kommt, interessieren sich auch die Vollzugsbeamten für ihre Gefängnis-Insassen. Die Experten nennen das, was es zu erarbeiten gilt, eine Täterprofil-Erstellung (weshalb der noch relative junge Fachbereich auch "Profiling" genannt wird). In den letzten drei Jahrzehnten ist deshalb der Erkenntnisstand enorm gewachsen. Das ist erfreulich, hat aber auch seine negativen Seiten. Der Erkenntnis-Zuwachs kann auch für mehr Verwirrung denn Klarheit sorgen. Deshalb versuchen die Experten sich in Arbeitskreisen, Fachgesellschaften und persönlichem Erfahrungsaustausch zu orientieren, studieren die zahlreichen Fach-Publikationen, gehen auf Kongresse - und schreiben Bücher bzw. geben sie als Sammelbände heraus. Eines davon ist das empfehlenswerte Fachbuch Täterprofile bei Gewaltverbrechen, jetzt in 2. überarbeiteter und erweiterter Auflage von den Kriminalpsychologen Dr. Cornelia Musolff (Justizvollzugsanstalt Ülzen) und Dr. Jens Hoffmann (Institut für Psychologie & Sicherheit, Aschaffenburg) herausgegeben. Es ist ein Sammelband mit 18 speziellen Kapiteln von der Theorie über die Ermittlungspraxis bis zur forensischen Anwendung, geschrieben von mehr als einem Dutzend Experten: Psychiater, Psychologen, Kriminologen, Rechtsmediziner, Kommunikationswissenschaftler, Gerichtsmediziner, leitende Polizeibeamte u. a., also für eine entsprechend geschulte Fach-Leserschaft. Vieles aber dürfte auch dem interessierten Laien etwas bieten, zumindest wenn er auch nur indirekt mit diesen bedrückenden Fragestellungen zu tun hat.
Das Buch ist eine faszinierende Mischung aus "wissenschaftlicher Spuren-Suche" im weitesten Sinne, auch wenn das eigentliche Thema natürlich "böse aufstößt". Die Titel der einzelnen Kapitel sprechen für sich: Täterprofile und Fall-Analysen, über Mythen-Bildung und die tägliche Arbeit der Crime-Profiler, zur sozialen Symbolik von Serienkillern und Profilern, auf der Suche nach der Struktur des Verbrechens, Theorien und Methoden der Ermittlungspsychologie, hermeneutische Verfahren in der Verbrechensbekämpfung, Entwicklungen in der akademischen Täterprofilforschung, kriminologische, evolutions- psychologische und fall-analytische Aspekte, geografische Fall-Analysen, neue Wege in der Ermittlungspraxis, Versionen eines Mordes, Tatortanalyse in der forensischen Psychiatrie (Rekonstruktion des Tatgeschehens für Diagnose, Therapieplanung und Prognose), fall-analytische Verfahren in der Behandlung von Straftätern in Justizvollzugsanstalten u.a.m. Ein Kapitel weckt auch bei psychosozial interessierten Laien besonderes Interesse. Es ist geschrieben von Dr. Simone Ullrich (zurzeit Queen Mary-Universität London, früher Halle) und Prof. Dr. Dr. A. Marneros (Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Halle). Es trägt den schon einleitend benutzten Titel: "Was ist das nur für ein Mensch, der so etwas tun konnte?" Der Fach-Untertitel lautet: Von der Individualisierung zur Typologisierung von Täter-Profilen. Oder einfach nochmals verkürzt: Was ist das nur für ein Mensch? Diese Frage ist also nicht selten und wird immer neu gestellt, selbst von "alten Hasen" wie die zuständigen Wissenschaftler (s. o.), die Staatsanwälte und Richter, aber auch die Experten "an der Front", die Kriminalbeamten, die ein Gewaltverbrechen aufzuklären haben. Natürlich ist sie nicht neu, im Gegenteil: Sie ist so alt wie die Menschheit und wurde - wie die Autoren einleitend erläutern - schon zu Beginn des philosophischen Denkens vor 2.600 Jahren gestellt. Und eigentlich immer gleich beantwortet: Die Verantwortung liegt beim Menschen selber, hängt von seiner Persönlichkeit ab. Dies vor allem nach der großen Revolution im Denken, nämlich der Geburt der Philosophie, die die Handlungen des Menschen, seine Neigung zum Guten oder zum Bösen von dem Willen der Götter und dem Übernatürlichen befreit und seinem eigenen Willen unterstellt hat. Damit wurde der Mensch aber auch verantwortlich für sein Verhalten - jedenfalls zum Teil. Denn in den ersten wissenschaftlichen Typologien, beginnend mit dem "Urvater der Medizin", nämlich Hippokrates im 5. Jahrhundert v. Chr., versuchte man sich auch schon in Typologisierungen der Persönlichkeit. Das war sogar ein zentrales Thema der antiken Philosophen, die ja damals gleichzeitig Philosophen, Soziologen und z. T. auch medizinische Autoritäten waren: Sokrates, Platon, Aristoteles, Theophrast, der schon erwähnte Hippokrates u. a. Bereits die Einteilung in Temperamente, nämlich phlegmatisch, sanguinisch, melancholisch und cholerisch, enthielt gewissermaßen eine Einschränkung der individuellen Freiheit; dadurch war ja die Persönlichkeitsstruktur durch diese "humorale Konstellation" vorbestimmt. Deshalb hat die Natur, die Biologie und die Konstitution, zumindest eine mitgestaltende Rolle für die Persönlichkeitsentwicklung. Und damit auch für Tun und Lassen eines jeden von uns. Diese Zweiteilung, nämlich der Persönlichkeitstyp und gewisse biologische, soziologische und vor allem psychosoziale Kriterien (z. B. die jeweilige Konstitution) sind letztlich bis heute das zentrale Thema der Wissenschaftler geblieben: von Cesare Lombroso (mit seiner berühmt gewordenen Schrift über den "geborenen Kriminellen", 1876) über den Psychiater Richard von Krafft-Ebing (auf dass die Justiz nicht nur das Verbrechen, sondern auch den Verbrecher sehe, also den Menschen mit seinen Eigenschaften, Motiven, Nöten, Zwängen, Absichten und vor allem Störungen und Erkrankungen) bis zu Ernst Kretschmer (mit seinen biologischen Persönlichkeitstheorien) und heute der "Neurobiologie der Gewalt", von den zahlreichen modernen Hypothesen der meist interdisziplinären Arbeitsgruppen aus verschiedenen Fachbereichen ganz zu schweigen. Die Persönlichkeit im Wechselspiel krimineller Einflüsse Es gilt also zu der Erkenntnis zu kommen, in welchem Zusammenhang (einschließlich Ort, Zeit und spezifische Situation) die jeweilige Persönlichkeitsstruktur mit möglichen kriminogenen (kriminelle Handlungen auslösenden) Faktoren steht. Das interessiert an erster Stelle den Ermittlungsbeamten, aber auch alle nachfolgenden Berufsgruppen (s. o.); und am Ende jeden bestürzten Laien, wenn er wieder einmal fassungslos mit einer unverständlichen bis grauenhaften Tat konfrontiert wird, und sei es in der Tageszeitung. Die Wissenschaftler interessiert das auch, aber natürlich viel pragmatischer, zielgerichtet, aus dem vielschichtigen Gefüge des "Straffälligen" den Kern herausarbeitend von Ursache, Motiv, Hintergründen - und biologischer Ausgangslage. Diese Fragen lauten: - Ist das kriminelle (Fachbegriff: delinquente = straffällige) Verhalten mit einem bestimmten Persönlichkeitstypus verbunden? - Ist delinquentes Verhalten eine "Störung per se" (für sich allein) oder nur Begleiterscheinung einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur, also als Krankheitszeichen anzusehen? - Finden sich unter Rechtsbrechern überproportional häufig spezifische, besondere Persönlichkeits-Ausgestaltungen? Vor allem die letzte Frage ist bedeutungsvoll, wenn man ein so genanntes Täter-Profil erstellen soll. Wenn es das gäbe oder gibt, dann kommt man natürlich schneller weiter. Für die Psychiater und insbesondere die forensisch tätigen Psychiater (die sich also aus seelischer Hinsicht mit rechtskräftig verurteilten psychisch Kranken beschäftigen) stellt sich noch eine weitere Frage, ergänzen Frau Dr. S. Ullrich und Prof. A. Marneros: - Kann eine Persönlichkeit mit ihren (in diesem Fall negativen) Verhaltensmustern losgelöst von ihrer sozialen Umgebung beurteilt werden? - Können spezifische Erfahrungen (etwa Gewalt in der Familie, aggressive Verhaltensweisen als Methode zur Durchsetzung eigener Interessen u. a.) eine entscheidende Rolle für delinquentes Verhalten spielen, unabhängig von spezifischen Persönlichkeitsaspekten? Kann man überhaupt beides trennen? - Können die Umstände des näheren Umfelds, aktuelle Erlebnisse, einschneidende soziale Veränderung u. a. einen (ggf. negativ) prägenden Einfluss ausüben, ebenfalls unabhängig von der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur? Die Antwort, auch wenn sie aus einer ganz anderen Ecke zu kommen scheint, irritiert erst einmal den Durchschnittsbürger, der sich so etwas für sich selber und sein näheres Umfeld nicht vorstellen kann. Dies - so die Experten - ist ein Selbstbetrug.
Die üblichen "Standard-Erklärungen" sind verständlich, aber weisen nur auf einen unzureichenden Kenntnisstand hin. Selbst wenn man noch so viel Gesichtspunkte in das Problem "Straftäter" einbringt, alles lässt sich niemals berücksichtigen, und schon aus diesem Grund ist niemand dagegen gefeit, zum Täter zu werden. Wenn man das alles konsequent durchdenkt, wird man es bejahen müssen. Folgt dann auch gleich die Resignation? So gesehen kann man ja eine Beurteilung und schließlich Aburteilung gleich sein lassen. Die dafür zuständigen Wissenschaftler winken ab. Es gilt nur auf dem Boden zu bleiben, Bescheidenheit zu üben, begrenzte Möglichkeiten einzurechnen. Ansonsten gibt es zahlreiche Zugänge, um zu einer hinreichend klaren Erkenntnis und damit Entscheidung zu kommen. Dazu gehört auch der Versuch, neben der Individualisierung des Straftäterprofils auch eine Typologisierung von Tätern zu nutzen. Oder auf Deutsch: Jeder Straftäter ist zwar ein Individuum mit einer eigenen Geschichte; keiner gleicht vollständig dem anderen. Trotzdem lassen sich gewisse, letztlich annähernd typische Eigenheiten auf der Basis "wer, was, wo, wie, warum und mit oder ohne Fortsetzungsgefahr" feststellen. Im Rahmen solcher Forschungsprojekte wurden auch von den Autoren der psychiatrischen Universitätsklinik Halle über 100 Straftäter untersucht und mit einer Kontrollgruppe aus der nicht-straffälligen Normalbevölkerung verglichen. Zum Einsatz kamen dabei so genannte psychometrische Tests und strukturierte Interviews. Wie unterscheiden sich Straftäter von der unauffälligen Normalbevölkerung? Als erstes interessiert die Zusammensetzung der Straftäter-Gruppe, was schon eine zum Teil deutliche Sprache spricht: 9 von 10 waren männlichen Geschlechts, wobei in der Tat nur ein geringer Prozentsatz der Straftaten, insbesondere der schweren Delikte, von Frauen verübt wird. Der Mittelwert des Alters lag bei etwa 33 Jahren, reichte aber von rund 20 bis fast 60. Zwei Drittel waren arbeitslos. Bei den Delikten überwogen die Körperverletzungen (mehr als die Hälfte), gefolgt von Diebstahl und Unterschlagung (fast jeder Zweite), Raub und Erpressung (rund jeder Dritte), Sexualstraftaten (mehr als jeder Vierte), Betrug (jeder Vierte) sowie Sachbeschädigung (jeder Sechste). Die über 100% liegende End-Summe legt natürlich Mehrfach-Nennungen und damit "Taten" nahe. Ebenfalls mehr als jeder Sechste war wegen eines Tötungsdelikts verurteilt worden. Dass ein Mensch aus einer biologischen Ausgangslage einschließlich Persönlichkeitsstruktur besteht, dann aber auch von seiner sozialen Umgebung wesentlich geprägt wird, ist eine unbestrittene Allgemein-Erkenntnis. Trotzdem lohnt sich natürlich die konkrete Frage: Unterscheidet sich der so genannte biografische Hintergrund von Straftätern von nicht-straffälligen Menschen? Dieses Thema hat von jeher die Wissenschaft besonders beschäftigt, ja fasziniert. Und - wer bezweifelt es - es gab in so gut wie allen Untersuchungen deutliche Unterschiede, auch durch vorliegende Untersuchung bestätigt. So kam im Vergleich zur Normalbevölkerung die Mehrzahl der angeklagten Straftäter aus unvollständigen Familien. Beispiele: Der leibliche Vater als Erziehungsträger fehlte oder wurde durch andere Personen bzw. gar Institutionen ersetzt. Ein Großteil stammte aus so genannten Broken-home- (zerrüttete Familien-)Verhältnissen. Besonders belastend ist ein Wechsel der Erziehungsträger oder gar Heimaufenthalte. Dazu noch einmal einige Beispiele in nackten Vergleichszahlen: 4 von 5 Straftätern stammten aus Broken-home-Verhältnissen (in der Allgemeinbevölkerung rund jeder Vierte), jeder Zweite musste einen Wechsel der Erziehungsträger oder gar einen Heimaufenthalt über sich ergehen lassen (in der Allgemeinbevölkerung jeder Zehnte bzw. wenige Prozent). Sind die riskanten Unterschiede durchgehend registrierbar? Nein. Interessant beispielsweise die Konsequenz unserer Zeit und Gesellschaft, nämlich die wachsende Zahl von Scheidungen oder Trennungen. Sie fällt bei Straftätern gleich häufig aus wie in der Allgemeinheit (etwa jeder Dritte!). Ebenfalls keinen Unterschied gibt es beim Verlust eines oder beider Elternteile oder einer unehelichen Geburt (global gesehen jeweils etwa jeder Zehnte). Es gibt also soziale Beeinträchtigungen in Kindheit und Jugend, die offenbar keinen ernsteren Einfluss ausüben und solche, die riskant bis gefährlich sind. Soziale Schicht, Familiengröße, Geschwisterreihe: Auch die Herkunftsschicht hat ihre Vor- und Nachteile. Straftäter kommen zumeist aus der Unterschicht. Sie stammen auch öfter aus größeren Familien und sind im Rahmen ihrer Geschwisterreihe eher später Geborene. Nun kann man sich aber auch "hoch-arbeiten" und das gelingt nicht wenigen, vor allem mit den heutigen Unterstützungsbedingungen unserer Gesellschaft (es gilt auch Positives zu würdigen). Doch bei der hier erfassten Straftäter-Stichprobe kam es in so gut wie allen Fällen zu einem katastrophalen sozialen Abstieg, was auch die relativ wenigen Mittel- und Oberschicht-Angehörige betrifft. Auch der Geburtsverlauf und die frühkindliche Entwicklung zeigen bei den Straftätern mehr Auffälligkeiten, von Störungen in Familiengefüge ganz zu schweigen. Beispiele: Strenge, vor allem wenig wertschätzender Erziehungsstil, häufiges Weglaufen, hoher Anteil alkoholabhängiger Familien-Angehöriger, problematische Beziehung zwischen den einzelnen Familien-Mitgliedern u. a. Straftäter berichten auch häufiger über traumatische (seelisch verwundende) Erlebnisse in ihrem Leben, nicht zuletzt über sexuelle Missbrauchs-Erfahrungen. Bezeichnend auch frühe Auffälligkeiten, nicht zuletzt schon in der Schule. Die Schulbildung der Straftäter ist geringer als im allgemeinen Durchschnitt. Hinsichtlich der Berufsausbildung lassen sich jedoch keine wesentlichen Unterschiede feststellen. Später sind allerdings die Straftäter auch häufiger arbeitslos. Schließlich verfügen Straftäter auch öfter als im Durchschnitt über keine Partnerschaft. Muss man zwischen Delinquenz und Kriminalisierung unterscheiden? So eindeutig und so oft und wiederholt zerrüttete Familienverhältnisse, wechselnde Erziehungsträger bis hin zum Heimaufenthalt sowie ganz generell die Unterschicht zu belastenden Faktoren einer drohenden Delinquenz, also Straffälligkeit zu werden drohen, sie wurden wissenschaftlich auch schon in Frage gestellt. Das Stichwort aus Experten-Kreisen lautet: "Etikettierungs-Hypothese". Nach Ansicht dieser Wissenschaftler tragen negative Sozialisations-Faktoren (s. oben) eher dazu bei, dass tatsächlich begangenen Straftaten einfach eher entdeckt, angezeigt und verurteilt werden. Konkret heißt dies, dass die Strafverfolgung und Verurteilung eines Jugendlichen aus misslichen Familienverhältnissen viel wahrscheinlicher ist als bei einem Jugendlichen aus beispielsweise gehobenem Mittelstand. Bei einem Unterschicht-Angehörigen nimmt man eher an, so manche Experten, dass das negative Umfeld zu weiteren Straftaten Anlass gibt, im Gegensatz zu einer intakten Familie aus entsprechend gehobenen Kreisen, die diesen ersten Fehltritt konsequenter auffangen und korrigieren könnte. Und dies beim durchaus gleichen Delikt. Mit anderen Worten: Es gilt nicht nur die Tat zu beurteilen, sondern auch die Kriminalisierung der Person, beginnend von der Strafanzeige über die Verurteilung bis zu den lebenslangen Konsequenzen danach. Einige Autoren gehen sogar so weit, dass sie weniger die Broken-home- oder Heim-Situation in Rechnung stellen, mehr die offizielle Reaktion auf eine Straftat und dabei vor allem die Gefahr einer "stigmatisierenden Stereotypisierung" ("es ist doch immer das Gleiche, das sehen wir auch hier wieder…"). Diese Sichtweise akzeptieren auch die meisten anderen Experten, sind aber trotzdem zumindest der Meinung, dass es unvollständigen Familien naturgemäß weniger gut gelingt, eine delinquente Entwicklung zu bremsen und im Falle der Straftat eine ausreichende Schutzfunktion vor Strafverfolgung zu übernehmen bzw. die Deliktbegehung im Dunkelfeld zu belassen, wie eine erfolgreiche Verheimlichung und Unterdrückung entsprechender Maßnahmen lautet. Da gibt es schon Unterschiede, das bezweifelt niemand. Das betrifft allerdings praktisch alle gesellschaftlichen Aspekte und zwar seit jeher. Gibt es spezifische Persönlichkeitsstörungen bei Straftätern? Persönlichkeitsstörungen wurden früher Psychopathien genannt. Da Menschen mit einer gestörten Persönlichkeiten nicht zu den einfachsten Mitbürgern zählen, hat sich der alte Fachbegriff Psychopathie in der Allgemeinheit derart negativ aufgeladen, dass man gezwungen war, ihn durch die erwähnten Persönlichkeitsstörungen zu ersetzen. Ob die Gefahr der Stigmatisierung durch ein neues Wort dauerhaft abgewehrt werden kann, wo doch die Wesensart der Betreffenden nach wie vor belastend bleibt, jedenfalls bei den meisten dieser Krankheitsbilder, bleibt strittig. Wenn man die nachfolgenden Zeilen überfliegt, bleiben die (begründeten) Zweifel bestehen. Das fängt schon mit der Definition einer Persönlichkeitsstörung an. Nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) handelt es sich hier um ein "andauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht". Das hört sich schon einmal nicht gut an. Und in der Tat, die Realität fällt nicht viel besser aus. Was gibt es nun für Persönlichkeitsstörungen? Einzelheiten dazu siehe die verschiedenen Kapitel in dieser Serie. Eine Kurzfassung nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen - ICD-10 der WHO (1993) stellt sich wie folgt dar: - Paranoide Persönlichkeitsstörung: übertrieben empfindlich, nachtragend und misstrauisch. - Schizoide Persönlichkeitsstörung: Anhedonie (Lustlosigkeit, Freudlosigkeit), abgeflachter Affekt (Gemütsregungen, z. B. Gleichgültigkeit). - Dissoziale Persönlichkeitsstörung: Mangel an Empathie (Zuwendung), verantwortungslos, geringe Frustrationstoleranz (vom Lateinischen: frustra = vergebens), fehlendes Schuldbewusstsein. - Emotional instabile Persönlichkeitsstörung: unterteilbar in
- Histrionische (früher hysterisch genannte) Persönlichkeitsstörung: dramatische Selbstdarstellung, oberflächliche Affekte (Gemütsregungen, z. B. übermäßige Eitelkeit) - Anankastische (zwanghafte) Persönlichkeitsstörung: übermäßig vorsichtig, Perfektionismus, Rigidität (Starrheit), unverhältnismäßig leistungsbezogen. - Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung: Ständige Anspannung und Besorgtheit, Minderwertigkeitsgefühle, Bedürfnis nach körperlicher Sicherheit. - Abhängige Persönlichkeitsstörung: Unterordnung der eigenen Bedürfnisse, Alltagsentscheidungen werden nur nach dem Rat der anderer getroffen, Angst, alleine zu sein. - Sonstige näher bezeichnete Persönlichkeitsstörungen: Keine der spezifischen Persönlichkeitsstörungen (s. o.) passt, das klinische Bild erfüllt aber die allgemeinen Kriterien nach ICD-10. - Nicht näher bezeichnete Persönlichkeitsstörung: Pathologische (krankhafte) Persönlichkeit im Sinne der früheren Charakter-Neurose. Die Frage lautet: Wie häufig kommen Persönlichkeitsstörungen bei Straftätern vor und wenn ja, welche? Dies beantwortet die Studie von Frau Dr. S. Ullrich und Prof. A. Marneros wie folgt:
Welche sind nun die häufigsten Untergruppen, denn wie man oben gesehen hat, gibt es ja ganz unterschiedliche Typen. Einige von ihnen haben aber gerade war Straftäter anbelangt offensichtlich eine gewisse Priorität - und so ist es auch. - An erster Stelle stehen die dissozialen Persönlichkeitsstörungen in jedem dritten Fall (in der Allgemeinbevölkerung nur 2,5%). - Die zweite Position nehmen die emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen generell ein, fast jeder vierte Straftäter (in der Allgemeinheit nur 1,3%). - Alle anderen Persönlichkeitsstörungen wie paranoide, schizoide, histrionische, anankastische, sind zahlenmäßig sind so gut wie vernachlässigbar. Die selbstunsicheren Persönlichkeitsstörungen kommen immerhin auf 4%, was aber im Verhältnis zu den dissozialen und emotional instabilen Unterformen auch kein Thema ist. Was dafür aber auch hier zum Problem wird, ist die so genannte Co-Morbidität, also das Auftreten mehrere Krankheitsbilder zugleich. Das ist zwar bei den organischen Leiden ebenfalls nicht selten (z. B. Herz-Kreislauf- und Magen-Darm-Störungen, ggf. noch Gelenk-Probleme) und auch in seelischer Hinsicht öfter als man denkt (z. B. Depressionen und Angststörungen bzw. Alkoholismus und Nikotinabhängigkeit zugleich). Bei den Persönlichkeitsstörungen aber summiert sich nicht nur das Leidensbild für den Betreffenden, sondern auch für sein Umfeld ganz erheblich. Tatsächlich werden bei diesen Krankheitsbildern zwei bis fünf Diagnosen auf einmal gestellt, eine gewaltige Belastung für alle. Und auch in vorliegender Stichprobe sind mehr als vier von zehn Straftätern mit mehreren Psychopathie-Formen auf einmal geschlagen, vor allem emotional instabile, dissoziale, paranoide und histrionische Persönlichkeitszüge. In diesem Zusammenhang wird übrigens klar, wie kompliziert eine solche Fall-Analyse mit der Aufgabe eines Täter-Profils werden kann und weshalb ganz unterschiedliche Fachbereiche an einer solch schwierigen Aufgabe beteiligt werden müssen. So haben beispielsweise schon früher die Kriminalisten (z. B. des FBI in den USA) erkannt, dass es einen Zusammenhang geben müsse zwischen dem Bild, das der Tatort bietet und der Persönlichkeit des Täters. Und dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Anzahl der Verletzungen, die einem Opfer nach seinem Tod noch zugefügt werden und der Entfernung zwischen dem Ort, an dem die Leiche gefunden wurde und dem Wohnsitz des Täters. Daraus ergab sich die Schlussfolgerung, dass Menschen, die Leichen derart verstümmeln, meist chaotische Täter sind im Vergleich zu planenden Tätern, die ihre Opfer oft weit entfernt suchen oder weit weg bringen. Es ist eine schaurige Materie, die hier bearbeitet werden muss. Es ist aber auch ein gutes Gefühl zu wissen, dass dabei hoch-spezialisierte Experten am Werk sind, wenn auch "nachträglich". Die Vorbeugung kommt aber durch diese Erkenntnisse trotzdem nicht zu kurz. Denn jetzt ergibt sich die Frage: Einfach- oder Mehrfach-Täter - und wie kann man wenigstens Letzteres verhüten? Rückfall- oder Serien-Täter Mehrfach-, in der Fachsprache auch Intensiv-, Rückfall- oder Serientäter genannt, sind also ein besonders heikler Grund zur Beunruhigung, vor allem in der Bevölkerung. Also gilt es sie rechtzeitig zu erkennen und abzufangen, bevor sie erneut zuschlagen. Leider ist dies nicht einfach, obgleich man ja annehmen müsste, dass eine solche Negativ-Intensivierung "unmenschlicher Neigungen und Handlungen" rasch auffällt. In vorliegender Untersuchung wurden deshalb zwei Gruppen gebildet, nämlich die Einfach-Täter und die Mehrfach-Täter. Dazu muss man allerdings gleich gestehen, dass es auch bei den Kriminologen, forensischen Psychiatern und Psychologen u. a. unterschiedliche Ansichten gibt. Das geht vom "geborenen Verbrecher" (obgleich diese uralte Vereinfachung niemand mehr in den Mund nimmt) bis zur Theorie, dass kein Mensch von Natur aus "schlechte Persönlichkeitseigenschaften" mitbringt, die dann (automatisch) zu kriminellem Verhalten disponieren. Die Vertreter dieser Extrem-Position sind sogar der Ansicht: Entscheidende Ursache für das Auftreten abweichenden Verhaltens seien die sozialen Reaktionen der Umwelt. Wenn die Gesellschaft negativ darauf reagiere, forme sich der vormals "gute Mensch" zu einem "schlechten", da er diese soziale Etikettierung übernehme (englischer Fachbegriff zu dieser Persönlichkeitstheorie: "labeling approach"). Wie immer man dazu steht (es muss ja nicht unbedingt ein jeweils unverrückbarer Standpunkt sein), in vorliegender Untersuchung gab es nun doch interessante Unterschiede, gleichgültig ob "biologisch vorgegeben" oder durch "die Gesellschaft in die asoziale Ecke gedrängt": - Am augenscheinlichsten ist eine sehr unangenehme Eigenschaft, nämlich die der Feindseligkeit. Mehrfach-Täter entwickeln mehr Feindseligkeit als Einfach-Täter im Sinne von "eher dem Drang ausgeliefert, ihre Feindseligkeit auch auszuleben". Das heißt, es ist auch die Richtung der Feindseligkeit wichtig, ob gegen sich selber oder gegen andere. Und Letzteres ist eben ein offenbar entscheidendes Kriterium für den Straftäter mit mehrfachen Verletzungen der Gesetze, wenn nicht gar gegen andere Menschen. - Mehrfach-Täter imponieren auch als deutlich misstrauischer. Auch ist ihre so genannte Introspektions-Fähigkeit, also die für eine neutrale und objektive Sichtweise unerlässliche "Innenschau" geringer ausgeprägt. Deshalb üben sie eher Kritik an anderen Menschen, als Fehler und Schwächen in der eigenen Person zu suchen. Problematisch ist auch ihre fatalistische Einstellung, Zufall oder Glück mehr oder weniger hilflos ausgeliefert zu sein. Kurz: eine nun doch bedenkliche Gesamt-Richtung des Charakters mit dann mehrfachen Straftaten. Deshalb verwundert es auch nicht, dass Einfach-Täter sehr viel später strafrechtlich in Erscheinung treten als solche mit mehreren Delikten. Das würde den gesellschafts-kritischen Wissenschaftlern, man erinnere sich: "Es gibt keine schlechten Persönlichkeitseigenschaften von vornherein, man wird von seinem Umfeld durch Negativ-Etikettierung dazu gemacht", das würde also diesen "labeling approach-Anhängern" durchaus in ihre Theorie passen. Bei genauerem Nachdenken aber stimmt gerade das nicht: Zum einen wären natürlich ausreichend lange Längsschnitt-Untersuchungen nötig, die im erwünschten Ausmaß aber kaum möglich sein dürften. Zum anderen spricht aber gerade die frühe strafrechtliche Auffälligkeit der Mehrfach-Täter dafür, dass sie schon vor der kritisierten Negativ-Etikettierung, also einer ersten Reaktion der Gesellschaft auf ihre Tat, derart verhängnisvoll eingestellt waren: misstrauisch, "kritiklos kritisch", was andere Menschen anbelangt, ohne ihre eigenen Fehler zu erkennen oder gar zu akzeptieren, feindselig und vor allem geneigt, diese Feindseligkeit auch im Alltag auszuleben - damit letztlich fatalistisch und hierdurch noch riskanter. Die Persönlichkeitsstruktur von Gewaltstraftätern Was man unter einem Gewaltstraftäter zu verstehen hat, ist auch bei den Experten nicht einheitlich definiert bzw. akzeptiert. Im Allgemeinen versteht man darunter Tötungsdelikte, Vergewaltigung, Raub, räuberische Erpressung, erpresserischen Menschenraub, Geiselnahme und Körperverletzung. Gerade aber diese an sich erschreckende Vielzahl und vor allem ihre Unterschiedlichkeit bringt letztlich keine exakten Ergebnisse. Sicherlich erscheinen die Straftäter ohne jegliche Gewaltdelikte verträglicher als ihre negative Vergleichsgruppe und umgekehrt ist der Drang, seine innere Feindseligkeit an anderen (gewalttätig) auszuleben bei den Gewaltstraftätern deutlich größer als bei jenen ohne diese Belastung. Doch mehr als diese an sich nachvollziehbaren Erkenntnisse kann man aus diesem Kollektiv nicht herauslesen. Es ist und bleibt eine und wahrscheinlich sogar nachvollziehbare Schwierigkeit, Gewaltstraftaten so einzugrenzen, dass sich damit auch fassbare Persönlichkeitsunterschiede herauslesen lassen.
Zur Persönlichkeitsstruktur von Sexualstraftätern Zur Gewaltkriminalität zählen die meisten Experten auch die Vergewaltigung. Doch gerade hier zeigen sich erhebliche Unterschiede, die sogar ohne psychologische oder psychiatrische Untersuchung halbwegs nachvollziehbar sind. Nimmt man alle Straftäter zusammen, die wegen eines "Verbrechens gegen die sexuelle Selbstbestimmung" auffällig geworden sind, dann gehört dazu einerseits die Vergewaltigung und andererseits der sexuelle Missbrauch von Kindern. Doch schon hier gibt es bei den Experten den Unterschied, dass in der Regel die Vergewaltigung als Gewaltdelikt bezeichnet wird, das sexuelle Missbrauch von Kindern hingegen nicht. Das spiegelt natürlich die unterschiedliche Zuordnung über die Persönlichkeit dieser Straftäter wieder, und zwar schon aus der Sicht der Fachleute. So kann man annehmen, geben S. Ullrich und A. Marneros zu bedenken, dass Vergewaltiger sehr viel mehr "gewalttätige" Eigenschaften aufweisen als Menschen, die Kinder sexuell missbrauchen, von einem rein moralischen Standpunkt aus mal abgesehen. Vergleichende empirische Untersuchungen dazu gibt es jedoch kaum. Deshalb haben die Autoren ihre Sexualstraftäter unterteilt in eine (oder mehrere) Vergewaltigung(en) und zumindest einmal oder mehrfach den sexuellen Missbrauch an einem oder mehreren Kind(ern). Wer sich in beiden Fällen schuldig gemacht hatte, wurde aus dieser Gruppen-Analyse herausgenommen, und gehört wahrscheinlich zu einer weiteren Straftäter-Klientel. Doch dieser Gruppenvergleich erbrachte schon einige sehr bemerkenswerte Unterschiede: So zeigte sich bei den Vergewaltigern ein deutlich aggressiveres und feindseligeres Persönlichkeitsprofil als bei den Straftätern mit sexuellem Missbrauch von Kindern. Diese Menschen werden auch als sozial deutlich weniger verträglich beschrieben und zeigen eine ausgeprägtere Feindseligkeit einschließlich des Drangs, diese zu Lasten ihrer Opfer auch auszuleben. Auch sind sie mit der Kritik an anderen schneller zur Hand, ohne selbstkritisch auch nur die geringsten Konzessionen zu machen. Interessant ist auch der Unterschied der jeweiligen Intelligenz-Koeffizienten. Er liegt bei Vergewaltigern eher im unteren Normbereich oder sogar noch darunter, bei Straftätern mit sexuellem Missbrauch von Kindern eher über dem Durchschnitt. Letzteres, nämlich die dann doch überdurchschnittliche Intelligenz von Sexualstraftätern an Kindern, widerspricht der allgemeinen Annahme, dass es sich hier vorzugsweise um "einfach strukturierte Gemüter" handle. Diese Menschen sind zwar eher unauffällig, aber keinesfalls "dumm". Sie stammen aus besseren Herkunftsschichten, haben eine höhere schulische Ausbildung und werden bedeutend später strafrechtlich auffällig als die Vergewaltiger. Im Gegensatz dazu zeigen Vergewaltiger eine schon generell viel stärkere Kriminalitäts-Belastung mit deutlich höherer Zahl an Verurteilungen, vor allem durch Gewaltdelikte mit tätlichem Angriff auf Personen, was bei der gefundenen hohen Aggressionsbereitschaft nicht verwunderlich ist. Welche Persönlichkeitseigenschaften fördern die Gefährlichkeit eines Straftäters? Alles, was bisher referiert wurde, ist eine eindrucksvolle Ansammlung von praktisch verwertbaren Erkenntnissen: Tröstlich, was das Wissen der Experten, beunruhigend, was das Risiko anbelangt, wenn man solchen Menschen einmal in die Hände fallen sollte. Vor allem aber auch verwirrend, besonders die Fülle der Daten, die allerdings bei genauem Hinsehen letztlich immer wieder in die gleiche "traurige" Richtung deuten. Trotzdem hätte man gerne noch einmal einen Überblick, welche Aspekte die Persönlichkeit eines potenziellen Straftäters nun wirklich die Gefährlichkeitsgrenze überschreiten lassen. Darüber gibt es natürlich schon länger konkrete Hinweise und auch Frau Dr. Ullrich und Herr Professor Marneros von der Psychiatrischen Universitätsklinik Halle haben ihr Daten-Material auf diese Fragen hin noch einmal durchgerechnet. Dabei wussten sie schon aus der Fachliteratur, dass sich die Gefährlichkeit eines Straftäters anhand verschiedener Merkmale ableiten lässt. Dazu gehören beispielsweise - die Anzahl an Verurteilungen Die Punkte 1 und 2 sind nahe liegend, die dritte Erkenntnis gibt zu denken. Wie also kann man noch tiefer in das abnorme innerseelische Gefüge eines zukünftigen Straftäters mit Neigung zu gefährlichen Gewalttaten eindringen? Dazu lassen sich so genannte Delikt-Variable herausrechnen und Persönlichkeitseigenschaften korrelieren. Was fanden dabei die Psychiater in ihrem Untersuchungs-Kollektiv? - Im Hinblick auf das Alter bei der ersten strafrechtlichen Auffälligkeit wurde deutlich, dass die Betreffenden in der Persönlichkeits-Eigenschaft "selbstsicher-eigenständig" zu kurz gekommen sind. Oder mit einem Wort: eher unsicher und abhängig (und dann noch möglicherweise abhängig von ungünstigen Einflüssen oder suspekten Personen). - Auch scheint bei ihnen der Drang ausgeprägter zu sein, ihre feindseligen Impulse ausleben zu wollen. Das Fazit: Je jünger die untersuchten Gewalttäter bei der ersten Verurteilung waren, desto ausgeprägter erwiesen sich diese Testwerte bei der nachträglichen Untersuchung als kennzeichnend, reduziert auf die Stichworte: unsicher, von den Einflüssen anderer abhängig - feindselig, mit Neigung zu aggressiven Durchbrüchen. - Je mehr nun ein solcher Straftäter in sein gewalttätiges Milieu verstrickt war und deshalb auch verurteilt werden musste, desto weniger ausgeprägt war sein testpsychologischer Faktor "sensitiv-gewissenhaft". Gewissenhaft ist klar, sensitiv (im Grunde: empfindsam) wird in diesem Falle einfach als eine positive zwischenmenschliche Wesensart beschrieben um wenigstens die charakterliche Richtung anzudeuten. - Im Weiteren ergab sich, dass der so genannte "Psychopathie-Faktor: neurotisch-dissozial" mit der Zahl gewalttätiger Straftaten immer ausgeprägter wurde. Einzelheiten zu diesem Phänomen bitten wir den ausführlichen Schilderungen der entsprechenden Kapitel in dieser Serie zu entnehmen, vor allem "Persönlichkeitsstörungen" und "Von der Psychopathie zur Persönlichkeitsstörung". Bedeutsam war auch hier der zunehmende Drang, seine Feindseligkeit ausleben zu wollen. Und natürlich die abnehmende psychosoziale Dimension "Verträglichkeit". Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse hören sich nun zwar nicht gerade spektakulär an und sind im Grunde schon mit dem "gesunden Menschenverstand" ableitbar; sie sind aber trotzdem von Bedeutung, vor allem für den Alltag. Denn man ertappt sich immer wieder bei der selbstkritischen Frage: "Ist es wirklich so einfach, dass bestimmte negativ auffallende Eigenschaften, die man ja relativ schnell registrieren kann bzw. muss, dann auch zu riskanten Konsequenzen führen, z. B. Straftaten oder gar gefährliche, gewalt-betonte Übergriffe? Offensichtlich ja. Natürlich gibt es einfache und damit schneller durchschaubare Persönlichkeitsstrukturen, vor allem in negativer Hinsicht. Und am anderen Ende des Charakter-Pols gibt es raffinierte Persönlichkeiten, die ihre gefährliche Wesensart besser kaschieren können. Aber völlig vertuschen und das auf lange Sicht kann es offensichtlich kaum jemand, jedenfalls nicht endlos. Und dies vor allem gemäß der alten Erkenntnis: Man kann kurze Zeit viele Menschen täuschen. Man kann auch relativ lange Zeit noch immer wenigstens wenige Menschen täuschen. Aber man kann nicht ewig alle Menschen täuschen. Einmal kommt heraus, was dahinter steckt. Und deshalb ist die Kenntnis selbst einfach erscheinender wissenschaftlicher Korrelations-Resultate durchaus nützlich. Schlussfolgerung Und so sehen es auch die Autoren: Auf die Kern-Frage dieses Kapitels: "Was sind das nur für Menschen, die so etwas tun können?" lautet ihre Antwort: "Sehr unterschiedliche Menschen, aber viele davon haben auch viele Gemeinsamkeiten". Und so bleibt auch weiterhin vieles zu tun, selbst wenn die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen fast nicht mehr überschaubar ist. Auch drängt sich natürlich gerade bei solch komplexen Aspekten der Verdacht auf: viele Daten, aber wenig konkret fassbare Resultate. Trotzdem, es wird weiter geforscht und es muss weiter geforscht werden. Denn die Vielzahl der Ergebnisse macht zwar deutlich, dass Straftäter in ihrer Persönlichkeit von Menschen abweichen, die nicht straffällig geworden sind. Um genau welche Abweichungen es sich dann aber handelt, ist bislang nicht eindeutig belegt, geben die Psychiater aus Halle zu bedenken. Warum? Zum einen gibt es viele unterschiedliche Befunde, je nach Studie. Zum anderen fehlen noch immer die notwendigen Theorien, vor allem was spezifische Wesenseigenschaften und konkrete Straftaten anbelangt. Und die Individualität des Menschen, d. h. jeder ist anders, gilt auch für Straftäter. Das macht die geforderte "handliche Lösung" noch komplizierter. Und dann gilt es ja neben der Persönlichkeitsstruktur des Täters noch das jeweilige Umfeld einzurechnen. Und das ist wiederum von so vielen Faktoren abhängig, dass man einräumen muss: bunter geht es nicht mehr. Genau das aber ist der größte Feind jeder exakten wissenschaftlichen Methode, die auch zu möglichst exakten Erkenntnissen kommen möchte. Das könnte der Allgemeinheit nun eigentlich weniger wichtig sein. Das ist ein Problem der forensischen Psychiater und Psychologen, der Juristen und der Mitarbeiter im Strafvollzug. Das stimmt aber nicht, wenigstens in einem für alle wesentlichen Aspekt. Und der hat den sonderbaren Namen: Prognose der weiteren Legal-Bewährung. Oder allgemein-verständlich: "Wird es der Verbrecher wieder tun?". Das hört und liest man immer wieder (wenngleich viel seltener als die Medien-Berichte erst einmal glauben machen, denn es wird ja nur von den negativen Ereignissen berichtet) - und dann ist man "mit Recht empört". Gibt es denn hier wirklich keine Möglichkeit genauer abzuschätzen, ob ein solcher Mensch rückfällig wird oder nicht? Dafür sind die Experten doch ausgebildet, geschult und im täglichen Ablauf erfahren genug, möchte man meinen. So die Kommentare. Jetzt aber sehen wir, es ist viel schwieriger, komplexer, schwer mit der notwendigen Sicherheit zu entscheiden. Die Lebensumstände auf der einen, die Persönlichkeitsstruktur auf der anderen, vielschichtiger geht es nicht mehr. Und dann sollen Entscheidungen getroffen werden, die hieb- und stichfest sind, ganz gleich, was diese Menschen mit ihrer ohnehin schwierigen Wesensart dann draußen erwartet an Versuchungen, Versagungen, Frustrationen, Enttäuschungen, Kränkungen, an Feindseligkeiten oder gar Gewalt gegen andere oder sich selber. Die Lebenssituation für jeden Einzelnen hat man nicht im Griff und wird sie nie im Griff haben, wie soll das auch gehen. Aber die Persönlichkeitsstruktur wäre dann wenigstens bis zu einem gewissen Grade festlegbar. Damit könnte wenigstens ein Teil der Frage eingeschätzt werden, wird er es schaffen oder wieder rückfällig und wenn ja, was droht uns? Deshalb ist die Erstellung eines Täterprofils so wichtig. Und das ist die Zusammenarbeit von verschiedenen Fachdisziplinen: Kriminologen, Soziologen, Psychiater, Psychologen, Gerichtsmediziner. Und nicht nur die Aufschlüsselung größerer Datenmassen, sondern auch die Einzelfall-Analyse. Hier ist dann auch der "Praktiker an der Front" gefragt, also der Kriminalbeamte in der direkten oder indirekten Konfrontation. Im "statistischen Datenwald" hat die Individualität zwar einen eher untergeordneten Stellenwert, aber gerade die sauber herausgearbeiteten Einzelfälle können unter einander wieder viele Parallelen aufweisen, die dem statistisch Arbeitenden entgehen, während sie den so genannten Profilern, also den Experten, die Täterprofile bei Gewaltverbrechen erstellen, förmlich ins Auge stechen. So die Autoren. Außerdem geht es um zwei Begriffe, die dem Laien wenig geläufig sind, nämlich das "Hellfeld" mit offiziell registrierter Straffälligkeit und das wahrscheinlich noch viel bedeutsamere "Dunkelfeld" mit nicht angezeigter und damit auch nicht bekannt gewordener Kriminalität. Gerade bei Letzterem habe wir ja gehört, dass hier bestimmte Sozialschichten besser dran sein sollen (Stichwort: Bagatellisierung), während andere viel schneller "in die Mühlen geraten". Kein guter Anfang im Leben und oft der Startschuss für eine kriminelle Kariere, die unter anderen Bedingungen ggf. vielleicht nicht so oder überhaupt nicht ausgebrochen wäre. Wie schließen nun die Psychiater S. Ullrich und A. Marneros ihre Ausführungen ab, wie lautet ihre Schlussfolgerung (modifiziert)? Aufgrund unserer Untersuchungen können keinen Aussagen dazu getroffen werden, inwieweit die hier festgestellten Persönlichkeitszüge sowohl auf pathologischer (krankhafter) als auch auf normalpsychologischer Ebene generell eine Disposition (Neigung) zur Straffälligkeit darstellen. Dennoch wird deutlich, dass das Persönlichkeitsprofil straffälliger Menschen Akzentuierungen (Schwerpunkte) aufweist, die für die oben genannten Fragestellungen von großer Evidenz (Bedeutung) sind. Es kann aber auch gezeigt werden, dass es sich bei der Gruppe der Straftäter um sehr unterschiedliche Menschen handelt. Diesen Aspekten muss folglich auch Rechnung getragen werden. Oder mit einem Satz: Jeder, auch jeder Straffällige ist anders. Aber es gibt Erkenntnis-Schwerpunkte, die sollte man nutzen. Das tun die Experten draußen, vom Kriminalbeamten über die forensischen Gutachter und Juristen bis zu den Mitarbeitern des Strafvollzugs. Es sollte aber auch dem "einfachen Mann auf der Straße", d. h. uns allen eine Hilfe sein. Wissen kann nicht schaden. Möglichst konkrete Kenntnisse zur Persönlichkeitsstruktur von Menschen, die einen in eine riskante Situation mit möglicher Gewalt-Gefährlichkeit bringen können, sind nicht zu unterschätzen. Dies vor allem in einer Zeit, in der es offenbar eher "unruhiger" zu werden droht. |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |