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SELBSTTÖTUNGSGEFAHR (2)

Erkennen und Handeln

Der Suizid, die Selbsttötung, ist eine durchaus vermeidbare Katastrophe, vorausgesetzt, dass man den Lebensmüden rechtzeitig als solchen erkennt und ihn konsequent einer fachgerechten Behandlung zuführt. Nichts ist armseliger als der alleinige Versuch, einen Selbststötungswilligen lediglich davon abzuhalten, Hand an sich zu legen. Was kann man tun, um eine solche Entwicklung bereits im Vorfeld gezielt abzufangen?

Als erstes gilt es eine Reihe gängiger Irrtümer zu korrigieren (siehe Kasten). Dann aber geht es um die Frage: Wie äußert sich eine Suizidgefahr? Hier hat die Suizidforschung im Laufe der Jahrzehnte gewisse Gemeinsamkeiten im Vorfeld einer suizidalen Entwicklung herausgefunden.

Falsche Vorstellungen und Irrtümer

- Wer vom Suizid redet, wird in nicht begehen. Falsch: Auf 10 Suizidanten kommen 8, die unmissverständlich von ihren Absichten gesprochen haben.

- Ein Suizid geschieht ohne Vorzeichen. Falsch: Viele Betroffenen haben sich lange genug durch unmissverständliche Zeichen oder Handlungen bemerkbar gemacht - vergebens.

- Wer einen Suizid begeht, will sich unbedingt das Leben nehmen. Falsch: Die meisten Suizidanten schwanken zwischen dem Wunsch zu leben und zu sterben. Doch kaum einer nimmt diesen Kampf richtig wahr. Und wenn, ist man hilflos: Was tun?

- Wer einmal zum Suizid neigt, wird es immer wieder tun. Falsch: Suizidanten haben im allgemeinen nur während einer begrenzten Zeit ihres Lebens den Wunsch, sich zu töten. Das kann sich allerdings wiederholen.

- Wenn sich eine suizidale Krise auflöst bedeutet das auch das Ende des Risikos: Falsch: Die meisten Suizide geschehen wenige Monate nach Beginn der Besserung, wenn der Patient von neuem die Energie hat, (selbstzerstörerische) Entschlüsse zu fassen und auszuführen.

Besonders zu achten ist auf

- eine wachsende gefühlsmäßige Einengung: Der Betroffene fühlt sich überwältigt, erdrückt, erlebt sich klein, ohnmächtig, hilflos, ausgesetzt und ausgeliefert. Dadurch gerät er in Passivität, Resignation und Hoffnungslosigkeit, was sich in Rückzug und Isolationsneigung äußert.

Ein weiterer Faktor sind

- aufgestaute und nicht abgeführte Aggressionen: Sie entstehen meist aus dem Gefühl einer "ohnmächtigen Wut", gespeist aus vielfältigen Versagungen und Enttäuschungen, von der frühen Kindheit bis heute. Wichtig: Viele dieser Menschen sind aggressions-gehemmt. Kann man also den anderen nichts anhaben, weil man sich nicht getraut, so steht doch ein Opfer stets bereit: die eigene Person ("Aggressionsumkehr").

Die dritte Gefahr ist

- der Rückzug aus der Realität durch Flucht in einer Phantasiewelt: Wer flieht, wird immer hilfloser und ist dem Zwiespalt zwischen Scheinwelt und Wirklichkeit immer stärker ausgeliefert. Zwar ist eine Phantasiewelt nicht nur negativ, doch in diesem Fall hat sie nur ein Ziel: die Selbstvernichtung, die zuerst in aktiv herbeigeführten und später sich passiv aufdrängenden Suizidphantasien vorweggenommen wird.

Alarmzeichen beachten

In dieser aufgewühlten Phase, in der Lebenswille und Sterbenswunsch miteinander heftig in Streit liegen, zeichnen sich bestimmte Alarmzeichen ab: innerlich unruhig, gespannt, nervös, gereizt, Schlafstörungen, Missgestimmtheit, aggressive Durchbrüche, kurz: der Betroffene fällt eher als "unangenehm" bis "lästig" denn als traurig oder verzweifelt auf. Gerade das aber ist häufig sein Hilfeschrei, auch wenn es ganz und gar nicht dem üblichen Notsignal entspricht und meist auch gründlich missverstanden wird. Man muss eben lernen, die verschlüsselten Nachrichten zu enträtseln, weshalb neben den wichtigsten Warnsymptomen auch das Umfeld eine große Rolle spielt (siehe Kasten).

Was spricht für ein erhöhtes Suizidrisiko?

- Frühere Suizidversuche oder suizidale Äußerungen

- Vorkommen von suizidalen Handlungen oder Androhungen im Bereich der Verwandtschaft oder näheren Umgebung (Nachahmungseffekt, Sogwirkung, Identifikationsneigung)

- offene oder versteckte Suizid-Drohungen

- Äußerungen konkreter Vorstellungen über Vorbereitung oder Ausführung

- Selbstvernichtungs- und Katastrophenträume

- "unheimliche Ruhe" nach vorangegangener suizidaler Unruhe, Aufgewühlt-heit und Zerrissenheit

- ängstlich-gespanntes oder getriebenes Verhalten

- langdauernde, zermürbende Schlafstörungen

- unterdrückte Gefühlsausbrüche und Aggressionsstauungen

- Beginn oder Abklingen depressiver Phasen

- biologische Krisenzeiten: Pubertät, Schwangerschaft, Stillzeit, Wechseljahre, Rückbildungsalter

- schwere Schuld- und Unfähigkeitsgefühle

- unheilbare Krankheit oder Wahnvorstellung von einer unheilbaren Krankheit

- Alkoholismus, Rauschgiftsucht, Medikamentenabhängigkeit, Mehrfachabhängigkeit

- familiäre Probleme in der Kindheit (Trennung, Scheidung, Tod eines Elternteils, Stiefeltern, Heimaufenthalt)

- Fehlen oder Verlust mitmenschlicher Kontakte (Vereinsamung, Entwurzelung, Liebesenttäuschung)

- berufliche und finanzielle Schwierigkeiten

- Fehlen eines Aufgabenbereichs und Lebensziels

- Fehlen oder Verlust tragfähiger religiöser Bindungen

Konkrete Maßnahmen

Die im normalen Alltag üblichen und meist auch sinnvollen Vorschläge, Ermahnungen und wohlmeinenden Aufmunterungen sind im Gespräch mit Suizidgefährdeten oft fehl am Platz. Denn es dürfte für den Betroffenen kaum einen Lösungsansatz geben, den er nicht schon selber erwogen, geprüft und wieder verworfen hätte. Die Wiederholung solcher Argumente muss ja den Eindruck erhärten, es sei schon wirklich alles versucht worden - umsonst.

Daher soll man nach und nach mit großer Vorsicht die aufgestauten Aggressionen zu kanalisieren versuchen. Wichtig ist vor allem das laute und deutliche Ansprechen und Aussprechen und damit Bewusstmachen bisher unbewusster oder verdrängter zwischenmenschlicher und persönlicher Probleme. Dazu gehört eine Reihe von gezielten Fragen, die in einer solchen Notsituation "Luft schaffen können". Sie wirken zwar auf den ersten Blick sehr persönlich, direkt, indiskret, fast unzumutbar. Andererseits: Wie hoch kann der Preis werden, wenn sich die Zurückhaltung nicht auszahlt? Was ist wichtiger: Die Wahrung sogenannter gesellschaftlicher Normen oder die Erhaltung eines Lebens?

Solche gezielten Fragen sind beispielsweise:

- Haben Sie gegen jemanden Wut, Zorn, Hassgefühle, die Sie unterdrücken müssen? - Aggressionen, die unterdrückt werden (müssen) können sich gegen die eigene Person richten.

- Haben sich Ihre Interesse, Gedanken und zwischenmenschlichen Kontakte gegenüber früher eingeengt? - Je mehr sich die Außenkontakte reduzieren, die Gefühlswelt verarmt, das Blickfeld einengt, die Zukunft "röhrenförmig" auf suizidale Impulse zentriert, desto größer die Gefahr.

- Haben Sie schon daran gedacht, sich das Leben zu nehmen? - Diese an sich schockierende Frage löst eine heimliche Suizidgefahr nicht aus, sondern macht sie dem Betroffenen oftmals erst richtig bewusst. Je konkreter nun seine Vorstellungen oder gar Vorbereitungen, desto größer die Gefahr.

- Denken Sie bewusst daran oder drängen sich derartige Gedanken bereits auf, auch wenn Sie es nicht wollen? - Suizidideen, die sich passiv aufdrängen, sind gefährlicher als selbst herbeigeführte Selbstmordphantasien.

- Haben Sie schon über Ihre Absichten mit jemanden gesprochen? - Jede Form von Ankündigung, versteckte wie demonstrativ erscheinende, muss stets ernst genommen werden.

Natürlich müssen solche Fragen zur Klärung und Behandlung vor allem dem Arzt vorgehalten bleiben. Und selbstverständlich sollte man auch alle Kraft darauf verwenden, den Patienten in ärztliche Behandlung zu bringen. Andererseits kann sich auch der Laie in bestimmten Situationen nicht seiner Verantwortung entziehen. Und oft ist es sehr schwer, den Patienten von einer Arzt-Konsultation zu überzeugen, wobei der eigentlich dafür zuständige Psychiater oft noch mehr gescheut wird als der vertraute Hausarzt.

Doch der offene Dialog ist schon deshalb fruchtbarer, weil auch der Suizidwillige lange nicht weiß, was er nun eigentlich will und vor allem wie, wo und wann er es will. Allein die Aussprache über die selbstzerstörerischen Impulse schwächt aber diese gefühlsmäßigen Spannungen meist entscheidend ab. Dagegen sind Rückzug und damit Isolationsgefahr bzw. gar der Abbruch aller mitmenschlichen Kontakte nicht nur überaus gefährlich, sondern auch viel häufiger als man annimmt. Deshalb auf die Stillen oder still Gewordenen achten.

Und die alte Erkenntnis nicht vergessen:

Jedem Suizid geht ein missglücktes oder nicht stattgehabtes Gespräch voraus. Denn, so die alte Erkenntnis: Selbstmörder ist man lange, bevor man Selbstmord begeht. Oder noch eindrücklicher: Selbstmord, das ist die Abwesenheit der anderen.

(Prof. Dr. med. Volker Faust).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).