Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
TOURETTE-SYNDROMTics und unflätige Worte
"Plötzlich schrie er Schei…, und alles rings herum erstarrte. Vielleicht hätte man es noch akzeptiert, wenn er sich gestoßen, verletzt oder sonst wie beeinträchtigt hätte - aber nichts davon. Und so kam es wie es kommen musste: Die einen waren verwundert, die anderen verärgert oder empört und man sah zu, dass er die Gesellschaft möglichst bald verließ. Später wurde uns dann gesagt, dass es sich hier um kein mutwilliges Fehlverhalten, sondern um eine Krankheit handle, die nicht nur den Betroffenen, sondern auch seine Angehörigen unglücklich machten. Und dass man selbst unter den heutigen Möglichkeiten nur wenig dagegen tun könne. Das Wichtigste seien Aufklärung und Toleranz einem Patienten gegenüber, der durch eine unfassbare und weitgehend unbekannte Hirnkrankheit stigmatisiert sei - und zwar sein Leben lang. Das hat uns sehr nachdenklich gemacht. Vor allem: Wie soll man so etwas als Laie wissen, geschweige denn sinnvoll reagieren. Im Übrigen habe ich später einmal meinen Hausarzt danach gefragt und auch er hatte noch nie davon gehört. Also ein wenig mehr Information wäre schon nötig, zumal die Zahl der Betroffenen nicht gering sein soll." Das ist der mahnende Kurzbericht eines Lehrers, der im heutigen Schulbetrieb mit so manchem Fehlverhalten konfrontiert, aber dennoch willens ist, unterscheiden zu lernen zwischen mutwilligem schlechtem Benehmen (infolge mangelhafter Erziehung und/oder belastender Persönlichkeitszüge) und einer neurologischen Krankheit mit psychosozialen Folgen. Denn gerade in letzter Zeit wird immer deutlicher, dass nicht wenige Auffälligkeiten, die vorschnell einer "laxen Erziehungsmoral" angelastet werden, auch biologisch, d. h. hirnphysiologisch begründet sein können. Leider kann man selbst mit den heutigen therapeutischen Möglichkeiten noch nicht überall soviel erreichen, dass die Betroffenen ein Leben führen dürfen wie andere, gesunde Mitmenschen auch. Aber man kann ihnen so manches erleichtern, wenn das Umfeld rechtzeitig informiert, aufgeklärt und willens ist, so etwas mit zutragen, wenigstens in bestimmten Grenzen. Dabei ist es erstaunlich, wie hilfsbereit die meisten sind, wenn ihnen nur in allgemein verständlicher Weise dargelegt wird, um was es sich hier handelt und wie man dem am zweckmäßigsten begegnet. Nachfolgend deshalb eine Kurzfassung über dieses Leiden, ergänzt durch ein etwas ausführlicheres Kapitel in der Internet-Sparte Psychiatrie heute. Was ist das Tourette-Syndrom? Das Tourette-Syndrom (TS), auch Gilles de la Tourette-Syndrom genannt, ist eine neuropsychiatrische Erkrankung mit tic-artigen Muskelzuckungen und ungewöhnlichen Lautäußerungen. Erstmals beschrieben wurde dieses Aufsehen erregende und nicht nur das Leben der Patienten, sondern auch seine Angehörigen schwer belastende Leiden vor 175 Jahren von dem französischen Nervenarzt Arzt Dr. Georges Gilles de la Tourette. Obgleich davon nicht wenige - übrigens auch durchaus erfolgreiche - Schriftsteller, Musiker, Ärzte, Sportler usw. zumindest leicht betroffen sein sollen, ist diese Krankheit von ihrem Beschwerdebild her zwar spektakulär, aber weitgehend unbekannt. Und dies obwohl weltweit Hunderttausende und in Deutschland etwa 40.000 Patienten damit leben müssen. Zwar gibt es bis heute dagegen keine gezielte Behandlung, dafür eine Reihe von erleichternden Maßnahmen (siehe später). Vor allem gilt es durch das Wissen um diese Krankheit seine Opfer nicht noch mehr zu stigmatisieren oder gar auszugrenzen als dies ohnehin schon der Fall ist (auch wenn man zugeben muss, dass hier der näheren und vor allem überraschten weiteren Umgebung auch schon mal einiges zugemutet wird). Wie äußert sich nun das Tourette-Syndrom? Vom Augenblinzeln bis zum Zungeschnalzen, vom Grunzen bis zu obszönen Sätzen Bei den Tics handelt es sich um rasche, unwillkürliche und meist unkorrigierbar einschießende Muskelzuckungen und Laut-Äußerungen in wechselnder Häufigkeit, Art und Lokalisation. Beispiele: Augenblinzeln, Kopf- und Schulterrucken, Grimassieren und in stimmlicher Hinsicht Räuspern, Fiepen, Quieken, Grunzen, Schnüffeln, Zungeschnalzen u. a. Neben diesen einfachen, gibt es aber auch so genannte komplexe Tics. Dazu gehören im reinen Bewegungsbereich Springen, Berühren anderer Leute oder Dinge, ferner Riechen, Verdrehen des Körpers, manchmal sogar selbstverletzendes Verhalten, z. B. sich schlagen, kneifen, Kopf anschlagen u. a. Was aber am meisten irritiert, sind die vokalen komplexen Tics, also das Herausschleudern von Worten in kurzen Sätzen, die nicht im logischen Zusammenhang mit dem Gesprächsthema stehen. Oder das Ausstoßen sinnloser, schmutziger, unflätiger, obszöner oder gotteslästerlicher Worte (Fachbegriff: Koprolalie). Weniger schockierend, aber gewöhnungsbedürftig ist die Wiederholung von Lauten bzw. Wortfetzen, die gerade gehört wurden (Echolalie) bzw. von gerade selbst gesprochenen Worten (Palilalie). Das Beschwerdebild kann zu- oder abnehmen, manchmal für Wochen oder Monate verschwinden, wieder unvermutet auftreten, vor allem aber durch gemütsmäßige Anspannung, Freude, Ärger, Stress usw. verstärkt werden. Die Folgen Die Folgen eines so ungewöhnlichen Verhaltens sind nachvollziehbar: Erstaunen, Verwunderung, Ärger, Empörung und damit Isolation oder aggressive Reaktionen. Kein Mensch versteht ein solches "Fehlverhalten", und vor allem: niemand kann glauben, dass besonders die "widerlichen" Lautäußerungen unwillkürlich und vor allem durch nichts zu beeinflussen seien sollen. Erschwert wird diese Einstellung noch durch die Erfahrung, dass die meisten Betroffenen tatsächlich eine gewisse Eigenkontrolle über ihre Symptome haben, d. h. der Patient kann Sekunden, Minuten, ja Stunden unauffällig bleiben, "wenn er sich nur anstrengt". In Wirklichkeit baut sich aber durch dieses willentliche Beherrschen ein "Tic-Druck" auf, der - wie der Drang zum Niesen oder zu einem Schluckauf - schließlich zu einer um so schwereren "Tic-Entladung" zu führen pflegt. Auf den Alltag übertragen heißt dies: in der Schule oder bei der Arbeit passiert fast nichts, zu Hause umso mehr. Doch in stressreichen Situationen hilft auch das nichts. Weitere Krankheitszeichen: Zwänge, Überaktivität, Aufmerksamkeits- und Lernstörungen Neben diesen ohnehin stigmatisierenden Muskelzuckungen und Lautäußerungen haben manche Tourette-Patienten zusätzliche Symptome, vor allem im Sinne einer Zwangsstörung und/oder eines Aufmerksamkeitsdefizit- bzw. Hyperaktivitäts-Syndroms - AD(H)S. Im Einzelnen siehe die entsprechenden Kapitel. Mit was ist nun zusätzlich zu rechnen? - Zwanghafte Verhaltensweisen: immer wieder berühren, symmetrisch arrangieren, ständig prüfen (Tür geschlossen, Herd ausgeschaltet), manches immer und immer wiederholen, bis es "richtig" getan ist, selbst Sätze, die "richtig klingen" müssen usw. - Motorische (Bewegungs-)Überaktivität: unruhig, zappelig, getrieben, ungeschickt, vermehrter Rededrang, drängt sich in alles hinein, kann nicht abwarten usw. Dies betrifft sowohl Kinder als auch Erwachsene (die ja ebenfalls ein fortdauerndes hyperaktives Syndrom aufweisen können - Einzelheiten siehe die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung - AD(H)S. - Störungen der Aufmerksamkeit: leicht ablenkbar, kann sich schlecht konzentrieren, vergisst schnell, macht Flüchtigkeitsfehler, keine Ausdauer u. a. (Beschwerdebild, das am ehesten bis ins Erwachsenenalter bestehen bleibt). - Lernstörungen: Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben, Rechnen, insbesondere Flüchtigkeitsfehler, unvollständige Sätze, schlechtes Schriftbild u. a. - Störungen der Impulskontrolle: kann nur schwer warten, unterbricht und stört andere, drängt sich in Gespräche oder Spiele anderer hinein, unvorhersehbares, ja unberechenbares Verhalten, damit auch verstärkte Unfall- und Verletzungsgefahr usw. - Varia: rasch verunsichert, ängstlich, mutlos, depressiv, Rückzugsneigung, Isolationsgefahr, suizidal (lebensmüde). Aber auch Einschlafstörungen, häufiges nächtliches Erwachen, ggf. Sprechen im Schlaf, Schlafwandeln usw. Wenn trifft ein Tourette-Syndrom? Das männliche Geschlecht ist drei- bis viermal öfter betroffen. Der Beginn liegt meist im Jugend- oder Kindesalter, auf jeden Fall unter dem 21. Lebensjahr. Von der Häufigkeit her sind es - wie erwähnt - weltweit Hunderttausende und in Deutschland etwa 40.000 Patienten, die mit einem solchen Leidensbild leben lernen müssen. Was weiß man über die Ursachen? Die Ursache(n), ist/sind (noch) unbekannt. Früher überwogen mehr psychologische (vor allem psychoanalytische, tiefenpsychologische) Theorien, heute eher biologische Überlegungen. Dazu zählen vor allem Störungen im Neurotransmitter-Stoffwechsel des Gehirns, also bestimmter Botenstoffe wie Serotonin und vor allem Dopamin. Eine erbliche Belastung (genetische Prädisposition) ist wahrscheinlich. Allerdings gibt es offenbar auch nicht-erbliche (sporadische) Formen. Außerdem heißt Vererbung nicht automatisch Erkrankung, vor allem nicht schwere oder gar unbehandelbare Krankheit. Es gibt ein breites Spektrum von leichten Tic- oder Zwangs-Beeinträchtigungen bis zu den schwersten psychosozialen Auffälligkeiten (was höchstens jeden 10. Betroffenen treffen soll). Wie verläuft ein Tourette-Syndrom? Der Beginn liegt also meist im Kindes- oder Jugendalter. Am häufigsten findet sich zuerst ein Gesichts-Tic: z. B. Blinzeln, Zusammenkneifen der Augen, Verziehen des Mundwinkels, plötzliches Mundöffnen, Naserümpfen, ggf. einschießende Muskelzuckungen in den Armen (plötzliches symmetrisches Armbeugen) usw. Manchmal auch schon unwillkürliche Lautäußerungen wie Räuspern, Schnüffeln u. a. In seltenen Fällen treten Muskelzuckungen und Lautäußerungen früh und gemeinsam auf. Bei einigen Betroffenen verliert sich das Krankheitsbild im Jugend- oder spätestens Erwachsenenalter. Den meisten geht es im Verlaufe ihres Lebens eher besser als schlechter. Es ist sogar eine vollständige und endgültige Genesung möglich. Die Lebenserwartung ist auf jeden Fall nicht beeinträchtigt (die von Doktor G. Gilles de la Tourette als erste beschriebene Patientin wurde 86!). Was kann man tun? Bisher ist keine gezielte Behandlung bekannt (bei den leichteren Fällen, die weitaus am häufigsten sind, auch nicht nötig). Werden die Tics aber lästig bis folgenschwer, dann versucht man es mit bestimmten Medikamenten (Substanznamen, nicht Handelsnamen sind beispielsweise Tiaprid, Pimozid, Haloperidol, Clonidin u. a.). Handelt es sich überwiegend um ein hyperaktives Syndrom (s. o.), dann empfiehlt sich der Versuch mit Methylphenidat oder anderen Psychostimulanzien (die aber auch Tics verstärken können). Dominieren Zwangsstörungen, empfehlen sich Antidepressiva, z. B. vom Typ der Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmmer (SSRI). Die End-Dosis hängt meist von den jeweils vertragenen Nebenwirkungen ab (denn es gilt den alten Erfahrungssatz zu respektieren: "keine Wirkung ohne Nebenwirkungen…"). Bei den nicht-medikamentösen Behandlungsverfahren helfen besonders Entspannungstherapie, Biofeedback-Techniken sowie verhaltenstherapeutische Maßnahmen weiter. Dabei geht es vor allem darum, Stress-Reaktionen zu reduzieren, weil sie die Tics auslösen oder verstärken können. Auch kann versucht werden, durch Selbstkontrolle besonders unangenehme Tics und Lautäußerungen durch weniger belastende zu ersetzen, um den Tic-Druck zu reduzieren und die Tic-Entladung sozial einigermaßen akzeptabel zu kanalisieren. Schließlich können auch psychotherapeutische Maßnahmen für Patient und Angehörige diskutiert werden, meist in stützender Form. Wichtig ist eine konsequente Aufklärung von Bekannten, Nachbarn, Lehrern, Schulkameraden u. a. Sie helfen den sonst drohenden psychosozialen Teufelskreis zu verhindern. Beispiel: den Klassenraum sofort verlassen zu dürfen, wenn sich die Tics unüberwindbar angestaut haben und in störender Weise zu entladen drohen; Prüfungen (emotionaler Stress!) in separaten Räumen; und vor allem spezielle Unterstützung bei Lernschwierigkeiten. Die geistige Leistungsfähigkeit ist zwar nicht beeinträchtigt, doch behindern Lernschwierigkeiten und konkrete Beeinträchtigungen (s. o.) im Einzelfall so stark, dass letztlich mit schulischen und beruflichen Einbußen zu rechnen ist. Am schwerwiegendsten aber sind - zumindest bei ausgeprägteren Fällen - die zwischenmenschlichen Folgen: lächerlich, bizarr, störend, angstauslösend, abstoßend, dadurch Stigmatisierung, Ausgrenzung, Diskriminierung, Rückzug und Isolationsgefahr. Zu Hause erhebliche Belastungen von Eltern und Geschwistern. Auch versuchen manche Kinder bisweilen ihr Beschwerdebild auszunutzen, um bestimmte Vorteile zu erreichen, was bis zur Erpressung gehen kann. Deshalb das Tourette-Syndrom so früh wie möglich erkennen und mit Hilfe von Kinder- und Jugendpsychiatern, Kinderärzten und Nervenärzten zu behandeln versuchen. Hilfe in Form von weiteren Informationen, Broschüren und Adressen bieten dabei die Internet-Seiten www.tourette.de und www.tourette-gesellschaft.de. Weitere Informationen siehe das entsprechende Kapitel in der Internet-Serie Psychiatrie heute http://www.volker-faust.de/psychiatrie |
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